Orientierungssatz
Anwendung des SGG § 150 Nr 3 - letzte Alternative im Rahmen des SchwbG § 3 Abs 6 - Gradstreitigkeit im Schwerbehindertenrecht (SchwbG § 3 Abs 6)
Normenkette
SchwbG § 3 Abs 6 Fassung: 1974-07-29; SGG § 150 Nr 3 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Tatbestand
I
Der Kläger beantragte im November 1975 die Feststellung von Behinderungen und einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sowie die Ausstellung einer Schwerbehindertenbescheinigung. Das Versorgungsamt anerkannte "Magenresektion nach Billroth II, Gefügestörungen der Wirbelsäule, Kreislaufregulationsstörungen und Zuckerharnruhr" als Behinderungen iS des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) und stellte wegen einer MdE um 50 vH einen Schwerbehindertenausweis aus (Bescheid vom 20. Juli 1976). Der Widerspruch, mit dem der Kläger die Feststellung einer erheblichen Gehbehinderung begehrte, wurde zurückgewiesen (Bescheid vom 7. Juli 1977). Vor dem Sozialgericht (SG) beantragte der Kläger ein fachärztliches Gutachten über eine Behinderung beim Stehen, Heben und Bücken als Folge eines Bauchwandbruches mit einer zusätzlichen Teil-MdE um 15 vH und nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bezüglich erheblicher Wirbelsäulenschmerzen eine weitere Anhörung des Orthopäden Dr. H oder eine Begutachtung durch die O klinik M. Zur Sache begehrte er, eine MdE von mehr als 50 vH zugrunde zu legen und dabei zusätzlich Folgen einer Magenoperation und einer Bauchwandoperation zu berücksichtigen, außerdem eine erhebliche Gehbehinderung und Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr anzuerkennen. Das SG wies die Klage ab (Urteil vom 28. August 1978). Es fand die MdE mit 50 vH zutreffend bewertet und sah eine Gehbehinderung und Stehbehinderung sowie eine erhebliche Bewegungseinschränkung, die für steuerliche Vergünstigungen anerkannt werden sollten, nicht als erwiesen an. Ein weiteres Gutachten sei nicht erforderlich; Dr. H sei nicht zu hören (§ 109 Abs 2 SGG), Dr. S nach § 109 SGG nicht als sachverständiger Zeuge und die Klinik mangels Benennung eines bestimmten Arztes nicht. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung als unzulässig verworfen (Urteil vom 13. Februar 1979): Soweit der Kläger weitere gesundheitliche Merkmale nach § 3 Abs 4 SchwbG festgestellt haben wolle, sei die Berufung nach Abs 6 Satz 4 nicht statthaft. Da das SG-Urteil bezüglich dieses selbständigen Anspruches unanfechtbar sei, könne das Rechtsmittel nicht gemäß § 150 SGG zulässig sein. Das Begehren, eine höhere MdE als 50 vH festzusetzen, dürfe vom Berufungsgericht nach § 3 Abs 6 Satz 3 SchwbG nicht sachlich geprüft werden. Die Berufung sei auch nicht nach § 150 SGG, insbesondere Nr 3 zulässig. Der Kläger verlange zwar in diesem Zusammenhang auch die Anerkennung weiterer Behinderungen. Die Vorschrift der Nr 3 sei aber nicht in Schwerbehindertensachen anwendbar. Sie bilde gegenüber der allgemeinen Verweisung auf Bestimmungen der Kriegsopferversorgung (KOV) in Satz 2 die Sondervorschrift für Fälle dieser Art. Die Feststellung weiterer Behinderungen sei als Voraussetzung für den maßgebenden MdE-Grad weniger bedeutsam als die Feststellung weiterer behinderlicher Merkmale, die nicht berufungsfähig sei. Soweit der Kläger Gesundheitsstörungen wie Verengung und überdurchschnittliche Abnutzung des Wirbelsäulenkanals, die erst nach Erlaß des angefochtenen Urteils geltend gemacht worden seien, zusätzlich festgestellt haben wolle, könne dies für die Zulässigkeit der Berufung überhaupt nicht berücksichtigt werden. Das Rechtsmittel sei auch nicht nach der Vorschrift des § 150 Nr 2 SGG, die allerdings als das Verfahren betreffend in Schwerbehindertensachen dieser Art anwendbar sei, zulässig; denn das Urteil des SG beruhe, entgegen den Rügen des Klägers, nicht auf einem wesentlichen Verfahrensmangel. Das Vordergericht habe sich nicht gedrängt fühlen müssen, ein Gutachten über einen Bauchwandbruch einzuholen. Ob der Ergänzungsantrag nach § 109 SGG verspätet gestellt worden sei, bleibe fraglich. Dieser Beweisantrag solle aber dazu dienen, eine weitere Behinderung als Voraussetzung für eine besondere Vergünstigung nach § 3 Abs 4 SchwbG festzustellen, und insoweit sei die Berufung gänzlich ausgeschlossen. Bezüglich des Streites um einen höheren MdE-Grad könne kein wesentlicher Verfahrensmangel bestehen; denn auf einem solchen könne das Urteil des SG nicht beruhen. Eine antragsmäßige Aufklärung nach § 109 hätte jedenfalls die festzustellende Höhe der MdE nicht beeinflußt.
Der Kläger beanstandet mit der - vom LSG zugelassenen - Revision eine unrichtige Anwendung des § 3 Abs 6 SchwbG. Satz 3 beziehe sich auf reine Gradstreitigkeiten, dagegen nicht auf die zusätzliche Feststellung von Behinderungen, wie sie hier streitig seien. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts wäre § 150 Nr 3 SGG nicht überflüssig, falls der Berufungsausschluß gemäß den §§ 145 und 148 SGG reine Gradsachen beträfe. In jedem Fall sei § 150 Nr 3 SGG hier anwendbar. Wenn dies hätte ausgeschlossen werden sollen, müßte es in § 3 Abs 6 Satz 3 SchwbG ausdrücklich vorgeschrieben sein. Daß ein wesentlicher Verfahrensmangel fehle, habe das LSG nicht überzeugend begründet. Bezüglich der Ausstellung eines Ausweises bestehe kein selbständiger Anspruch, für den die Zulässigkeit der Berufung gesondert zu prüfen sei.
Der Kläger beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist teilweise erfolgreich.
Soweit der Kläger die Feststellung einer höheren MdE als um 50 vH, insbesondere wegen erheblicher Wirbelsäulen-Schmerzen, sowie die Ausstellung eines Ausweises über einen entsprechenden Grad der MdE anstrebt (§ 3 Abs 1, 3 und 5 SchwbG idF des Gesetzes zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft vom 29. April 1974 -BGBl I S. 1005-), ist der Rechtsstreit zur Sachentscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Insoweit hat das LSG die Berufung zu Unrecht nach § 158 Abs 1 SGG als unzulässig verworfen.
Die Zulässigkeit der Revision und der Berufung, die auf diesen selbständigen prozessualen Anspruch bezogen sind, muß gesondert beurteilt werden (BSGE 8, 228, 231 f; 10, 264, 266). Die Berufung, die einen höheren Grad der MdE als um 50 vH betraf, war nach § 3 Abs 6 Satz 3 SchwbG ausgeschlossen; denn von ihr hängt die Schwerbehinderteneigenschaft nicht ab, die mit dem bereits anerkannten Ausmaß von 50 vH gegeben ist (§ 1 Abs 1 SchwbG). Durch die Spezialvorschrift des § 3 Abs 6 Satz 3 SchwbG, die auf Besonderheiten des Schwerbehindertenrechtes abgestellt ist, wird die entsprechende, das Recht der KOV regelnde Bestimmung des § 148 Nr 3 SGG abgewandelt, die nach § 3 Abs 6 Satz 2 iVm Satz 1 SchwbG grundsätzlich für die Berufung in Schwerbehindertenstreitsachen gilt, wenn Feststellungen nach Abs 1 und die Ausweisausstellung nach Abs 5 streitig sind. Abs 6 Satz 3 ist nicht etwa deshalb hier unanwendbar, weil außer dem Grad der MdE, aber im Zusammenhang damit noch andere Ansprüche im prozeßrechtlichen Sinn streitig wären (im Ergebnis ebenso LSG Nordrhein-Westfalen, ZfS 1978, 107 = Behindertenrecht 1978, 70). Grundsätzlich sind derartige Berufungsausschlußgründe nicht gegeben, falls außer der im Gesetz ausdrücklich bezeichneten Anspruchsart eine andere streitig ist (BSGE 1, 225; 5, 222; BSG SozR Nrn 6, 9 und 31 zu § 148 SGG). Das war hier indes nicht der Fall. Die Ausstellung eines Ausweises, in dem nach § 3 Abs 6 Satz 1 SchwbG eine bestimmte MdE zu bescheinigen ist, folgt zwangsläufig aus der Feststellung dieser Leistungseinbuße nach Abs 1 und 3. Allein über diese ist gesondert zu entscheiden, und insoweit besteht ein selbständiger prozessualer Anspruch. Die Sachentscheidung darüber wirkt sich auf den Ausweisinhalt aus. Obwohl gleichzeitig um andere als die bereits anerkannten Behinderungen gestritten wird, ist § 3 Abs 6 Satz 3 SchwbG anwendbar (anderer Ansicht LSG Berlin, KOV-Mitteilungen Berlin 1978, 12). Dieser Streit betrifft eine unselbständige Voraussetzung des MdE-Grades, während Schädigungsfolgen iS des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), von denen andere Rechtsfolgen abhängig sein können, nicht allein zur Begründung eines bestimmten MdE-Grades geltend gemacht werden können, sondern außerdem auf einen entsprechenden Antrag auch selbständig prozessual zuzuerkennen sind (BSGE 11, 26, 27 f; BSG SozR Nrn 81 und 84 zu § 1 BVG). Im Schwerbehindertenrecht hingegen ist mit rechtserheblicher Bedeutung vor allem die MdE als Bewertung von Behinderungen (für die KOV: BSGE 41, 70, 73 = SozR 3100 § 30 Nr 11) festzustellen (vgl §§ 1, 2 und 3 Abs 1, 3 und 5 Satz 1 SchwbG) und dementsprechend bestimmend für den Anspruch im prozeßrechtlichen Sinn (vgl Zeihe, Das SGG und seine Anwendung, § 148 Nr 3, Rz 8).
Die Berufung war aber bezüglich der MdE und der sie bestimmenden Behinderungen, ungeachtet der Unzulässigkeit nach § 3 Abs 6 Satz 3 SchwbG, in diesem Fall nach § 150 Nr 3 SGG zulässig. Der letzte in dieser Vorschrift genannte Tatbestand ist auch in solchen Schwerbehindertensachen entsprechend anwendbar, dh soweit das SG eine Behinderung als nicht feststellbar erachtet hat. Das hat der erkennende Senat in der Sache 9 RVs 14/78 am selben Tag entschieden; auf die ausführliche Begründung des Urteils wird verwiesen. Die Berufung wird damit auch dann eröffnet, wenn die nicht feststellbare Gesundheitsstörung lediglich als eine Voraussetzung für einen höheren Grad der MdE geltend gemacht wird, also prozessual unselbständig ist.
Das SG hat eine Stehbehinderung und Gehbehinderung sowie Bewegungseinschränkung als nicht feststellbar erachtet. Diese Störungen könnten, falls sie doch beständen, auch die MdE beeinflussen. Die nunmehr dem LSG obliegende Sachentscheidung beschränkt sich allerdings nicht auf diese Behinderung. Vielmehr hat das Berufungsgericht nach der Zurückverweisung den Gesamtumfang der MdE (§ 3 Abs 1 und 3 SchwbG, § 30 Abs 1 BVG; vgl dazu Urteil des erkennenden Senats in BSGE 48, 82, 84 ff = SozR 3870 § 3 Nr 4) und als Voraussetzung dafür alle beeinflussenden Behinderungen, die beim Kläger bestehen sachlich zu überprüfen. Die Aufklärung über das Ausmaß aller Behinderungen ist noch eher geboten als für Streitsachen der KOV, in denen nachträglich geltend gemachte Schädigungsfolgen selbständig in das Verfahren einzubeziehen sind (BSGE 6, 297, 298 f; Urteil des erkennenden Senats vom 30. Januar 1980 - 9 RV 40/79 -). Die Sachentscheidung erstreckt sich auch auf nachträglich aufgetretene Gesundheitsstörungen, die erst im Berufungsverfahren geltend gemacht werden.
Da die Berufung nach § 150 Nr 3 SGG statthaft ist, braucht im Revisionsverfahren nicht entschieden zu werden, ob Verletzungen der §§ 103 und 109 SGG durch das SG eine Sachprüfung der zweiten Instanz eröffnen. Der Senat hat allerdings Veranlassung, vorsorglich auf die Rechtsprechung zu § 109 SGG hinzuweisen. Einem ergänzenden Antrag nach dieser Vorschrift muß stets stattgegeben werden, wenn nicht einer der Ablehnungsgründe des Abs 2 (vgl dazu BSGE 2, 258, 261; 7, 218, 221; BSG SozR Nrn 24, 29 und 40 zu § 109 SGG) gegeben ist (BSGE 7, 218, 220, 223; BSG SozR Nrn 14, 18 und 30 zu § 109 SGG; BSG Sozialgerichtsbarkeit 1958, 162) oder das Beweisthema ohne rechtliche Bedeutung ist (BSGE 2, 255, 256 f; BSG SozR Nr 25 zu § 109 SGG).
Soweit der Kläger eine erhebliche Gehbehinderung und Stehbehinderung sowie eine Beeinträchtigung seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr als gesundheitliche Merkmale für steuerliche oder sonstige besondere Vergünstigungen (vgl dazu die Aufzählung im Urteil des erkennenden Senats in BSGE 48, 85) nach § 3 Abs 4 SchwbG anerkannt, also etwas anderes als die MdE festgestellt haben will, ist die Revision unbegründet. Dabei handelt es sich um einen selbständigen Anspruch im prozeßrechtlichen Sinn, für den die Zulässigkeit des Rechtsmittels gesondert zu prüfen ist (BSG SozR 3870 § 3 Nr 2). Die darauf gerichtete Berufung findet nach § 3 Abs 6 Satz 4 SchwbG (idF, die bis zur Änderung durch Art Nr 3 des Gesetzes über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr vom 9. Juli 1979 - BGBl I 989 -, dh bis zum 30. September 1979, galt) überhaupt nicht statt, war also schlechthin ausgeschlossen. Das hat das LSG in Übereinstimmung mit dem erkennenden Senat (SozR 3870 § 3 Nr 2; seither ständige Rechtsprechung des Senats; vgl für die Sprungrevision BSG SozR 1500 § 161 Nr 23; anderer Ansicht Oehme, Versorgungsbeamter 1979, 112) zutreffend entschieden. Dann kann die auf diesen selbständigen Streitgegenstand bezogene Berufung auch nicht nach § 3 Abs 6 Satz 2 SchwbG iVm der letzten Alternative des § 150 Nr 3 SGG deshalb ausnahmsweise zulässig sein, weil das SG entsprechende Gesundheitsstörungen als nicht feststellbar erachtet hat.
Das LSG hat mithin allein über die Höhe der MdE und über das Ausmaß der sie begründenden Behinderungen noch sachlich zu befinden. Es hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen