Orientierungssatz

Der Sachzusammenhang, der sich aus der Entscheidung über den Anspruch auf vorzeitiges Altersruhegeld für das Ende des Anspruchs auf Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit ergibt, genügt nicht den Erfordernissen des SGG § 96.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1248 Abs. 2 Fassung: 1965-06-09; AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 25 Abs. 2 Fassung: 1965-06-09; SGG § 96 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. Mai 1967 insoweit aufgehoben, als die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 18. November 1966 abgewiesen worden ist. Im übrigen wird die Revision als unzulässig verworfen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Hälfte ihrer außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin, geboren am 14. April 1906, war von 1931 bis 1943 als künstlerische Mitarbeiterin beim Rundfunk tätig, nachdem sie die dafür notwendigen Vorkenntnisse durch den Besuch der Musikhochschule in B und durch private Gesangstunden erworben hatte. Vom 1. April 1956 bis 31. Januar 1958 arbeitete die Klägerin nochmals stundenweise als Schreibhilfe. Ihren Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit lehnte die Beklagte nach medizinischen Erhebungen mit Bescheid vom 10. Mai 1961 ab, da die Klägerin als Rundfunksachbearbeiterin und Schreibhilfe noch voll verwendbar sei.

Die Klägerin erhob Klage beim Sozialgericht (SG) München. Das SG holte ein Gutachten des Neurologen Dr. H M vom 18. März 1964, ein Gutachten des Facharztes für innere Krankheiten Dr. E M vom 28. April 1964 sowie ein Gutachten der II. Medizinischen Universitätsklinik in M (Prof. Dr. Dr. B, Prof. Dr. F und Dr. A) vom 20. September 1964 ein. Die Gutachter vertreten die Auffassung, die Klägerin könne als künstlerische Rundfunksachbearbeiterin noch vier bis fünf Stunden täglich tätig sein. Das SG wies darauf die Klage mit Urteil vom 26. Januar 1965 ab.

Die Klägerin legte Berufung ein; sie hielt die medizinische Beurteilung nicht für ausreichend und überzeugend.

Während des Berufungsverfahrens bewilligte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 18. November 1966 ab 1. April 1966 das (vorzeitige) Altersruhegeld nach § 25 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). In der Sitzungsniederschrift des Landessozialgerichts (LSG) vom 17. Mai 1967 heißt es: "Bezüglich des Bescheides vom 18. November 1966 erklärt die Klägerin, daß sie sich durch ihn nicht beschwert fühle".

Das LSG entschied mit Urteil vom 17. Mai 1967: "Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG München vom 26. Januar 1965 wird zurückgewiesen. Die Klage gegen den Bescheid vom 18. November 1966 wird abgewiesen".

Das LSG führte aus, nach den Feststellungen der Gutachter leide die Klägerin an einem Zustand nach chronischer Polyarthritis im Bereich der Fingerendgelenke mit leichten Gelenkdeformierungen ohne sicheren Anhalt für derzeitige Aktivität, weiter an mäßigen degenerativen Veränderungen im Bereich der Halswirbelsäule, ferner bestehe bei ihr eine Neigung zu arterieller Hypotonie (Blutunterdruck) sowie eine vegetative Labilität. Bei der Art und dem Ausmaß dieser Gesundheitsstörungen sei es überzeugend, daß alle Gutachter die Klägerin für fähig erachteten, in ihrem früheren Beruf als künstlerische Rundfunksachbearbeiterin noch die Lohnhälfte zu verdienen. Berufsunfähigkeit im Sinne des § 23 Abs. 2 AVG liege daher nicht vor. Der Bescheid vom 18. November 1966 über die Bewilligung des vorzeitigen Altersruhegeldes sei zwar gemäß § 96 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden, er sei jedoch, wie die Klägerin selbst einräume, nicht zu beanstanden. Die Revision wurde nicht zugelassen.

Die Klägerin legte fristgemäß und formgerecht Revision ein. Sie beantragte,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben, als die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 18. November 1966 abgewiesen ist.

Die Klägerin rügte, das LSG habe die Verfahrensvorschriften der §§ 96, 103 und 128 SGG verletzt. Der Bescheid der Beklagten über die Bewilligung des vorzeitigen Altersruhegeldes vom 18. November 1966 sei entgegen der Auffassung des LSG nicht nach § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden. Das LSG habe die Klage gegen diesen Bescheid zu Unrecht abgewiesen. Daran ändere nichts, daß es in der Verhandlungsniederschrift des LSG vom 17. Mai 1967 heiße: "Bezüglich des Bescheides vom 18. November 1966 erklärt die Klägerin, daß sie sich durch ihn nicht beschwert fühle". Eine derartige Erklärung habe sie nicht abgegeben, weil nach ihrer Auffassung die Beitrags-, Ausfall- und Ersatzzeiten in dem Bescheid vom 18. November 1966 nicht richtig berechnet worden seien. Soweit das LSG zu dem Ergebnis gekommen sei, die Klägerin sei nicht berufsunfähig gewesen, habe es die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 SGG verletzt.

Die Beklagte beantragte,

Die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 SGG).

II

Das LSG hat über die Rechtmäßigkeit des - mit der Klage angefochtenen - Bescheides vom 10. Mai 1961 entschieden; mit diesem Bescheid hat die Beklagte den Antrag der Klägerin, ihr (ab 1. Dezember 1960) eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren, abgelehnt. Insoweit hat das LSG die Berufung der Klägerin gegen das - klageabweisende - Urteil des SG zurückgewiesen.

Das LSG hat ferner über die Rechtmäßigkeit des - während des Berufungsverfahrens ergangenen - Bescheides vom 18. November 1966, mit dem die Beklagte der Klägerin das Altersruhegeld nach § 25 Abs. 2 AVG (ab 1. April 1966) bewilligt hat, entschieden, und zwar durch Abweisung der Klage gegen diesen Bescheid.

Das LSG hat danach in einem Urteil über zwei Bescheide entschieden, die verschiedene Ansprüche betreffen, nämlich den Anspruch auf eine Rente wegen Berufsunfähigkeit und den Anspruch auf das vorzeitige Altersruhegeld nach § 25 Abs. 2 AVG. In diesem Fall sind die Voraussetzungen für die Statthaftigkeit der (nicht zugelassenen) Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG für jeden Anspruch gesondert zu prüfen. Die Revision ist nur hinsichtlich des Anspruchs statthaft, auf den sich ein in der Form des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG gerügter und tatsächlich vorliegender Verfahrensmangel bezieht (BSG 3, 135, 139; 7, 35, 39; 8, 228, 231).

Soweit die Revision der Klägerin den Anspruch auf die Rente wegen Berufsunfähigkeit betrifft, rügt die Klägerin zwar, das LSG habe die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 SGG verletzt. Diese Verfahrensrügen greifen jedoch nicht durch. Die Klägerin wendet sich gegen die Feststellung des LSG, die Klägerin sei mit dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen noch in der Lage, in ihrem früheren Beruf als künstlerische Rundfunksachbearbeiterin die "Lohnhälfte" zu verdienen. Sie trägt vor, das LSG habe diese Feststellung nicht treffen dürfen, weil ihr "psychisches Zustandsbild" noch nicht hinreichend geklärt worden sei. Es habe sich veranlaßt sehen müssen, eine psychologische Testuntersuchung durchführen zu lassen. Ein Verfahrensmangel liegt jedoch insoweit nicht vor.

Das LSG hat die Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit der Klägerin auf ausreichende medizinische Unterlagen, nämlich auf die Gutachten des Nervenarztes Dr. H M, des Internisten Dr. E M und der Ärzte der II. Medizinischen Universitätsklinik in M gestützt. Es hat diesen Gutachten entnehmen dürfen, daß die Klägerin als künstlerische Rundfunksachbearbeiterin noch täglich drei bis fünf Stunden tätig sein könne. Das LSG hat der Anregung der medizinischen Klinik, zur Prüfung der Angaben der Klägerin über ihre Gedächtnis- und Merkfähigkeitsstörungen eine psychologische Testuntersuchung vornehmen zu lassen, nicht folgen müssen, zumal die Ärzte der Klinik "bei eingehender Anamneseerhebung" die von der Klägerin angegebene Gedächtnisstörung nicht festgestellt haben. Im übrigen ist der Nervenarzt Dr. H M, der auch die Frage einer neurotischen Konzentrationsschwäche und psychogener Störungen erörtert hat, zu dem Ergebnis gekommen, daß die berufliche Leistungsfähigkeit der Klägerin durch psychische oder geistige Veränderungen, die nicht ihrem Alter entsprechen, oder durch seelische Leiden nicht gemindert sei. Der Facharzt für innere Medizin, Dr. E M, hat in seinem Gutachten nur die nervenärztlichen Befunde, die Dr. H M erhoben hat, wiedergegeben. Das LSG hat auf Grund des Gutachtens des Nervenarztes Dr. H M den medizinischen Sachverhalt auch in neurologisch-psychiatrischer Hinsicht als ausreichend geklärt ansehen dürfen.

Soweit die Klägerin die "tatbestandsmäßige Klärung des Berufsbildes" einer künstlerischen Rundfunksachbearbeiterin vermißt, enthält ihr Vorbringen nur die allgemeine Rüge, das Berufsbild hätte durch Anfrage bei einer Rundfunkanstalt oder ein "spezielles berufskundliches Gutachten" näher geklärt werden müssen. Insoweit ist die Rüge der unzureichenden Sachaufklärung (§ 103 SGG) nicht in der nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG gebotenen Form erhoben; es sind nicht ausreichend die Tatsachen und Beweismittel dargetan, die insoweit einen Mangel des Verfahrens ergeben. Die Klägerin macht nicht deutlich, inwiefern die ärztlichen Sachverständigen und das LSG sich keine zutreffenden Vorstellungen über das Berufsbild einer künstlerischen Rundfunksachbearbeiterin haben machen können und inwiefern sie nicht ohne weitere Erhebungen die physischen und psychischen Anforderungen dieses Berufes haben beurteilen können. Sie legt auch nicht dar, auf welche, "dem Außenstehenden unbekannten", zu dem Berufsbild gehörenden Tätigkeiten und Verrichtungen im einzelnen, die für die Anforderungen des Berufs bedeutsam sind, das LSG durch weitere Erhebungen hätte hingeführt werden können. Das Vorbringen der Klägerin enthält insoweit im wesentlichen Einwendungen gegen die sachlich-rechtliche Auffassung des LSG. Diese vermögen jedoch die Statthaftigkeit der nicht zugelassenen Revision nicht zu begründen. Verstöße des LSG nach § 103, 128 SGG sind somit nicht dargetan.

Da insoweit, als die Revision den Anspruch auf die Rente wegen Berufsunfähigkeit zum Gegenstand hat, keine wesentlichen Mängel des Verfahrens dargetan sind, ist die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Sie ist insoweit als unzulässig zu verwerfen.

Soweit die Revision den Anspruch der Klägerin auf das vorzeitige Altersruhegeld betrifft, ist die Klägerin durch das Urteil des LSG beschwert, weil das LSG die Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 18. November 1966 geprüft, bejaht und "die Klage" insoweit abgewiesen hat. Hieran ändert nichts, daß die Klägerin - nach der Sitzungsniederschrift des LSG und der Wiedergabe ihrer Erklärung im Urteil - erklärt hat, sie fühle sich durch den Bescheid vom 18. November 1966 nicht beschwert (was die Klägerin allerdings bestreitet). Die Revision ist insoweit nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; die Klägerin rügt nämlich ordnungsgemäß (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG) und zu Recht, das LSG habe § 96 SGG verletzt, weil es den Bescheid der Beklagten vom 18. November 1966 nach dieser Vorschrift als Gegenstand des Verfahrens angesehen habe. Die Beklagte hat zwar im Laufe des Rechtsstreits gegen den mit der Klage angefochtenen Bescheid vom 10. Mai 1961 über die Versagung der Rente wegen Berufsunfähigkeit, und zwar im Berufungsverfahren, den weiteren Bescheid vom 18. November 1966 erteilt und darin der Klägerin das beantragte Altersruhegeld nach § 25 Abs. 2 AVG bewilligt; damit hat sie jedoch nicht den ersten Verwaltungsakt durch einen neuen "abgeändert oder ersetzt" im Sinne des § 96 SGG. Die Entscheidung über den Anspruch auf Altersruhegeld kann zwar für das Ende des Anspruchs auf Rente wegen Berufsunfähigkeit bedeutsam sein (BSG 25, 139); der Sachzusammenhang, der sich daraus ergibt, genügt aber den Erfordernissen des § 96 SGG nicht (BSG 10, 103, 107). Entscheidend ist, ob der neue Bescheid auch den mit der Klage erhobenen Anspruch betrifft. Das ist hier aber nicht der Fall; durch die Bewilligung des Altersruhegeldes ist der Streit darüber, ob der Klägerin - vor der Bewilligung des Altersruhegeldes - eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zugestanden hat, nicht berührt worden. Ob § 96 SGG anzuwenden ist, wenn im Streit über das vorzeitige Altersruhegeld (§ 25 Abs. 2 AVG) ein Bescheid über die Bewilligung des Altersruhegeldes nach § 25 Abs. 1 AVG ergeht, kann hier dahingestellt bleiben (vgl. auch BSG SozR Nr. 15 zu § 96 SGG). Im vorliegenden Fall entspricht es auch nicht dem Grundgedanken des § 96 SGG, den Bescheid über die Bewilligung des vorzeitigen Altersruhegeldes und den Bescheid über den Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit zum Gegenstand desselben Verfahrens zu machen; es kommt deshalb hier auch keine entsprechende Anwendung des § 96 SGG in Betracht (vgl. BSG 25, 161, 163). Im vorliegenden Falle würde durch die Einbeziehung des Bescheides vom 18. November 1966 ein ganz neuer Streitstoff, nämlich die Berechnung des vorzeitigen Altersruhegeldes, in das anhängige Verfahren eingeführt werden; das ist weder aus Gründen der Prozeßwirtschaftlichkeit geboten, noch wird es den verfahrensrechtlichen Belangen der Beteiligten gerecht. Haben danach die Voraussetzungen für die Anwendung des § 96 SGG nicht vorgelegen, so hat das LSG den Bescheid vom 18. November 1966 auch dann nicht als Streitgegenstand ansehen dürfen, wenn es aus einer Erklärung der Klägerin ihr Einverständnis hierzu hätte entnehmen können. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, wie die - bestrittene - Erklärung der Klägerin, sie fühle sich durch den neuen Bescheid nicht beschwert, zu werten ist. Das LSG hat jedenfalls über die Rechtmäßigkeit dieses Bescheides nicht sachlich entscheiden dürfen; es hat nicht eine Klage gegen diesen Bescheid abweisen dürfen.

Die Revision der Klägerin ist danach insoweit statthaft und - da sie frist- und formgerecht eingelegt worden ist - auch zulässig. Sie ist auch begründet. Der Senat kann - entsprechend dem Hilfsantrag der Klägerin - abschließend entscheiden. Das Urteil des LSG ist insoweit aufzuheben, als die Klage gegen den Bescheid vom 18. November 1966 abgewiesen worden ist (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284968

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