Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenstreitsache. Berufungsausschluß

 

Leitsatz (amtlich)

Durch SchwbG § 3 Abs 6 S 3 idF vom 1974-04-29 (BGBl I 1974, 1005) wird SGG § 150 Nr 3 letzte Alternative nicht ausgeschlossen.

 

Normenkette

SchwbG § 3 Abs 6 S 3 Fassung: 1974-04-29; SGG § 150 Nr 3 Alt 5 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 26.09.1978; Aktenzeichen L 4 Vs 7/77)

SG Speyer (Entscheidung vom 18.10.1977; Aktenzeichen S 9 Vs 23/77)

 

Tatbestand

I

Der Kläger erstrebt, als weitere Behinderung "hypotone Kreislaufstörungen" anzuerkennen und die Gesamt-Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 80 vH festzustellen.

Mit Bescheid vom 20. Dezember 1976 stellte das Versorgungsamt (VersorgA) Landau folgende Behinderungen des Klägers fest:

1. Verlust des rechten Unterschenkels mit Muskelminderung am rechten Oberschenkel und Kalksalzminderung am rechten Kniegelenk und Unterschenkelstumpf;

2. Granatsplitter im linken Ellenbogen und Granatsplitternarben im rechten Oberarm mit leichter Herabsetzung der groben Kraft der Arme, Granatsplitternarben am rechten Unterschenkel;

3. beginnende arthrotische Veränderungen im linken Fuß, in beiden Knien und im rechten Hüftgelenk.

Die MdE des Klägers wurde mit 60 vH bewertet. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Bescheid vom 23. März 1977, Landesversorgungsamt -LVersorgA- Rheinland-Pfalz).

Mit der Klage machte der Kläger als weitere Gesundheitsstörung eine hypotone Kreislaufsymptomatik geltend. Im gerichtlichen Teilvergleich vom 18. Oktober 1977 wurde die Bezeichnung der Behinderungen zu Ziffer 3 neu festgestellt und um Ziffer 4 und 5 wie folgt erweitert:

3. Beginnende arthrotische Veränderungen im linken Fuß, in beiden Knien und beiden Hüftgelenken;

4. coronare Durchblutungsstörungen mit Belastungsstenocardien;

5. degenerative Wirbelsäulenveränderungen.

Die Gesamt-MdE wurde mit 70 vH angenommen.

Der Kläger führt die Klage mit dem Antrag, als weitere Behinderung "hypotone Kreislaufstörungen" anzuerkennen und die Gesamt-MdE mit 80 vH festzusetzen, fort.

Durch Urteil vom 18. Oktober 1977 hat das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen, weil eine hypotone Kreislaufsymptomatik nicht nachgewiesen und die Höhe der MdE nicht zu beanstanden sei. Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) als unzulässig verworfen, weil sie nach § 3 Abs 6 Satz 3 des Gesetzes zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz -SchwbG-) vom 29. April 1974 (BGBl I 1006) idF des Art 2 Nr 1 Buchst d des 8. Anpassungsgesetzes der Kriegsopferversorgung (AnpG-KOV) vom 14. Juni 1976 (BGBl I S 1481) nicht statthaft sei und in dieser Regelung auch inzidenter § 150 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) für nicht anwendbar erklärt worden sei.

Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung der §§ 150 Nr 3, 158 SGG und § 3 Abs 6 Satz 3 SchwbG. Er meint, das Berufungsgericht hätte anstelle des Prozeßurteils eine Sachentscheidung erlassen müssen. Durch die Formulierung des Gesetzes in § 3 Abs 6 Satz 3 SchwbG ergebe sich, daß nur eine solche Berufung unzulässig sei, die lediglich den Grad der MdE betreffe und jedenfalls eine Anwendung des § 150 Nr 3 SGG nicht ausgeschlossen werde.

Der Kläger beantragt,

die angefochtenen Urteile aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung der Bescheide vom 20. Dezember 1976 und 23. März 1977 sowie des Teilvergleiches vom 18. Oktober 1977 zu verurteilen, dem Kläger als weitere Behinderung "hypotone Kreislaufstörungen" anzuerkennen und die Gesamt-MdE mit 80 vH festzusetzen;

hilfsweise,

das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers führt zur Aufhebung des Urteils des LSG. Zu Unrecht hat das LSG die Berufung als unzulässig verworfen; die Berufung des Klägers war zulässig; das LSG hätte deshalb in der Sache entscheiden müssen. Die Sache ist daher an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

§ 3 Abs 6 Satz 1 des SchwbG eröffnet für Streitigkeiten über die Feststellungen des Vorliegens einer Behinderung und den Grad einer auf ihr beruhenden MdE den Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit. Mit dieser Rechtswegeröffnung unterstehen die genannten Streitigkeiten den Vorschriften des SGG. Soweit dieses Gesetz besondere Vorschriften für die KOV enthält, gelten diese auch für die angegebenen Streitigkeiten (§ 3 Abs 6 Satz 2 SchwbG). Darüber hinaus wird bestimmt, daß die Berufung gegen die Urteile der Sozialgerichte, die den Grad der MdE betreffen, nur zulässig ist, soweit davon die Schwerbehinderteneigenschaft oder die Voraussetzung zur Gleichstellung mit Schwerbehinderten abhängt (§ 3 Abs 6 Satz 3 SchwbG). Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung entnimmt das LSG, daß gegen Urteile der Sozialgerichte, die den Grad der MdE betreffen, die Berufung grundsätzlich nicht statthaft sei; insbesondere ergebe sich dies aus der Wortfassung "nur zulässig". Dem ist nicht zuzustimmen.

Das angefochtene Urteil geht zu Recht davon aus, daß es sich bei dem Begehren des Klägers um einen einheitlichen prozessualen Anspruch handelt; das Begehren des Klägers ist nicht aufzuspalten in einen Antrag auf Feststellung einer weiteren Behinderung und einen anderen Antrag auf Feststellung der darauf beruhenden MdE. Dazu kann es für den vorliegenden Rechtsstreit dahingestellt bleiben, ob losgelöst von der MdE ein besonderer prozessualer Anspruch auf Feststellung einer Behinderung anzuerkennen ist, wie das in der KOV für die Schädigungsfolgen in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) allgemein geschehen ist (BSGE 11, 26, 27; BSG SozR Nr 81 und 84 zu § 1 Bundesversorgungsgesetz -BVG-). Der hier einheitlich aufzufassende Streitgegenstand umfaßt mehrere Streitteile, nämlich einmal die Anerkennung der hypotonen Kreislaufstörung und zum anderen die Höherbewertung der MdE deswegen (vgl BSG SozR 1500 § 150 Nr 5 und ferner BSG Urteile vom 16.3.1972 - 10 RV 255/71 = KOV 1974 S 47 Nr 2168; 12.10.1972 - 10 RV 699/71 = VdK-Mitt 1972 S 553; 27.9.1973 - 10/8 RV 653/72 = KOV 1974 S 127 Nr 2194).

Die vom LSG vertretene Meinung zum Berufungsausschluß durch § 3 Abs 6 Satz 3 SchwbG wird in dem Kommentar zum SGG von Zeihe, § 148 RdZiff 8, damit begründet, daß in dieser Vorschrift nicht nur ein Berufungsausschluß geregelt werde, sondern auch der Umfang der Statthaftigkeit der Berufung. Diese Auslegung haftet zu sehr am Wortlaut und beachtet nicht ausreichend den Zusammenhang dieser Regelung mit den Vorschriften des SGG und insbesondere denen dieses Gesetzes über die Berufung. Daran hat sich auch das LSG gehalten. Was es hingegen aus den Worten "nur zulässig" entnommen hat, ist widersprüchlich. Es hat die Berufung grundsätzlich für nicht statthaft angesehen; etwas anderes hat es ausnahmsweise gelten lassen wollen, nämlich nur, wenn in § 3 Abs 6 Satz 3 SchwbG ausdrücklich das Gegenteil angeordnet sei, soweit also von der Entscheidung die Schwerbehinderteneigenschaft oder die Voraussetzung zur Gleichstellung mit Schwerbehinderten abhänge. Mit dieser Auslegung ist indessen unvereinbar, daß das LSG die Voraussetzungen des § 150 Nr 1 und 2 SGG geprüft hat. Das hätte es von seinem Standpunkt aus nicht unternehmen dürfen. Wäre in einem Gradstreit die Berufung tatsächlich nur dann statthaft, wenn über die Schwerbehinderteneigenschaft oder die Gleichstellung mit Schwerbehinderten zu befinden wäre, dann könnte sie auch nicht zugelassen werden oder wegen wesentlicher Mängel des Verfahrens zulässig sein. Zu Recht hat jedoch das LSG § 150 SGG beachtet. In § 150 SGG werden die Ausnahmen von der Ausnahme geregelt. Sind sie gegeben, dann gilt trotz anderer Berufungsausschließungsgründe der allgemeine Grundsatz des § 143 SGG, daß gegen die Urteile der Sozialgerichte die Berufung stattfindet.

Aus dem Zusammenhang der Verfahrensregeln, wie sie in § 3 Abs 6 SchwbG in Bezug genommen oder modifiziert worden sind, ergibt sich, daß § 150 SGG nicht ausgeschaltet sein soll. Mit der Eröffnung des Rechtsweges zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit durch Satz 1 in § 3 Abs 6 SchwbG sind die Vorschriften, nach denen das Verfahren dieser Gerichte geregelt ist, anzuwenden: Satz 2 aaO regelt insbesondere die Geltung der speziellen Vorschriften über die KOV. Eine besondere Vorschrift im SGG über die KOV sagt in § 148 Nr 3, daß in Angelegenheiten der KOV die Berufung nicht zulässig ist, soweit sie den Grad der MdE betrifft, es sei denn, daß die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Gewährung der Grundrente davon abhängt. Eben dieser Berufungsausschließungsgrund wird dann in Satz 3 des § 3 Abs 6 SchwbG für die Besonderheiten des SchwbG abgewandelt. Dabei kann davon ausgegangen werden, daß auch ohne diese Vorschrift bei entsprechender Anwendung des § 148 Nr 3 SGG der Berufungsausschluß bei einem Gradstreit nicht angenommen worden wäre, wenn davon die Schwerbehinderteneigenschaft abhängig gewesen wäre. Jedoch war die Eröffnung der Berufung bei Abhängigkeit der Gleichstellung mit Schwerbehinderten speziell zu normieren, weil Entsprechendes in § 148 Nr 3 SGG nicht erwähnt wird. Freilich ist die Formulierung des Satzes 3 in § 3 Abs 6 SchwbG grammatikalisch anders als die des § 148 Nr 3 SGG. Während hier die Verneinung der Berufungsausschließung als Ausnahme angeführt wird ("es sei denn"), beschreibt das SchwbG die Zulässigkeit der Berufung beim Gradstreit unter bestimmten Voraussetzungen. Hierin kann jedoch nicht die Absicht erkannt werden, daß eine völlig neue, vom SGG losgelöste Regelung über Statthaftigkeit und Zulässigkeit der Berufung in Schwerbehindertensachen eingeführt werden sollte. Auch der Vordersatz hierzu ist in beiden Vorschriften unterschiedlich formuliert, nämlich in § 148 SGG "In Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung ist die Berufung nicht zulässig, soweit sie betrifft ..." im Gegensatz zu § 3 Abs 6 Satz 3 SchwbG "die Berufung gegen die Urteile der Sozialgerichte, die den Grad der MdE betreffen...". Mit dieser Formulierung sollte sicherlich nicht auf die Fassung des § 148 Nr 3 SGG vor dem 2. Änderungsgesetz zum SGG vom 25. Juni 1958 zurückgegriffen werden (vgl dazu BSG SozR Nr 3 zu § 143 SGG). Bei systematischer Einordnung der Vorschrift des § 3 Abs 6 Satz 3 SchwbG ist deshalb davon auszugehen, daß diese Vorschrift lediglich die Stelle des § 148 Nr 3 SGG einnimmt.

Die von dem LSG noch angeführte Argumentation aus § 3 Abs 6 Satz 4 SchwbG hat an Bedeutung verloren. Die frühere Fassung dieses Satzes, nach der eine Berufung gegen die Urteile der Sozialgerichte, die Feststellungen nach Abs 4 betreffen, nicht stattfand, ist durch das Gesetz über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr vom 9. Juli 1979 (BGBl I S 989) geändert worden. Nunmehr heißt es, daß die Berufung nicht zulässig sei; § 150 SGG gelte entsprechend.

Auf den vorliegenden Sachverhalt ist die letzte Alternative von § 150 Nr 3 SGG anzuwenden, nach der die Berufung zulässig ist, wenn das SG eine Gesundheitsstörung nicht als feststellbar erachtet hat. Bei dem Kläger ist bereits eine MdE von 70 vH anerkannt; er erstrebt eine solche von 80 vH; dies jedoch nicht nur mit der Behauptung, daß zu den bereits festgestellten Behinderungen die MdE unrichtig ermittelt sei, sondern zusätzlich mit der, durch eine weitere Behinderung würde die Gesamt-MdE, selbst ausgehend von der Feststellung, nach den bisherigen Behinderungen sei 70 vH maßgebend, auf 80 vH zu erhöhen wäre. Dieser Teil des Streitgegenstandes, von dem das SG angenommen hat, die hypotone Kreislaufstörung sei nicht feststellbar, eröffnet die Berufung für den ganzen prozessualen Anspruch.

Nun besagt zwar § 150 SGG, daß die Berufung ungeachtet der §§ 144 bis 149 SGG zulässig sei, wenn das SG eine Gesundheitsstörung nicht als feststellbar erachtet hat; hier kommt aber ein Berufungsausschließungsgrund nach § 3 Abs 6 Satz 3 SchwbG in Betracht. Diese Vorschrift ist jedoch als eine Modifizierung von § 148 Nr 3 SGG als von der Eingangsformel des § 150 SGG mitumfaßt anzusehen.

Die letzte Alternative in § 150 Nr 3 SGG ist hier nicht etwa deshalb unanwendbar, weil es möglicherweise keinen selbständigen Streitgegenstand bezüglich der Behinderungen nach dem SchwbG gibt und diese deshalb immer nur Teil von Gradstreitigkeiten sein würden. In KOV-Sachen ist die Berufung nicht nach § 148 Nr 3 SGG ausgeschaltet, wenn von mehreren durch das Berufungsgericht zu erörternden Streitteilen wenigstens einer rechtsmitteltauglich ist (BSG SozR 1500 § 150 Nr 5 mwN). Zwar ist in diesen Fällen auch eine gesonderte Feststellung der Schädigungsfolgen möglich; darauf beruht aber nicht die Anwendbarkeit von § 150 Nr 3 SGG; das ergibt sich aus der 1. Alternative, wonach der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des BVG den Berufungsausschluß nach § 148 Nr 3 SGG ebenfalls eliminiert, obwohl der ursächliche Zusammenhang allein nicht Streitgegenstand sein kann.

Das Ergebnis der hier vorgenommenen Auslegung wird ferner dadurch gerechtfertigt, daß § 150 SGG damit in Übereinstimmung sowohl mit § 3 Abs 6 Satz 4 SchwbG, als auch mit den Vorschriften anderer Gesetze, die das SGG und die besonderen darin enthaltenen Bestimmungen über die KOV für anwendbar erklären (zB § 88 Abs 5 Soldatenversorgungsgesetz -SVG-, § 7 Abs 1 Opferentschädigungsgesetz, § 61 Abs 2 Bundesseuchengesetz) anzuwenden ist.

Das LSG wird nunmehr den Rechtsstreit in der Sache zu entscheiden haben.

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Breith. 1981, 272

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