Entscheidungsstichwort (Thema)
Beschäftigungszeit ohne Beiträge
Leitsatz (redaktionell)
Wenn vor der Ersatzzeit eine Versicherung bestand, ist es gleichgültig, ob es eine Pflichtversicherung, Selbstversicherung oder freiwillige Weiterversicherung war. Die nachträgliche Anrechenbarkeit von Ersatzzeiten kann jedoch nur durch eine Pflichtversicherung herbeigeführt werden. Es wäre systemwidrig, wenn eine Beschäftigung, für die keine Beiträge entrichtet sind (oder als entrichtet gelten), die Anrechenbarkeit vorhergehender Ersatzzeiten begründen würde. Eine Beschäftigungszeit ohne Beiträge führt regelmäßig weder zur Berücksichtigung von Werteinheiten noch zählt sie bei den rechtserheblichen Versicherungsjahren mit. Sie ist für das Versicherungsverhältnis nur in besonderen Fällen (zB FRG § 16) beachtlich.
Orientierungssatz
Die Anrechnung einer Ersatzzeit ohne vorhergehende Versicherung (RVO § 1251 Abs 2 S 2 Buchst a) setzt voraus, daß für die fristgerecht aufgenommene "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden sind oder als entrichtet gelten.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 2 S. 2 Buchst. a Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 10. Juli 1963 wird aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 27. März 1961 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
In diesem Rechtsstreit geht es um die Frage, ob die Kriegsdienstzeiten des Klägers (1916 bis 1919) als Ersatzzeiten bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen sind.
Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) leistete der Kläger vom 11. Dezember 1916 bis 4. Januar 1919 Kriegsdienst. Vorher war er nicht versichert. Nach dem Militärdienst arbeitete er bis 1920 bei dem Fotografen W in München und bezog Lohn. Anschließend war er bis Ende 1922 im Fotolabor O, München, gegen Entgelt beschäftigt. 1928 ist die Quittungskarte Nr. 1 der Beigeladenen ausgestellt worden.
Die Beklagte gewährte mit Bescheid vom 4. Juni 1959 dem Kläger eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Bei deren Berechnung ließ sie die Kriegsdienstzeiten des Klägers unberücksichtigt. Das Sozialgericht (SG) München, das der Kläger u. a. deshalb anrief, wies die Klage ab. Auf die Berufung des Klägers verurteilte das Bayerische LSG die Beklagte zur Anrechnung der Ersatzzeiten. Es führte im Urteil vom 10. Juli 1963 aus, die Anrechnung nach § 28 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) fordere nur die Aufnahme einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung, nicht dagegen auch den Nachweis einer Beitragsleistung für diese Beschäftigung. Es entnahm diese Auffassung dem unterschiedlichen Wortlaut in Satz 1 und Satz 2 des Abs. 2 des § 28 AVG bezw. § 1251 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (in Satz 1 "Versicherung", in Satz 2 "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung"); nach Sinn und Zweck des § 28 AVG sei kein ernsthafter Grund ersichtlich, diejenigen Versicherten von der Berücksichtigung einer Ersatzzeit auszuschließen, die zwar eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen haben, für die aber aus von ihnen nicht zu vertretenden Gründen Beiträge erst später entrichtet worden seien. Die Revision wurde zugelassen.
Mit der Revision beantragt die Beigeladene, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen. Sie ist der Meinung, bei § 1251 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a RVO sei es auf die Beitragsentrichtung abzustellen.
Die Revision ist zulässig. Die Beigeladene ist berechtigt, Revision einzulegen, weil sie durch die angefochtene Entscheidung beschwert ist. Sie wäre nämlich der Beklagten zum finanziellen Ausgleich verpflichtet (§ 93 AVG).
Die Revision ist auch begründet. Die Kriegsdienstzeit von 1916 bis 1919 kann nicht als Ersatzzeit angerechnet werden, weil der - zur Zeit der Ableistung noch nicht versicherte - Kläger nicht innerhalb von zwei bezw. drei Jahren nach ihrer Beendigung eine versicherungspflichtige Beschäftigung, für die auch Versicherungsbeiträge entrichtet worden sind, aufgenommen hat (§ 1251 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a RVO idF des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) und des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG).
Der Auslegung des § 1251 Abs. 2 RVO (§ 28 Abs. 2 AVG) durch das LSG kann nicht beigetreten werden. Wie das Bundessozialgericht (BSG) wiederholt - zB BSG 20, 184 - entschieden hat, setzt die Anrechnung einer Ersatzzeit ohne vorhergehende Versicherung voraus, daß für die fristgerecht aufgenommene Beschäftigung Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden sind oder als entrichtet gelten. Auch der erkennende Senat vertritt diese Auffassung, vgl. SozR § 1251 Nr. 10. Wie dort ausgeführt, steht der Wortlaut des § 1251 Abs. 2 RVO dieser Auslegung nicht entgegen. Der unterschiedliche Wortlaut in Satz 1 und 2 des Abs. 2 des § 1251 RVO betrifft den Grund der Versicherung bezw. Beitragsentrichtung. Wenn vor der Ersatzzeit eine Versicherung bestand, ist es gleichgültig, ob es eine Pflichtversicherung, Selbstversicherung oder freiwillige Weiterversicherung war. Die nachträgliche Anrechenbarkeit von Ersatzzeiten kann jedoch nur durch eine Pflichtversicherung herbeigeführt werden. Es wäre systemwidrig, wenn eine Beschäftigung, für die keine Beiträge entrichtet sind (oder als entrichtet gelten), die Anrechenbarkeit vorhergehender Ersatzzeiten begründen würde. Eine Beschäftigungszeit ohne Beiträge führt regelmäßig weder zur Berücksichtigung von Werteinheiten noch zählt sie bei den rechtserheblichen Versicherungsjahren mit. Sie ist für das Versicherungsverhältnis nur in besonderen Fällen (zB § 16 FremdRG) beachtlich. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Es wäre nicht zu verstehen, wenn eine Beschäftigung, die selbst versicherungsrechtlich indifferent ist, für andere Zeiten (Ersatzzeiten) eine stärkere Wirkung haben sollte, als ihr selbst innewohnt, indem diese Beschäftigungszeit die Anrechenbarkeit der anderen Zeiten begründen würde, ohne selbst anrechenbar zu sein.
Die Beschäftigungen des Klägers bei W und O, für die Beiträge nicht entrichtet sind oder als entrichtet gelten, sind somit keine "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung" im Sinne des § 1251 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a RVO (§ 28 Abs. 2 Satz 2 a AVG). Eine solche hat der Kläger vielmehr erst im Jahre 1928 aufgenommen. Die Kriegsdienstzeit von 1916 bis 1919 kann daher nicht als Ersatzzeit angerechnet werden.
Die Revision der Beigeladenen ist demnach begründet. Das angefochtene Urteil war aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG München vom 27. März 1961 zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen