Leitsatz (amtlich)
Fehlte in dem in RVO § 1590 vorgeschriebenen Vermerk die Bezeichnung des Sitzes des zuständigen Oberversicherungsamtes, so stand eine Überschreitung der Berufungsfrist (RVO § 128 Abs 1 Fassung: 1924-12-15) um wenige Wochen der Rechtzeitigkeit der Berufung nicht entgegen (Abweichung von RVA 1921-04-28 = EuM 14, 25).
Ist in der Belehrung über einen Rechtsbehelf die Stelle, bei welcher der Rechtsbehelf einzulegen ist, nicht hinreichend bezeichnet, so wird dieser Mangel nicht dadurch behoben, daß in der Belehrung eine andere Stelle angegeben ist, bei welcher der Rechtsbehelf fristwahrend eingereicht werden kann.
Normenkette
RVO § 128 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15, § 129 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15, § 1590 Fassung: 1924-12-15, § 66 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; SGG § 66 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 84 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 91 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 11. Januar 1955 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger war Installateurmeister in Wertheim am Main (Land Baden). Im Dezember 1945 wurde er von einer amerikanischen Inf. Div. beauftragt, in dem von dieser Einheit besetzten Schloß Triefenstein (Land Bayern) eine Brause- und Waschanlage einzurichten. Bei dieser Arbeit erlitt er am 4. Januar 1946 eine Prellung der rechten Hand; im April 1946 mußte ihm der rechte Unterarm amputiert werden. Mit Schreiben vom 28. April 1947 meldete er der Beklagten den Unfall als "Besatzungsschaden", wobei er sich als selbständigen Geschäftsmann bezeichnete. Durch Bescheid vom 30. Mai 1949 lehnte die Beklagte den Entschädigungsanspruch ab mit der Begründung, der Kläger gehöre als selbständiger Unternehmer nicht zu dem nach § 537 der Reichsversicherungsordnung (RVO) versicherten Personenkreis. Der Bescheid schließt mit folgender Rechtsmittelbelehrung:
"Dieser Bescheid wird nach § 1590 RVO rechtskräftig, wenn der Berechtigte nicht binnen einem Monat nach Zustellung des Bescheides die Berufung bei dem Oberversicherungsamt einlegt. Sie kann auch bei hiesiger Stelle eingelegt werden und zur Beschleunigung des Verfahrens empfiehlt sich dies".
Der am 11. Juni 1949 zur Post gegebene Bescheid wurde am 14. Juni 1949 der Tochter des Klägers ausgehändigt.
Am 28. Juli 1949 telegraphierte der Kläger an die Beklagte, er lege gegen ihren Beschluß fürsorglich Beschwerde ein. Das Telegramm nebst der Begründungsschrift vom 5. Mai 1950 wurde von der Beklagten dem Oberversicherungsamt (OVA.) Würzburg vorgelegt, welches die Unterlagen zuständigkeitshalber an das OVA. Karlsruhe weiterleitete. Dieses veranlaßte den Kläger, sich zur Versäumung der Berufungsfrist zu äußern. Der Kläger erklärte hierauf, es habe ihm damals niemand bei der Abfassung eines Einspruchs geholfen. Der Kammervorsitzende hat durch Entscheidung vom 12. März 1952 die Berufung als unzulässig verworfen, weil die Berufungsfrist nicht eingehalten worden sei und die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vorlägen. Das OVA. hat durch Urteil vom 24. Juni 1952 diese Entscheidung bestätigt.
Am 24. Juli 1952 ist beim Landesversicherungsamt (LVAmt) Württemberg-Baden die Berufung des Klägers eingegangen. Das Landessozialgericht (LSG.) Baden-Württemberg, auf welches das Verfahren übergegangen ist, hat durch Urteil vom 11. Januar 1955 die Berufung zurückgewiesen. Es hat ausgeführt: Der Bescheid der Beklagten vom 30. Mai 1949 habe zwar eine etwas mangelhafte Rechtsmittelbelehrung enthalten, weil das OVA. nicht näher bezeichnet gewesen sei; jedoch sei dem Kläger darin auch empfohlen worden, die Berufung unmittelbar bei der Beklagten einzulegen. Dies habe der Kläger auch getan. Daß die Verspätung auf seine Unsicherheit über das zuständige OVA. zurückzuführen gewesen sei, habe er nicht vorgetragen, deshalb sei das Fehlen der Ortsangabe ohne Bedeutung. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung hätten weder nach § 131 RVO noch nach § 67 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) vorgelegen. Von einer Sachprüfung hat das LSG. abgesehen, insbesondere in der Richtung, ob der Kläger etwa anstatt der Beklagten seine damalige Fach-Berufsgenossenschaft in Anspruch nehmen könne. Obwohl das LSG. in der Urteilsformel ausdrücklich die Revision zugelassen hat, lautet seine Rechtsmittelbelehrung, die Revision sei gegen dieses Urteil nur zulässig, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt werde.
Das Urteil ist am 12. März 1955 durch eingeschriebenen Brief abgesandt worden. Der Kläger hat am 13. April 1955 durch seinen Prozeßbevollmächtigten Revision eingelegt mit dem Antrag,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils dem Kläger die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. Stuttgart zurückzuverweisen.
Die Revision bemängelt, die Ansprüche des gesundheitlich schwer geschädigten rechtsunkundigen Klägers seien in dem jahrelangen Verfahren niemals sachlich geprüft, sondern stets aus rein formellen Gründen abgelehnt worden. Es sei ein unabwendbarer Zufall gewesen, daß der Kläger in seiner Lage die Hilfe eines Beraters in Anspruch nehmen mußte und dieser in der fraglichen Zeit gerade verreist gewesen sei.
Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision. Sie macht geltend, eine sachliche Prüfung des Entschädigungsanspruchs habe im Verwaltungswege stattgefunden. Die Angabe im Bescheid, die Berufung könne auch bei der Beklagten eingelegt werden, habe genügt, um die mangelnde Bezeichnung des OVA. unschädlich zu machen. Deshalb sei nur der Kläger, nicht die Beklagte und die später erkennenden Gerichte, dafür verantwortlich, daß die Rechtsmittel aus formellen Gründen erfolglos blieben.
Die Revision ist statthaft durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Der Tenor des angefochtenen Urteils besagt dies ausdrücklich, und zwar sowohl in der Verhandlungsniederschrift als auch in der Urteilsausfertigung, so daß ein Schreibfehler auszuschließen ist. Die damit nicht übereinstimmende Rechtsmittelbelehrung des LSG. ändert daran nichts.
Die Revision ist formgerecht eingelegt und begründet (§ 164 SGG). Die Revisionsschrift ist am 13. April 1955, und damit binnen eines Monats nach der Urteilszustellung (§ 64 Verwaltungszustellungsgesetz - VwZG), beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen. Hiernach ist die Revision zulässig.
Der Senat hatte von Amts wegen die Frage zu prüfen, ob die Vorinstanzen mit Recht die Berufung des Klägers gegen den Ablehnungsbescheid als verspätet angesehen haben. Der Senat hat diese Frage im Gegensatz zum LSG. verneint.
Obwohl eine dem § 66 Abs. 1 SGG entsprechende ausdrückliche Vorschrift in der RVO und den ihr vorangehenden Gesetzen nicht enthalten war, hat das Reichsversicherungsamt (RVA.) in ständiger Rechtsprechung angenommen, daß die Frist für die Einlegung der Berufung gegen einen Bescheid nicht in Lauf gesetzt wurde, wenn die Rechtsmittelbelehrung im Bescheid fehlte (AN. 1915 S. 568 Nr. 2813; 1920 S. 186 Nr. 2570; EuM. Bd. 20 S. 206 (208); ebenso die Schiedsstelle beim Verband der deutschen Berufsgenossenschaften in EuM. Bd. 37 S. 292, Bd. 38 S. 359) oder wenn sie mangelhaft war (AN. 1892 S. 345 Nr. 1190; 1899 S. 445 Nr. 721; 1904 S. 415 Nr. 1124; siehe auch § 13 des Rundschreibens vom 15.11.1904 in AN. 1904 S. 643 ff. (649)). Als ein solcher Mangel wurde es in den zuletzt angeführten Entscheidungen angesehen, wenn die Rechtsmittelbelehrung das anzurufende Gericht nicht richtig bezeichnete. Daraus, daß nach dem damaligen Gesetzeswortlaut (§ 76 Abs. 4 Gewerbeunfallversicherungsgesetz vom 30.6.1900; § 114 Abs. 4 Invalidenversicherungsgesetz vom 30.7.1899) "die Bezeichnung des für die Berufung zuständigen Schiedsgerichts" im Bescheid vorgeschrieben war, folgerte das RVA. (besonders eingehend in AN. 1904 S. 415), daß dies ein zwingendes Erfordernis für die Ingangsetzung der Berufungsfrist sei; dem Umstand, daß schon in den damaligen Vorschriften die fristwahrende Einreichung der Berufung bei einer anderen Behörde zugelassen war, maß es in diesem Zusammenhang keine Bedeutung bei.
Der in diesem Rechtsstreit anzuwendende § 1590 RVO in der Fassung vom 30. Oktober 1923 verlangt zwar seinem Wortlaut nach nicht mehr - wie die oben erwähnten älteren Gesetze - ausdrücklich, daß im Bescheid das anzurufende Gericht "bezeichnet", d. h., daß der Sitz des zuständigen OVA, angegeben wird. Der Senat sieht indessen hierin keinen Anlaß, bei der Auslegung dieser Vorschrift von der angeführten Rechtsprechung des RVA. abzuweichen. Der vorgeschriebene "Vermerk, daß der Bescheid rechtskräftig wird, wenn der Berechtigte, nicht Berufung bei dem OVA. einlegt", ist nicht so zu verstehen, daß hiermit irgendein beliebiges OVA. gemeint sein kann; vielmehr sollte der Bescheidempfänger auf ein bestimmtes, nämlich das zuständige OVA. hingewiesen werden. Eine Belehrung über den gegen einen Verwaltungsakt gegebenen Rechtsbehelf muß den Sinn haben, den Beteiligten jedenfalls über den ersten Schritt, der zur Rechtsbehelfseinlegung notwendig ist, vollständig zu unterrichten (ähnlich schon AN. 1915 S. 568; s. auch BSG. 1 S. 227 (229)). Dieser selbstverständliche Zweck würde nicht erreicht worden sein, wenn während der Geltung des § 1590 RVO ein Bescheidempfänger im unklaren darüber gelassen worden wäre, welches OVA. für die Einlegung seiner Berufung in Betracht kam. Dies hat das RVA. in einer - soweit ersichtlich vereinzelt gebliebenen - Entscheidung (EuM. Bd. 14 S. 25) anscheinend nicht hinreichend berücksichtigt. Hier vertrat es bezüglich der gleichlautenden, 1923 aufgehobenen Vorschrift des § 1607 Abs. 3 RVO die Auffassung, das Gesetz schreibe eine Belehrung im Endbescheid darüber, welches OVA. zuständig sei, nicht vor. Dabei hat sich das RVA. nicht einmal mit einer zwei Jahre zuvor ergangenen Entscheidung (EuM. Bd. 13 S. 19) auseinandergesetzt, in welcher eine im Bescheid enthaltene Ortsbezeichnung, die lediglich nicht ganz eindeutig war und deshalb eine Fehlleitung der Einspruchsschrift verursachte, wenigstens als Grund für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand angesehen wurde. Wie bedeutsam und schwierig die Bezeichnung des zuständigen OVA. sein kann, zeigt gerade der vorliegende Fall, in welchem die Beklagte selbst den Fehler begangen hat, die bei ihr eingegangene Berufung dem unzuständigen OVA. Würzburg vorzulegen. Um so weniger durfte dem Kläger, der in Baden wohnte, jedoch auf bayerischem Gebiet den Unfall erlitten und bei einem bayerischen Versicherungsträger seinen Anspruch angemeldet hatte, diese Prüfung ohne hinreichend belehrenden Anhaltspunkt überlassen bleiben. Der Senat hält daher, im Einklang mit der älteren Rechtsprechung des RVA., die Bezeichnung des Sitzes des zuständigen OVA. für einen notwendigen Bestandteil des im § 1590 RVO vorgeschriebenen Vermerks, wobei, wie schon in den Gründen des Urteils vom 29. März 1957 (2 RU 16/55) ausgeführt wurde, diese Bezeichnung im allgemeinen nicht die genaue Anschrift des OVA. mit Straße und Hausnummer zu umfassen braucht. Beim Fehlen dieser Bezeichnung wurde mithin die Frist des § 128 Abs. 1 RVO nicht in Lauf gesetzt; ob es, in Ermangelung einer dem jetzigen § 66 Abs. 2 SGG entsprechenden Regelung, nach damaligem Recht möglich war, im Wege der Analogie eine zeitliche Höchstgrenze für die Berufungseinlegung aufzustellen (vgl. EuM. 37 S. 292), brauchte im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden, da der Kläger seine Berufung schon sechs Wochen nach dem Empfang des Bescheids eingelegt hat.
Das LSG., dessen Standpunkt bis hierher wohl nicht wesentlich von dem des erkennenden Senats abweicht, stützt seine Entscheidung ausschlaggebend auf den Umstand, daß der Kläger in dem Bescheid doch jedenfalls über die Möglichkeit, die Berufung bei der Beklagten einzureichen, hinlänglich belehrt wurde; da er ohnehin seine Berufung nicht an das OVA., sondern an die Beklagte gerichtet habe, ohne daß ihm deswegen Rechtsnachteile entstanden, sei die Fristversäumnis nicht auf die Unsicherheit des Klägers über das zuständige OVA. zurückzuführen, deshalb sei der Fehler in der Rechtsmittelbelehrung unschädlich. Hierbei verkennt das LSG. den Unterschied zwischen dem gesetzlich vorgeschriebenen Weg für die Einlegung des Rechtsbehelfs (§ 129 Abs. 1 RVO) und einer daneben bestehenden bloßen Möglichkeit, den Rechtsbehelf fristwahrend auch bei einer für die Entscheidung unzuständigen Stelle einzureichen (§ 129 Abs. 2 RVO). Nur im ersten Fall bestand eine Verpflichtung des Klägers, im zweiten hatte er lediglich eine aus sozialen Erwägungen geschaffene Befugnis (EuM. Bd. 7 S. 20). Infolgedessen läßt sich nicht, wie das LSG. meint, in der Rechtsmittelbelehrung das Erste durch das Zweite ersetzen; vielmehr wird, wenn die Belehrung die Stelle, bei welcher der Rechtsbehelf einzulegen ist, nicht hinreichend bezeichnet, dieser Mangel nicht dadurch behoben, daß sie eine andere Stelle angibt, bei welcher der Rechtsbehelf fristwahrend eingereicht werden kann (ähnlich bereits AN. 1904 S. 415; siehe ferner BSG. in Sozialrecht SGG § 161 Bl. Da 2 Nr. 5).
Hiernach hat die Bescheidzustellung die Berufungsfrist nicht in Lauf gesetzt. Das Berufungstelegramm des Klägers war also in seinen Rechtsfolgen nicht von der Einhaltung der Frist des § 128 RVO abhängig, so daß das Vorbringen des Klägers zur Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand keiner Prüfung bedurfte. Die Vorinstanzen haben zu Unrecht eine Sachentscheidung unterlassen. Da der Rechtsstreit in der Sache selbst nicht entscheidungsreif ist, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 2324815 |
NJW 1957, 1493 |