Leitsatz (amtlich)
Gemäß SGG § 202 gilt ZPO § 548 entsprechend für das Revisionsverfahren nach dem SGG. Danach sind auch die dem Endurteil vorausgegangenen Entscheidungen des LSG nachzuprüfen, soweit sie nicht kraft Gesetzes unanfechtbar sind. "Unanfechtbare" Entscheidungen sind nicht solche, die gemäß SGG § 177 und SGG 172 Abs 2 nur "mit der Beschwerde nicht angefochten werden können" (Fortsetzung BSG 1958-01-14 11/8 RV 97/57 = BSGE 6, 256).
Leitsatz (redaktionell)
Das Verfahren leidet an einem wesentlichen Mangel, wenn das Gericht den Antrag des Klägers, einen bestimmten Arzt gutachtlich nach SGG § 109 zu hören, durch Beschluß ohne Begründung zurückweist und auch in dem angefochtenen Urteil nicht ausführt, aus welchen Gründen der Antrag abgelehnt worden war.
Normenkette
SGG § 202 Fassung: 1953-09-03, § 172 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 177 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 548; SGG § 109 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 19. Juli 1956 wird aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger erhielt eine Rente für die Folgen einer Kieferverletzung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 30 v.H. Auf seinen Antrag hin wurde zwar die Rente für diese Folgen mit Bescheid der Landesversicherungsanstalt Westfalen (LVA.) vom 4. März 1950 nach einer MdE. um 50 v.H. vom 1. Dezember 1949 ab gewährt, jedoch eine darüberhinausgehende Erhöhung der Rente für ein Magen-, Rheuma- und Herzleiden abgelehnt. Der Einspruch des Klägers wurde mit der Entscheidung des Beschwerdeausschusses 8 der LVA. Westfalen in Dortmund vom 23. Januar 1951 zurückgewiesen. Auf die Berufung des Klägers holte das Oberversicherungsamt (OVA.) Dortmund Gutachten von Dr. V... und Prof. Dr. R... ein. Nachdem mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die Berufung des Klägers vom OVA. Dortmund als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Dortmund übergegangen war, hob dieses mit Urteil vom 25. Mai 1954 die Einspruchsentscheidung auf und verurteilte unter Abänderung des Bescheides der LVA. den Beklagten, als Schädigungsfolgen im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes geringfügigen Rheumatismus, geringfügige katarrhalische Schleimhaut des Magens mit Subacidität und eine Herzdurchblutungsstörung im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennen und an den Kläger ab 1. Oktober 1952 eine Rente nach einer MdE. um 60 v.H. zu zahlen.
Gegen dieses Urteil legte der Beklagte Berufung ein. Das Landessozialgericht (LSG.) holte über die Frage, ob die Rheuma- und Herzerkrankung auf die Verwundung des Klägers zurückzuführen ist, ein Gutachten der Medizinischen Universitätsklinik in Münster ein, welches Oberarzt Dr. H... und Assistenzarzt Dr. S... am 30. Januar 1956 erstatteten. Abschriften des Gutachtens wurden am 6. März 1956 den Beteiligten übersandt. Am 29. Juni 1956 erhielt der Kläger die Ladung des LSG. zum Termin am 19. Juli 1956. Mit Schriftsatz vom 3. Juli 1956 beantragte er, zur Frage des ursächlichen Zusammenhangs seiner Gesundheitsstörungen mit seiner Verwundung gemäß § 109 SGG ein weiteres Gutachten von Prof. Dr. S... Wuppertal-Barmen, einzuholen. In der mündlichen Verhandlung wiederholte der Kläger diesen Antrag. Nach dem Inhalt der Niederschrift über die Sitzung des LSG. vom 19. Juli 1956 wurde nach Schluß der mündlichen Verhandlung der Beschluß verkündet: "Der Antrag des Klägers auf Einholung eines Gutachtens von Prof. Dr. S... wird zurückgewiesen." Die Niederschrift fährt dann fort: "Nach Beratung wurde folgendes Urteil durch Verlesen der Urteilsformel verkündet und der wesentliche Inhalt der Entscheidungsgründe mitgeteilt: Das Urteil des SG. Dortmund vom 25. Mai 1954 wird abgeändert und die Klage auch insoweit abgewiesen, als der Beklagte verurteilt worden ist, geringfügigen Rheumatismus und Herzdurchblutungsstörungen (Wilsonblock) als Schädigungsfolgen anzuerkennen. Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Der Bescheid des Versorgungsamts Gelsenkirchen vom 1. Februar 1955 wird bestätigt. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten."
Die Revision wurde nicht zugelassen. In der Urteilsbegründung befaßt sich das LSG. mit den im Laufe des Verfahrens eingeholten Gutachten und kommt zu dem Ergebnis, daß das SG. zu Unrecht den Rheumatismus und die Herzdurchblutungsstörungen des Klägers auf die Kieferverletzung zurückgeführt habe. Mit dieser stehe nur die auch vom SG. anerkannte Magenschleimhautentzündung im Zusammenhang, die für sich allein eine MdE. um 10 v.H. bedinge, so daß sich damit die vom SG. vorgenommene Bewertung der gesamten MdE. des Klägers um 60 v.H. rechtfertige. "Über den Antrag des Klägers, ein Gutachten gemäß § 109 SGG einzuholen", so führt das LSG. wörtlich aus, "brauchte durch Urteil nicht entschieden zu werden, da dieser Antrag vor Urteilsverkündung durch Beschluß zurückgewiesen worden war."
Gegen das am 9. Oktober 1956 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 7. November 1956, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG.) am 8. November 1956, Revision eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 4. Dezember 1956, eingegangen beim BSG. am 6. Dezember 1956, begründet. Er beantragte,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG. Dortmund vom 25. Mai 1954 zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen.
Er rügt, daß die Ablehnung seines Antrags gemäß § 109 SGG, Prof. Dr. S... gutachtlich zu hören, nicht begründet worden sei. Der Beschluß habe zwar einer Begründung nicht bedurft, weil er nicht selbständig anfechtbar gewesen sei. Werde die Entscheidung über den Antrag gemäß § 109 SGG aber zusammen mit dem Urteil anfechtbar, so bedürfe diese Entscheidung wenigstens im Urteil einer Begründung, da sonst dem Antragsteller jede Möglichkeit genommen werde, diese Entscheidung nachzuprüfen und anzugreifen. Der Kläger rügt ferner, daß die Voraussetzungen für die Möglichkeit, einen gemäß § 109 SGG gestellten Antrag abzulehnen, nicht vorgelegen hätten. Er habe weder in Verschleppungsabsicht noch aus grober Nachlässigkeit den Antrag erst mit Schriftsatz vom 3. Juli 1956 gestellt.
Der Beklagte, der in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten war, hat in dem Schriftsatz vom 8. Januar 1957 beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Er räumt zwar ein, daß die Entscheidung des LSG. über den Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG mit der Revision gegen das Urteil des LSG. angefochten werden könne. Daraus sei jedoch nicht zu folgern, daß die in einem besonderen Beschluß getroffene Entscheidung begründet werden müsse. Für den Beschluß verlange das Gesetz eine Begründung nicht ausdrücklich. Folglich dürfe ohne ausdrückliche gesetzliche Bestimmung eine solche Begründung auch nicht im Urteil des LSG. verlangt werden. Im übrigen habe das LSG. den Antrag des Klägers zur Recht abgelehnt, weil dieser ihn aus grober Nachlässigkeit zu spät vorgebracht habe, nämlich vier Monate nach Empfang der Abschrift des Gutachtens der Universitätsklinik Münster und auch nach Empfang der Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung.
Die Revision des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt und auch rechtzeitig begründet worden. Sie ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Wie der Kläger mit Recht rügt, hat das LSG. pflichtwidrig unterlassen, seine Entscheidung über die Ablehnung des Antrags des Klägers, gemäß § 109 SGG den Prof. Dr. S... als Sachverständigen zu hören, zu begründen. Für einen Beschluß, der nach mündlicher Verhandlung ergangen ist, gilt gemäß § 142 Abs. 1 SGG u.a. auch § 136 SGG entsprechend. Der Beschluß des LSG. über die Ablehnung des vom Kläger gestellten Antrags ist nach mündlicher Verhandlung ergangen. Dies ergibt sich aus der Niederschrift über die Sitzung des LSG. am 19. Juli 1956, in welcher erwähnt ist, daß der Kläger den Antrag gemäß § 109 SGG stellte, daß die Beteiligten zur Sache verhandelten und daß nach Schluß der mündlichen Verhandlung der Beschluß über die Ablehnung des Antrags des Klägers verkündet wurde. Gilt aber für diesen Beschluß § 136 SGG entsprechend, so mußte er nach Abs. 1 Nr. 6 dieser Vorschrift auch begründet werden. Ob der Beschluß selbständig begründet werden mußte oder ob eine Begründung im Urteil des LSG. genügt hätte, kann dahingestellt bleiben, da der Beschluß weder selbst noch im Urteil begründet worden ist. Die Pflicht des LSG., den Beschluß zu begründen, ergibt sich somit bereits aus § 142 Abs. 1 in Verbindung mit § 136 Abs. 1 Nr. 6 SGG, so daß dahingestellt bleiben kann, ob sich die Begründungspflicht des LSG. etwa auch noch aus § 142 Abs. 2 SGG herleiten läßt oder aus den vom Kläger in der Revision angeführten allgemeinen Erwägungen.
Demnach hat das LSG. unter Verstoß gegen Verfahrensvorschriften seinen Beschluß nicht begründet. Damit ist aber noch nicht die Frage entschieden, ob überhaupt die Möglichkeit besteht, den Beschluß wegen dieses Verstoßes anzufechten. Der Beschluß als solcher kann, da er eine Entscheidung des LSG. darstellt, "mit der Beschwerde nicht angefochten werden" (§ 177 SGG). Nach dem Grundsatz des § 548 der Zivilprozeßordnung (ZPO), der über § 202 SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren anzuwenden ist, unterliegen der Beurteilung des Revisionsgerichts auch diejenigen Entscheidungen, die dem Endurteil vorausgegangen sind, sofern sie nicht nach den Vorschriften des SGG unanfechtbar sind. Als unanfechtbar bezeichnen die ZPO wie das SGG regelmäßig nur solche Entscheidungen, in denen das Gesetz den Beteiligten jede Möglichkeit hat nehmen wollen, sie in einem besonderen Verfahren oder durch eine übergeordnete Instanz nachprüfen zu lassen. (§ 67 Abs. 4, § 75 Abs. 3, § 98 Abs. 2, § 99 Abs. 4 SGG). Dabei braucht in diesem Zusammenhang nicht darauf eingegangen zu werden, ob derartige unanfechtbare Entscheidungen nicht doch noch mittelbar dann nachprüfbar sind, wenn durch die Folgen fehlerhafter unanfechtbarer Entscheidungen gegen andere Verfahrensgrundsätze verstoßen worden ist. Der Beschluß, mit dem das LSG. den gemäß § 109 SGG gestellten Antrag des Klägers abgelehnt hat, ist eine Entscheidung, die gemäß § 177 SGG wie § 172 Abs. 2 SGG nur "mit der Beschwerde nicht angefochten werden kann", sie ist aber keine "unanfechtbare" Entscheidung (vgl. BSG. Urteil vom 14. Januar 1958 - 11 / 8 RV 97/57 = SozR. SGG § 177 Bl. Da 1 Nr. 1). Zwar wird in den Kommentaren zu § 548 ZPO überwiegend die Meinung vertreten, daß unanfechtbare Entscheidungen im Sinne dieser Vorschrift auch alle Entscheidungen der Oberlandesgerichte seien, gegen die gemäß § 567 Abs. 3 die Beschwerde nicht zulässig ist (zu § 548 ZPO Stein-Jonas, 18. Aufl. Anm. II; Baumbach, 25. Aufl. Anm. 1 B; Wieczorek, Anm. A I b 2). Dieser Meinung kann uneingeschränkt nicht gefolgt werden, zumal sie ohne eigene Begründung wiedergegeben wird. Soweit die Begründung in der Bezugnahme auf Entscheidungen besteht, kann sie nicht als durchschlagend angesehen werden, denn entweder wird wiederum auf unbegründete und letztlich auf solche Entscheidungen Bezug genommen, die Fälle behandeln, in denen es sich gerade um unanfechtbare Entscheidungen in dem oben erwähnten Sinne handelt, oder es wird auf Entscheidungen Bezug genommen, die Fälle behandeln, in denen es sich um Zwischenurteile handelt, die schon ihrer Natur nach als selbständige Urteile nicht zusammen mit dem Endurteil angefochten werden können. Vielmehr muß aus § 512 ZPO, welchem der § 548 ZPO für das Revisionsverfahren nachgebildet worden ist, auf die auch vom 11. Senat des BSG. in der angeführten Entscheidung vertretenen Ansicht geschlossen werden. In § 512 ZPO sind aus verständlichen Gründen die unanfechtbaren und die mit der Beschwerde anfechtbaren Entscheidungen solchen Entscheidungen gegenübergestellt, die an sich anfechtbar sind, gegen die aber eine selbständige Beschwerde nicht gegeben ist. Die Letztgenannten bleiben nämlich allein noch von den dem Endurteil vorausgegangenen Entscheidungen übrig, die grundsätzlich gemäß § 512 ZPO nachzuprüfen sind. Die "unanfechtbaren" Entscheidungen sind demnach nicht denjenigen gleichzusetzen, die lediglich selbständig "mit der Beschwerde nicht anfechtbar" sind. Folglich sind auch gemäß § 548 ZPO solche Entscheidungen nicht "unanfechtbar", gegen die gemäß § 567 Abs. 3 ZPO eine Beschwerde nicht zulässig ist, weil es sich um Entscheidungen der Oberlandesgerichte handelt, soweit sie nicht kraft Gesetzes jeder Nachprüfung entzogen sind. Das bedeutet für die entsprechende Anwendung des § 548 ZPO im sozialgerichtlichen Verfahren, daß Entscheidungen nicht "unanfechtbar" sind, die nur gemäß § 177 SGG als Entscheidungen des LSG. oder nur gemäß § 172 Abs. 2 SGG "mit der Beschwerde nicht angefochten" werden können. Um eine solche Entscheidung des LSG., die gemäß § 177 SGG wie auch gemäß § 172 Abs. 2 SGG als Entscheidung über die Ablehnung eines Beweisantrags selbständig "mit der Beschwerde nicht anfechtbar" ist, handelt es sich bei dem Beschluß des LSG. über den Antrag des Klägers gemäß § 109 SGG. Sie ist daher gemäß § 548 ZPO in Verbindung mit § 202 SGG vom Revisionsgericht nachzuprüfen. Ist sie aber in demselben Umfang nachzuprüfen, wie die sonst im Urteil selbst getroffenen Entscheidungen, so muß sie von den Beteiligten auch in demselben Umfang angegriffen werden können. Das bedeutet für die Frage der Statthaftigkeit der Revision im sozialgerichtlichen Verfahren, daß Angriffe gegen die mit der Revision angreifbaren, dem Endurteil vorausgegangenen Entscheidungen in demselben Umfang die Revision statthaft machen, wie Angriffe gegen die vom LSG. im Urteil selbst getroffene Entscheidung. Da der Kläger gegenüber der Entscheidung des LSG. über den Antrag gemäß § 109 SGG zutreffend gerügt hat, daß diese Entscheidung unter Verstoß gegen § 136 Abs. 1 Nr. 6 SGG nicht begründet worden ist - eine ausdrückliche Bezeichnung des § 136 SGG war dazu nicht erforderlich (BSG. 1 S. 227) - so ist die Revision des Klägers gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.
Seine Revision ist damit auch begründet, denn auf diesem Verfahrensmangel beruht die angefochtene Entscheidung (§ 162 Abs. 2 SGG). Dies folgt aus § 551 Nr. 7 ZPO, der gemäß § 202 SGG ebenfalls im sozialgerichtlichen Verfahren gilt (BSG. 5 S. 176 [177], 4 S. 281 [288], 3 S. 180 [185]).
In der Sache selbst konnte der Senat nicht entscheiden, da Feststellungen des LSG. sowohl zur Frage der Verschleppungsabsicht als auch der groben Nachlässigkeit fehlen und außerdem gegebenenfalls eine neue Beweiswürdigung erforderlich wird.
Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Eines besonderen Ausspruchs über die Aufhebung des Beschlusses des LSG. über den gemäß § 109 SGG gestellten Antrag des Klägers bedurfte es nicht, da mit der Aufhebung des Urteils und der Zurückverweisung ohne weiteres auch alle verfahrensrechtlichen Vorentscheidungen hinfällig geworden sind, die zu diesem Urteil geführt haben.
Die Kostenentscheidung muß dem abschließenden Urteil vorbehalten werden.
Fundstellen