Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 06.04.1992) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 6. April 1992 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob bei Zustellung mit eingeschriebenem Brief die Rechtsmittelbelehrung auf Besonderheiten des Fristbeginns hinweisen muß.
Der Widerspruchsbescheid wurde vom Beklagten am 18. Juli 1990 als eingeschriebener Brief zur Post gegeben. Er ist dem Kläger am 21. Juli 1990 ausgehändigt worden. Die Rechtsmittelbelehrung weist lediglich darauf hin, daß „binnen eines Monats nach Zustellung Klage” erhoben werden könne; über den Zeitpunkt der Zustellung eines eingeschriebenen Briefes belehrt sie nicht.
Das Sozialgericht (SG) hat die am 24. August 1990 erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 25. Februar 1991); sie sei unzulässig, weil die Klagefrist am 21. August 1990 abgelaufen und dem Kläger Wiedereinsetzung in die versäumte Frist nicht zu gewähren sei. Das Landessozialgericht (LSG) hat diese Entscheidung aufgehoben und die Sache an das SG zurückverwiesen (Urteil vom 6. April 1992). Zu Unrecht habe das SG angenommen, die Klagefrist sei bereits nach einem Monat seit Zustellung des Widerspruchsbescheides abgelaufen. Die Frist habe nach § 66 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Jahr betragen, weil die Rechtsmittelbelehrung des Widerspruchsbescheides unrichtig gewesen sei. Innerhalb dieser Frist sei die Klage am 24. August 1990 rechtzeitig erhoben worden. Fehlerhaft sei die Rechtsmittelbelehrung gewesen, weil sie den Kläger nicht über die Besonderheiten des Fristbeginns nach § 4 Abs 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) unterrichtet habe, so daß er die Klagefrist nicht habe berechnen können. Der entgegenstehenden Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 9. Dezember 1969 (NJW 1970, 583 = SozR SGG § 66 Nr 32) werde nicht gefolgt.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Beklagte, das LSG habe §§ 87 Abs 1, 66 Abs 1 SGG nicht richtig angewendet. Diese Vorschriften forderten nicht, den Widersprechenden über den Zeitpunkt der Zustellung eines Widerspruchsbescheides zu belehren. Das gelte auch bei Zustellung des Widerspruchsbescheides durch eingeschriebenen Brief. Für die Klageerhebung gelte die vom Kläger versäumte Monatsfrist des § 87 Abs 1 SGG, nicht die Jahresfrist nach § 66 Abs 2 SGG.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 6. April 1992 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 25. Februar 1991 als unzulässig zu verwerfen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist iS der Zurückverweisung an das LSG begründet.
Die Rechtsmittelbelehrung des Widerspruchsbescheides war – anders als vom LSG angenommen – vollständig und damit richtig, so daß die einmonatige Klagefrist nach § 87 Abs 1 SGG in Lauf gesetzt wurde. Diese Frist hat der Kläger versäumt. Das LSG wird zu entscheiden haben, ob ihm Wiedereinsetzung zu gewähren ist.
Zu der Frage, welchen Inhalt die Rechtsmittelbelehrung eines Widerspruchsbescheides haben muß, der durch eingeschriebenen Brief nach § 4 VwZG zugestellt wird, hat das BSG verschiedentlich Stellung genommen (Beschluß vom 29. April 1968 – 2 RU 100/68 – BKK 1969, 221 und Urteil vom 9. Dezember 1969 – 9 RV 358/69 – SozR SGG § 66 Nr 32 = NJW 1970, 583). Danach fordert § 66 Abs 1 SGG, außer über den Rechtsbehelf, das Gericht und dessen Sitz auch über die einzuhaltende Frist zu belehren. Die Frist ist hinreichend bezeichnet, wenn – wie im vorliegenden Fall – die Worte des § 87 Abs 1 SGG „binnen eines Monats nach Zustellung”) verwendet werden. Über Vorschriften zum Zeitpunkt der Zustellung braucht nicht belehrt zu werden. Das Gesetz überläßt es dem Empfänger, diesen Zeitpunkt selbst festzustellen. Irrtümer und Unaufmerksamkeiten gehen zu seinen Lasten, sofern ihm nicht Wiedereinsetzung gewährt werden kann.
An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Sie gewährleistet einerseits, daß auch der Rechtsunkundige vor Rechtsnachteilen durch Unwissenheit geschützt wird (BSGE 41, 140, 144), indem die Rechtsmittelbelehrung ihn über den wesentlichen Inhalt der zu beachtenden Vorschriften unterrichtet (BSGE 1, 194, 195) und es ihm so möglich macht, ohne Gesetzeslektüre die ersten Schritte zur Durchführung des Rechtsmittels einzuleiten (BSG SozR SGG § 66 Nr 23). Sie verhindert andererseits gerade im Interesse des rechtsungewandten Beteiligten, daß die Rechtsmittelbelehrung durch weitere Informationen inhaltlich überfrachtet wird und statt Klarheit zu schaffen, wegen ihres Umfanges und ihrer Kompliziertheit Verwirrung stiftet.
Das aber wäre die Folge, würden mit dem LSG und einem Teil der Literatur (Bley, Gesamtkommentar, Stand: Oktober 1989, § 66 SGG, Anm 5e; Peters/Sautter/ Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 66 SGG, Anm 5e) außer der Angabe „nach Zustellung” weitere Informationen über den Zeitpunkt des Fristbeginns bei Zustellung durch eingeschriebenen Brief in die Rechtsmittelbelehrung aufgenommen. Schon die Vorschrift des § 4 Abs 1 VwZG ist für Rechtsunkundige nur schwer verständlich, weil sie eine unwiderlegbare Vermutung enthält, die dann nicht Platz greift, wenn das zuzustellende Schriftstück überhaupt nicht oder erst später als am dritten Tage nach Aufgabe zur Post zugegangenen ist. Zur Belehrung über den Fristbeginn gehörte weiter der Hinweis, daß die dreitägige Vorfrist nach § 4 Abs 1 VwZG auch an einem Sonntag, staatlich anerkannten Feiertag und an einem Sonnabend ablaufen kann, weil weder § 193 des Bürgerlichen Gesetzbuches noch § 64 Abs 3 SGG dies ausschließen (BSGE 5, 53, 54 f).
Von der Entscheidung des 1. Senats des BSG vom 24. Mai 1966 – 1 RA 3/64 -(BSGE 25, 31 = SozR SGG § 66 Nr 31) weicht der Senat nicht ab. Schon in dem Urteil vom 9. Dezember 1969 (aaO) ist ausgeführt, daß der 1. Senat eine Unrichtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung nicht in dem fehlenden Hinweis auf die Besonderheiten in § 4 Abs 1 VwZG, sondern darin erblickt hat, daß es in der Belehrung hieß, die Klage könne innerhalb eines Monats „nach Empfang” des Bescheides – anstatt „nach Zustellung” – erhoben werden.
Auch eine Vorlage an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes ist nicht erforderlich. Zwar vertreten das Bundesverwaltungsgericht in einer älteren Entscheidung (NJW 1960, 1074; vgl dagegen aus neuerer Zeit: NVwZ 1989, 648, 650 und NJW 1991, 508, 509) und der Bundesfinanzhof in ständiger Rechtsprechung (BFHE 78, 528, 529; 85, 337, 338; 107, 409, 411) die Auffassung, in Fällen der §§ 4, 17 VwZG seien die Beteiligten auch über die Wirkungsweise der der Rechtsbehelfsfrist vorgeschalteten 3-Tage-Frist zu belehren. Von dieser Rechtsprechung weicht der Senat aber nicht ab, weil es sich dort ausnahmslos um Fälle gehandelt hat, in denen die Rechtsmittelbelehrung auf den ersten Teil des § 4 Abs 1 VwZG hingewiesen hatte, ohne den weiteren Zusatz zu enthalten, daß ein Schreiben nach § 4 Abs 1 2. Halbsatz VwZG bei Zugang nach Ablauf der 3-Tage-Frist erst zu diesem späteren Zeitpunkt zugestellt ist. In den entschiedenen Fällen war die Rechtsmittelbelehrung also mit nicht erforderlichen Zusätzen versehen, die ihrerseits nicht vollständig und deshalb unrichtig waren (vgl zum Erfordernis vollständige Aufzählung anderer Stellen, bei denen die Klage eingereicht werden kann: BSGE 51, 202, 204 f = SozR 1500 § 66 Nr 11). Für die genannten Entscheidungen kam es also – anders als hier – nicht auf die Frage an, ob überhaupt auf die Besonderheiten des § 4 VwZG hinzuweisen ist. Unabhängig von dieser Frage waren die Rechtsmittelbelehrungen fehlerhaft mit den § 66 Abs 2 SGG entsprechenden Folgen.
Der Senat muß sich darauf beschränken, das Urteil des LSG aufzuheben. Über die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil kann er nicht entscheiden, weil zunächst das LSG darüber wird befinden müssen, ob das SG es zu Recht abgelehnt hat, den Kläger in die versäumte Klagefrist wiedereinzusetzen. Dazu ist der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. Das Gebot einer Zurückverweisung an die Vorinstanz bei übergangenem Wiedereinsetzungsgesuch ergibt sich aus § 67 Abs 4 Satz 2 SGG, wonach der Beschluß, der die Wiedereinsetzung bewilligt, unanfechtbar ist. Der Beteiligte hat nach der Zurückverweisung die Chance, in der Vorinstanz eine endgültige Wiedereinsetzung zu erhalten, weil das Rechtsmittelgericht an die Gewährung der Wiedereinsetzung gebunden ist (vgl dazu BGH NJW 1982, 1873, 1874; BVerwG NVwZ 1985, 484, 485; BFHE 137, 399, 403 f; BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 8). Unter dem Gesichtspunkt der Prozeßökonomie gilt das Gebot der Zurückverweisung allerdings nicht, wenn aus Rechtsgründen die Möglichkeit einer positiven Entscheidung für das Wiedereinsetzungsgesuch von vornherein ausscheidet (vgl BGH und BVerwG jeweils aaO), oder wenn das Rechtsmittelgericht positiv entscheidet (vgl BSG und BFH jeweils aaO). Beide Ausnahmefälle liegen hier nicht vor. Der Wiedereinsetzungsantrag bzw das gegen seine Ablehnung eingelegte Rechtsmittel sind weder unstatthaft noch unzulässig und eine positive Entscheidung lassen die tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht zu.
Bei seiner erneuten Entscheidung wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1174701 |
Breith. 1994, 68 |