Leitsatz (amtlich)
Die Frist des SGG § 214 Abs 3 ist nur gewahrt, wenn die Berufung vor dem 1954-07-01 entsprechend den Vorschriften des SGG § 151 Abs 1 oder Abs 2 eingelegt worden ist; es genügt nicht, daß eine Berufungsschrift vor diesem Zeitpunkt bei dem SG eingegangen ist.
Leitsatz (redaktionell)
Eingaben an den Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages erfüllen in der Regel nicht die Voraussetzungen einer Rechtsmittelschrift. Zur Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Normenkette
SGG § 151 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 214 Abs. 3 Fassung: 1953-09-03, § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; GG Art. 17 Fassung: 1949-05-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 3. Dezember 1954 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen
Gründe
Der im Jahre 1884 geborene Kläger hatte am 6. August 1932 beim Kohlentransport durch Sturz von einem Pferdefuhrwerk eine Kopfverletzung erlitten. Für die Folgen dieses Unfalls gewährte ihm die Beklagte die Vollrente, die sie mit Bescheid vom 21. Dezember 1946 auf Grund des § 608 der Reichsversicherungsordnung (RVO) entzog. Der Entziehungsbescheid wurde vom Oberversicherungsamt (OVA) Schleswig am 5. August 1947 bestätigt, das auch die im folgenden Jahr vom Kläger beantragte Wiederaufnahme des Verfahren ablehnte.
Mit Schreiben vom 5. Juni 1953 schilderte der Kläger dem Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages seine Lage. Diese über den Bundesminister für Arbeit an die Beklagte weitergeleitete Eingabe bewog deren Hauptverwaltung, den Kläger einer ärztlichen Nachuntersuchung unterziehen zu lassen zur Prüfung, ob in den Unfallfolgen eine Verschlimmerung eingetreten sei. Auf Grund dieser Untersuchung hat die Beklagte durch Bescheid vom 19. November 1953 die Wiedergewährung einer Rente abgelehnt: Die körperlichen Beschwerden des Klägers seien altersbedingt, Gesundheitsstörungen infolge des Unfalls nicht festzustellen. Der Bescheid ist mit Rechtsmittelbelehrung versehen und am 19. November 1953 zur Post gegeben worden.
Unterdessen hatte der Kläger laufend weiter an den Petitionsausschuß geschrieben (23.7., 29.8., 9.11.1953). Im Schreiben vom 24. November 1953 - beim Bundestag eingegangen am 27. November 1953 - hat er alsdann u. a. ausgeführt:
"Ich bitte den Petitionsausschuß, meiner Unfallsache auf den Grund zu gehen; anbei habe ich einen Bescheid von der Genossenschaft erhalten, und kann nicht zu meinem Recht kommen, weil es abgeschlagen ist ... Ich bitte höflichst, meine Karte, die ich eingeschickt habe, mit diesem Schriftstück von der Genossenschaft zu vergleichen, was eigentlich der Grund ist, meine Rente zu entziehen. Sollte das Bundesministerium zu keinem Erfolg kommen, dann bitte ich doch, meine Unfallakte zurückzusenden, um mir das Armenrecht zu beschaffen, um eine Klage gegen die Genossenschaft zu führen."
Auch in den späteren Schreiben vom 3. Februar, 6. März und 18. März 1954 an den Petitionsausschuß wiederholte er die Ankündigung, im Armenrecht zu klagen, falls er durch den Petitionsausschuß nichts erreichen könne.
Nachdem der Petitionsausschuß im April 1954 den Kläger auf den Rechtsweg verwiesen hatte, hat dieser sich an das Sozialgericht (SG.) Lübeck gewandt. Die Klage ist dort am 6. Mai 1954 eingegangen. Er hat beantragt, den Bescheid der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zur Rentengewährung zu verurteilen. Das SG. hat durch Urteil vom 2. August 1954 die Klage als unzulässig abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG.) hat diese Entscheidung durch Urteil vom 3. Dezember 1954 bestätigt: Die Klage sei verspätet. Durch Eingaben an den Petitionsausschuß könne die Rechtsmittelfrist nicht gewahrt werden, weil dieser Ausschuß nicht als "andere inländische Behörde" im Sinne der §§ 129 Abs. 2 RVO und 91 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) anzusehen sei. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nicht gewährt werden, da der Kläger die Frist schuldhaft versäumt habe.
Das LSG. hat die Revision zugelassen. In der Rechtsmittelbelehrung fehlt ein Hinweis darauf, daß die Revisionsschrift einen bestimmten Antrag enthalten muß. Das Urteil ist dem Kläger am 18. Dezember 1954 zugestellt worden. Seine Revision ist am 29. Januar 1955 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen und am 17. Februar 1955 begründet worden. Unter Berufung auf die Rechtsauffassung des Reichsversicherungsamts (RVA) und des Petitionsausschusses des Bundestags tritt der Kläger der Auslegung des Behördenbegriffs durch das LSG. entgegen: Durch das am 27. November 1953 beim Petitionsausschuß eingegangene Schreiben des Klägers sei die Rechtsmittelfrist gewahrt. Zumindest hätte dem Kläger Wiedereinsetzung gewährt werden müssen, da ihm angesichts seines Alters und seines Bildungsgrades nicht als Verschulden angerechnet werden könne, daß er den Petitionsausschuß als Behörde angesehen habe. Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des SG. Lübeck vom 2. August 1954 und des Urteils des LSG. Schleswig vom 3. Dezember 1954 nach dem Klagantrag zu erkennen,
hilfsweise die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise sie zurückzuweisen.
Sie hält die Revision für verspätet. Ferner bezweifelt sie, ob die Eingabe an den Petitionsausschuß überhaupt als Rechtsbehelf anzusehen sei oder ob der Kläger nicht hiermit vielmehr versucht habe, von dem Ausschuß Hilfe mit außerprozessualen Mitteln zu erlangen.
Der Senat hat die Petitionsakten des Deutschen Bundestages beigezogen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Die Revision ist zulässig. Sie ist statthaft gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG und mit dem Schriftsatz vom 29. Januar 1955 formgerecht eingelegt. Die Revisionsschrift ist auch noch rechtzeitig eingegangen. Die Rechtsmittelbelehrung des LSG. entsprach nämlich nicht den Erfordernissen des § 66 Abs. 1 SGG, weil darin der Hinweis fehlte, daß die Revisionsschrift einen bestimmten Antrag enthalten muß (BSG. 1 S. 227). Die Revisionsfrist lief also gemäß § 66 Abs. 2 SGG erst ein Jahr nach Zustellung des angefochtenen Urteils ab.
Die Revision ist aber unbegründet. Der am 6. Mai 1954 beim SG. eingegangene Rechtsbehelf bezog sich, wenn man ihn als Klage auffaßt, auf den Bescheid der Beklagten vom 19. November 1953 und war daher gemäß § 87 Abs. 1 S. 1 SGG unzulässig. In eine nachträgliche Berufung gegen die Entscheidung des OVA. Schleswig vom 5. August 1947 läßt sich der Rechtsbehelf nicht umdeuten. Die Frist dafür lief zwar gemäß § 214 Abs. 3 SGG erst am 30. Juni 1954 ab, sie wurde jedoch durch Eingang eines Schriftsatzes beim SG. nicht gewahrt. Vielmehr hätte innerhalb der Frist die Berufungsschrift zum LSG. (§ 214 Abs. 1 Nr. 1 SGG) gelangt sein oder das Rechtsmittel rechtzeitig zur Niederschrift des SG. eingelegt werden müssen. Dies folgt aus der auch bei diesen Altfällen geltenden Vorschrift des § 151 Abs. 2 SGG; die Vorschrift des § 91 SGG findet gemäß § 153 Abs. 1 SGG auf die Berufung keine Anwendung, sie gilt nur für die Erhebung der Klage. (So die herrschende Meinung zu § 214 Abs. 1 und 3 SGG: LSG. Celle in SGb. 1954 S. 192 mit zust. Anm. Eberhardt; LSG. Nordrhein-Westf. in BG 1955 S. 78; LSG. Bremen in Breith. 1955 S. 322; Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur SGb., 6. Nachtr., § 214 Anm. 3 e S. I/34; gleicher Ansicht zu § 151 SGG: BSG. in SozR. SGG § 151 Bl. Da 2 Nr. 3.) An das LSG. ist der Schriftsatz des Klägers aber erst nach Erlaß des sozialgerichtlichen Urteils im August 1954 gelangt, nachdem die Frist des § 214 Abs. 3 SGG bereits abgelaufen war. Auch als Berufung i. S. des § 214 Abs. 1 Nr. 1 SGG wäre der Rechtsbehelf des Klägers also verspätet eingelegt.
Vor der Klageerhebung vom 6. Mai 1954 war ein Rechtsbehelf gegen den Bescheid der Beklagten vom 19. November 1953 noch nicht anhängig. Insbesondere ist innerhalb der Anfechtungsfrist (§ 128 Abs. 1 RVO) weder bei dem damals zuständigen OVA. Schleswig (§§ 129 Abs. 1, 1677 Abs. 1 RVO alter Fassung) noch "bei einer anderen inländischen Behörde" (§ 129 Abs. 2 RVO) eine Rechtsmittelschrift eingegangen, über die nach § 215 SGG nunmehr die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zu entscheiden hätten. Die Eingabe des Klägers vom 24. November 1953 (nicht vom 19. Dezember 1953, wie der Vorderrichter annimmt) ist beim Petitionsausschuß zwar innerhalb der Monatsfrist des § 128 Abs. 1 RVO eingegangen. Wenn das LSG. jedoch dieses Schriftstück inhaltlich als Rechtsmittelschrift ansehen will, so kann dem nicht gefolgt werden. Ob und inwieweit diese Auslegung sich zu einer tatsächlichen Feststellung im Sinne des § 163 SGG verdichtet hat, kann offen bleiben. Jedenfalls ist das Bundessozialgericht nicht daran gebunden, vielmehr insoweit zur selbständigen Aufklärung von Amts wegen berechtigt und verpflichtet. Die Wahrung der Rechtsmittelfrist ist Prozeßvoraussetzung und daher in jeder Instanz im öffentlichen Interesse zu beachten (vgl. RGZ Bd. 159 S. 83 (84); BGH in NJW 1956 S. 15186; BSG. 2 S. 245 (253)). Die Prüfung erstreckt sich auch auf die tatsächlichen Voraussetzungen (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 5. Aufl., S. 254 b; Peters-Sautter-Wolff a. a. O. § 163 Anm. 3). Um eine solche Voraussetzung handelt es sich hier. Von dem Inhalt des Schreibens vom 24. November 1953 hängt die Zulässigkeit der Sachentscheidung auch des Revisionsgerichts ab.
Dieses Schreiben an den Petitionsausschuß bringt in seinem Wortlaut nur den Wunsch des Klägers zum Ausdruck, die Rente, die er früher bezogen hat, wieder zu erhalten. Zu diesem Ziel standen ihm verschiedene Wege offen, wie der Kläger aus früheren Erfahrungen mit dem Petitionsausschuß und dem OVA. Schleswig wußte. Da der Petitionsausschuß ihm im Sommer 1953 immerhin schon zu einem Teilerfolg - der Nachuntersuchung - verholfen hatte, während er einige Jahre zuvor mit dem Streitverfahren vor dem OVA. nichts erreicht hatte, lag es für ihn nahe, es weiter mit parlamentarischen Mitteln zu versuchen. Hierbei sind einerseits die einfache Denkungsweise und der Bildungsgrad des Klägers, andererseits die Rührigkeit zu berücksichtigen, mit der er an allen Stellen, die er für hilfsbereit und genügend einflußreich hielt (Parlament, Ministerien), seine angeblichen Rentenansprüche durchzusetzen bestrebt war. Trotz seiner ungewandten Ausdrucksweise sind daher die Ausführungen des Klägers, er wolle erst klagen, wenn das Petitionsverfahren erfolglos ausgehen sollte, wörtlich zu nehmen. Ein Mißgriff im Ausdruck ist umso weniger anzunehmen, als er die Ankündigung später mehrfach wiederholt und sie auch umgehend ausgeführt hat, nachdem der Petitionsausschuß endgültig ein Einschreiten abgelehnt hatte. Schließlich spricht sein Hinweis auf das Armenrecht dafür, daß er sich unter den besonderen Aufgaben und Verfahrensweisen eines Gerichts etwas Bestimmtes, von dem Petitionsweg Verschiedenes, vorstellte. Demgemäß hat auch der Petitionsausschuß die Eingabe nicht als Rechtsmittel an das SG. weitergeleitet, sondern die Petition selbst erledigt.
Eine Rechtsmittelschrift muß wenigstens mittelbar den Willen zum Ausdruck bringen, das Rechtsmittelverfahren in Gang zu bringen. Unter welchen Umständen dieser Wille zu vermuten ist, wenn jemand nur seine Unzufriedenheit mit einem Bescheid zu erkennen gibt, und ob hierbei die Auslegungspraxis des RVA. (vgl. RVO-Mitgl. Komm. Bd. I, 2. Aufl., § 128 Anm. 6, S. 88) gebilligt werden kann, mag offen bleiben. Denn hier steht aufgrund des ausdrücklichen Vorbehalts in Verbindung mit dem Gesamtverhalten des Klägers fest, daß dieser mit dem Schreiben vom 24. November 1953 noch kein Spruchverfahren in Gang bringen wollte (vgl. Bayer. LVAmt in Breithaupt 1951 S. 1202). Das Schreiben ist kein Rechtsmittel, wie es § 129 Abs. 2 RVO voraussetzt. Die Vorschrift ist daher nicht anzuwenden. Die weitere Voraussetzung, ob der Petitionsausschuß oder jedenfalls das diesem Ausschuß zugeteilte Bundestagsbüro eine Behörde ist, bedurfte keiner Prüfung. Die insoweit auf die Rechtsprechung des RVA (EuM Bd. 25 S. 133) gestützte Revisionsrüge muß demnach unerörtert bleiben.
Auch die weitere Rüge des Klägers, die Vorinstanzen hätten ihm zu Unrecht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt, ist unbegründet. Wie der Vorderrichter im Ergebnis ohne Rechtsirrtum ausgeführt hat, können die Folgen der Fristversäumnis des Klägers auch durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht beseitigt werden.
Ob die Zulässigkeit der Wiedereinsetzung nach §§ 131 ff. RVO oder nach § 67 SGG zu beurteilen ist (dazu BSG. 1 S. 44 (46); S. 227 (231); Urteil des 10. Senats vom 11.12.1956 in Breith. 1957 S. 282) mag hier offen bleiben. Denn auch die dem Kläger - jedenfalls nach dem Wortlaut - günstigeren Voraussetzungen des § 67 Abs. 1 SGG liegen nicht vor. Der Kläger hat selbst nicht behauptet, durch äußere Umstände an der Einlegung der Berufung beim OVA. gehindert gewesen zu sein. Als Hindernis kommt daher nur seine Erwartung in Betracht, durch ein Eingreifen des Bundestags-Petitionsausschusses werde sich ein Rechtsstreit erübrigen. Dies vermag die Wiedereinsetzung aber nicht zu rechtfertigen. Auch bei Anlegung des von der Revision mit Recht geforderten subjektiven Maßstabes muß selbst ein rechtlich unerfahrener Beteiligter in dieser Situation vernünftigerweise neben einem außergewöhnlichen Weg, dessen Erfolgsaussichten ungewiß sind, vorsorglich auch zugleich den normalen Instanzenzug beschreiten, sofern er auf diesen hingewiesen wurde. Diesen Hinweis hat der Kläger durch die dem Bescheid der Beklagten vom 19. November 1953 angefügte Rechtsmittelbelehrung erhalten. Darin wurde der Kläger belehrt, daß der Bescheid rechtskräftig wird, wenn nicht binnen einem Monat nach Zustellung Berufung bei dem OVA. Schleswig in Schleswig eingelegt wird. Gemäß § 1590 RVO reichte das aus. Daß die Anschrift des OVA. nicht mit Straße und Hausnummer angegeben ist, ist unschädlich, zumindest bei einem so kleinen Ort, wo Schwierigkeiten bei der Postzustellung dadurch nicht auftreten können (vgl. RVA in EuM 13 S. 19; Brackmann a. a. O. S. 248 y; a. M. LSG. Berlin in Breithaupt 1955 S. 217). Die Belehrung war jedenfalls auch für einen im Rechtsverkehr völlig Unerfahrenen nicht mißzuverstehen, so daß für Erwägungen, wie sie der 3. Senat des BSG. angestellt hat (SozR. SGG § 67 Bl. Da 5 Nr. 9) hier kein Raum ist. Der Kläger durfte sich nicht darauf verlassen, daß seine Petition den Ablauf der Anfechtungsfrist hemmen oder daß der Petitionsausschuß ihm schon helfen werde. Zu solchen unrichtigen Vorstellungen gab ihm die Rechtsmittelbelehrung keinen Anlaß; sie waren auch nicht vereinbar mit der gehörigen Sorgfalt im prozessualen Verkehr, die auch dem Kläger zuzumuten war. Der Kläger kann daher nicht geltend machen, er sei ohne Verschulden verhindert gewesen, die Rechtsmittelfrist einzuhalten.
Da die Revision des Klägers erfolglos bleibt, sind Kosten nicht zu erstatten (§ 193 SGG).
Fundstellen