Leitsatz (amtlich)
Die Rechtsbehelfsbelehrung in einem Bescheid, den der Versicherungsträger nach VwZG § 4 durch die Post mittels eingeschriebenen Briefs zustellt, ist unrichtig iS von SGG § 66 Abs 2, wenn es darin heißt, die Klage könne innerhalb eines Monats "nach Empfang" des Bescheids erhoben werden.
Leitsatz (redaktionell)
Unter "Empfang" eines Schriftstückes ist nach allgemeinem Sprachgebrauch seine Aushändigung und damit die unmittelbare Besitznahme zu verstehen; für den Begriff "Zustellung" genügt es demgegenüber, daß das Schriftstück so in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Adressaten gelangt ist, daß er von ihm Kenntnis nehmen konnte.
Normenkette
SGG § 66 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; VwZG § 4 Abs. 1 Fassung: 1952-07-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 25. Oktober 1963 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Klägerin erstrebt eine Geschiedenen-Witwenrente nach § 42 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) aus der Versicherung ihres 1959 verstorbenen früheren Mannes. Den im Mai 1960 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte ab. Der Ablehnungsbescheid vom 3. Juli 1961, am 4. Juli 1961 an die Klägerin abgesandt, wurde durch die Post mittels eingeschriebenen Briefes zugestellt; er enthielt u. a. folgende Belehrung:
"Gegen diesen Bescheid können Sie innerhalb eines Monats nach Empfang schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Sozialgerichts in Hamburg 36, Kaiser-Wilhelm-Straße 100 Klage erheben."
Die Klägerin erhob am 30. August 1961 beim Sozialgericht (SG) Hamburg Klage, mit der sie Erfolg hatte. Das Gericht ging davon aus, daß infolge unrichtiger Rechtsbehelfsbelehrung im Rentenablehnungsbescheid der Beklagten die Monatsfrist des § 87 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht in Lauf gesetzt worden sei. Auf die Berufung der Beklagten hin hob das Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil auf und wies die Klage als unzulässig ab. Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 25. Oktober 1963).
Nach der Rechtsauffassung des LSG ist die Klage nicht rechtzeitig erhoben worden. Entgegen der Meinung des SG sei die Rechtsbehelfsbelehrung in dem Rentenablehnungsbescheid der Beklagten nicht unrichtig im Sinne von § 66 Abs. 2 SGG gewesen. Die Verwendung des Wortes "Empfang" anstelle von "Zustellung" stehe dem nicht entgegen, weil es sich bei dem Begriff "Zustellung" um einen technischen Begriff handele, der dem Rechtsunkundigen wenig sage.
Mit ihrer Revision beantragt die Klägerin,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen. Hilfsweise beantragt sie, die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Nach ihrer Ansicht war die Rechtsbehelfsbelehrung im Bescheid der Beklagten unrichtig. Der Begriff "Empfang" decke sich nicht mit dem Begriff "Zustellung". Das ergebe sich deutlich aus dem hier maßgeblichen § 4 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG). Infolgedessen sei für den Adressaten nicht klar ersichtlich gewesen, von welchem Zeitpunkt an die Klagefrist zu laufen begonnen habe.
Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision. Sie meint, die Rechtsbehelfsbelehrung im angefochtenen Bescheid habe keine Rechtsunsicherheit hinsichtlich des Beginns der Klagefrist aufkommen lassen.
Die Revision ist zulässig und begründet. Entgegen der Rechtsauffassung des LSG war die Klagefrist nicht versäumt.
Der Bescheid eines Versicherungsträgers, durch den ein Anspruch anerkannt oder abgelehnt wird, ist nach § 204 AVG - der für das Verfahren der Angestelltenversicherung auf die Vorschriften des 6. Buches der Reichsversicherungsordnung (RVO) und damit auch auf § 1631 RVO verweist - schriftlich zu erteilen und zuzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 19. Oktober 1961 - 12/3 RJ 184/60 - SozR § 87 SGG Nr. 6). Nach den Feststellungen des LSG, die mit dem Akteninhalt übereinstimmen, hat die Beklagte den angefochtenen Bescheid an die Klägerin am 4. Juli 1961 mittels eingeschriebenen Briefes abgesandt. Diesen Vorgang hat das LSG mit Recht nicht nach § 135 Abs. 1 RVO (§ 205 AVG), sondern nach den für die Beklagte als bundesunmittelbare Anstalt des öffentlichen Rechts gültigen Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes vom 3. Juli 1952 (BGBl. I, 379) beurteilt. Nach § 4 Abs. 1 dieses Gesetzes gilt der Bescheid - da kein Anhalt für einen späteren Zugang besteht - mit dem dritten Tage nach der Aufgabe zur Post, d. h. am 7. Juli 1961, als zugestellt. Die Klage wäre deshalb nach § 87 Abs. 1 SGG innerhalb eines Monats danach zu erheben gewesen. Diese Frist war mit der erst am 30. August 1961 beim SG eingereichten Klage nicht gewahrt. Dennoch war die Klage nicht verspätet, weil der Bescheid der Beklagten keine ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung enthielt. Denn nach § 66 SGG beginnt die Frist für ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf nur dann zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsstelle oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt worden ist; war die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Rechtsbehelfs in der Regel innerhalb eines Jahres seit Zustellung zulässig. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben; die Belehrung im Bescheid der Beklagten, daß die Klage innerhalb eines Monats "nach Empfang" zu erheben sei, war unrichtig.
Die Rechtsbehelfsbelehrung soll dem Adressaten des Schriftstücks ermöglichen, sich über den Ablauf der Klagefrist, die eine Ausschlußfrist ist, klar zu werden; er muß also auch über den Tag des Beginns dieser Frist unterrichtet werden. Die Belehrung im angefochtenen Bescheid enthält zwar - neben den anderen Erfordernissen - auch den notwendigen Hinweis auf die Dauer der einzuhaltenden Klagefrist. Die Belehrung ist jedoch ungenau und irreführend. Nach dem Wortlaut des § 4 VwZG kam es nämlich nicht auf den Zeitpunkt des "Empfangs" des Bescheids an, sondern auf seinen Zugang, dessen Zeitpunkt im Regelfall fingiert wird ("... gilt als zugestellt") und in Ausnahmefällen nachzuweisen ist. Empfang und Zugang sind nicht dasselbe.
Unter "Empfang" eines Schriftstücks ist nach allgemeinem Sprachgebrauch seine Aushändigung und damit die unmittelbare Besitznahme zu verstehen. Für den Begriff "Zugang" dagegen genügt es, daß das Schriftstück in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Adressaten gelangt ist, so daß er von ihm Kenntnis nehmen kann (RGZ 50, 194). Deshalb braucht auch bei der Zustellung durch eingeschriebenen Brief das zuzustellende Schriftstück nicht an den Zustellungsadressaten selbst ausgehändigt zu werden; es kann vielmehr unter gewissen Voraussetzungen, z. B. wenn der Empfänger in der Wohnung nicht angetroffen wird, einem erwachsenen Familienmitglied des Empfängers übergeben werden (§ 40 Abs. 7 der Postordnung vom 30. Januar 1929, RGBl. I, 33; § 51 der Postordnung vom 16. Mai 1963 - BGBl. I, 341). Entgegen der Meinung der Beklagten handelt es sich somit bei den Begriffen "Empfang" und "Zustellung" bzw. "Zugang" nicht um eine - unschädliche - Unterscheidung sprachlicher Art, sondern um sachlich unterschiedliche Begriffe. Das zeigt sich schon darin, daß der Empfang des Bescheids vor dem gesetzlich fingierten Zugang, d. h. vor dem dritten Tag seit der Aufgabe zur Post liegen kann, ohne daß sich an der mit diesem Tag einsetzenden Rechtsbehelfsfrist etwas ändert (vgl. BSG 5, 53). Bei der Zustellung nach § 4 VwZG war somit für den Beginn der Klagefrist der Zeitpunkt des "Empfangs" des Bescheids nur dann von Bedeutung, wenn dieser genau am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post dem Adressaten oder einem erwachsenen Familienangehörigen ausgehändigt worden wäre. Nur für diesen Fall war die Rechtsbehelfsbelehrung richtig. Sie war jedoch irreführend auch dann, wenn für die Zustellung der Tag des tatsächlichen späteren Zugangs maßgebend gewesen wäre; denn auch dann wäre es nicht auf den "Empfang" des Bescheids, sondern darauf angekommen, wann er "zugegangen" ist.
Bei einer Belehrung, wie sie hier von der Beklagten im Bescheid vom 3. Juli 1961 gewählt wurde, war somit nicht ausgeschlossen, daß der Adressat im Falle eigenhändigen Empfangs vor dem dritten Tage nach der Aufgabe zur Post (4. Juli 1961) von der Erhebung der Klage absah, weil er die Klagefrist schon vor dem 7. August 1961 irrtümlich für abgelaufen hielt. Die Möglichkeit eines Irrtums war aber auch dann gegeben, wenn der eingeschriebene Brief in der Abwesenheit des Adressaten einem erwachsenen Familienmitglied ausgehändigt und damit die Zustellung nach § 4 VwZG bewirkt war, er selbst aber das Schriftstück erst geraume Zeit später "empfangen" hatte. Dann konnte er nach der Rechtsbehelfsbelehrung mit Recht annehmen, daß er noch genügend Zeit zur Erhebung der Klage habe. Auch in einem solchen Fall beruhte das Unterlassen der rechtzeitigen Klageerhebung auf dem irreführenden Inhalt der Rechtsbehelfsbelehrung. Zur Beurteilung der Frage, ob diese als richtig oder unrichtig anzusehen ist, kommt es allein auf den objektiven Inhalt der Belehrung an und nicht auf die Person des Adressaten. Ob er durch die fehlerhafte Belehrung irregeführt wurde und deshalb die Frist versäumt hat, ist ohne rechtliche Bedeutung. Die Rechtsbehelfsbelehrung ist auch dann unrichtig im Sinne von § 66 Abs. 2 SGG, wenn - wie hier - auch nur die abstrakte Möglichkeit eines Irrtums bei dem Adressaten besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Dezember 1959 - NJW 1960, S. 1074 sowie BFH, Urteil vom 22. Januar 1964 - Band 78 S. 528). Es ist deshalb belanglos, aus welchen Gründen die Klägerin die Monatsfrist zur Erhebung der Klage beim SG hat verstreichen lassen. Das ändert nichts daran, daß die ihr erteilte Rechtsbehelfsbelehrung unrichtig war und somit die Klagefrist nicht zu laufen begonnen hatte. Die Klägerin konnte daher den Rentenablehnungsbescheid vom 3. Juli 1961 noch innerhalb eines Jahres nach Zustellung (7. Juli 1961) anfechten (§ 66 Abs. 2 Satz 1 SGG). Unter diesen Umständen muß das Urteil des LSG, das diese Rechtslage verkannt hat, aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen