Leitsatz (redaktionell)
1. Die Rechtsvermutung des BVG § 38 Abs 1 S 2 gilt stets, aber auch nur dann, wenn der Beschädigte an seinem Leiden stirbt, für das ihm im Zeitpunkt des Todes Rente zuerkannt war. Es besteht keine Rechtsvermutung, daß der Tod mit dem anerkannten Leiden ursächlich zusammenhängt.
2. Bei einer Verschlimmerung läßt sich aus dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit allein weder zugunsten noch zuungunsten des ursächlichen Zusammenhangs des Todes mit dem durch eine gesundheitliche Schädigung verschlimmerten Leiden ein Schluß ziehen.
3. Die Beschleunigung des Todes durch eine gesundheitliche Schädigung ist dann als wesentlich anzusehen, wenn der Tod ohne die gesundheitliche Schädigung wahrscheinlich erst 1 Jahr später eingetreten wäre.
Normenkette
BVG § 38 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1950-12-20; BVGVwV Nr. 1
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 22. Februar 1957 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Das Versorgungsamt (VersorgA.) H hatte bei dem im Jahre 1888 geborenen Ehemann der Klägerin durch Bescheid vom 30. Juni 1951 (Umanerkennung) Hypertonie, Myocardschaden mit Dekompensationserscheinungen (Leberschwellung), einen doppelseitigen Leistenbruch, Krampfadern und starke Schwerhörigkeit beiderseits - sämtliche Gesundheitsstörungen im Sinne der Verschlimmerung - als Folge von Schädigungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) anerkannt und Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 30 v.H. gewährt. Der Ehemann der Klägerin starb am 30. April 1953 an Hypertonie, Herzmuskelschaden und Herzmuskelschwäche.
Die Klägerin stellte am 27. Mai 1953 Antrag auf Gewährung von Hinterbliebenenversorgung. Die Versorgungsbehörden lehnten den Antrag nach Einholung von versorgungsärztlichen Stellungnahmen ab, da der Tod des Ehemannes der Klägerin nicht Folge der bei ihm im Sinne der Verschlimmerung anerkannt gewesenen Leiden sei, sondern auch ohne diese Verschlimmerung infolge des schicksalsmäßigen Fortschreitens des schon vor dem Wehrdienst vorhandenen Bluthochdruckleidens und Herzmuskelschadens eingetreten wäre.
Das Sozialgericht (SG.) Schleswig hat nach Anhörung des Facharztes für innere Medizin Dr. ... durch Urteil vom 6. Oktober 1955 die ablehnenden Bescheide der Versorgungsbehörden aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin vom 1. Mai 1953 an Witwenrente zu zahlen. Die vom Beklagten gegen dieses Urteil eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG.) nach Einholung eines weiteren internistischen Gutachtens von Prof. ... der einen Einfluß der anerkannten Verschlimmerung auf den Tod des Ehemannes der Klägerin für unwahrscheinlich hielt, durch Urteil vom 22. Februar 1957 als unbegründet zurückgewiesen.
In Übereinstimmung mit dem SG. hat das LSG. seiner Entscheidung die unter Abwägung der erstatteten Gutachten getroffene Feststellung zu Grunde gelegt, der Ehemann der Klägerin sei durch die als Schädigungsfolge anerkannte Verschlimmerung des Bluthochdruckleidens und des Herzmuskelschadens um mindestens ein Jahr früher gestorben, als es ohne diese Verschlimmerung der Fall gewesen wäre. Die MdE. um 30 v.H. sei fast ausschließlich durch die Verschlimmerung des Hochdruckleidens und Herzmuskelschadens verursacht gewesen, so daß der Verstorbene die Versorgungsrente wegen dieser Verschlimmerung bezogen habe. Damit sei die als Schädigungsfolge anerkannte Verschlimmerung dieser Leiden die wesentliche Ursache für den verfrühten Tod des Ehemannes der Klägerin gewesen; er sei mithin an dem anerkannten Leiden ein Jahr früher gestorben, so daß sein Tod nach § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG als Folge einer Schädigung gelte und der Klägerin aus diesem Grunde ein Anspruch auf Witwenrente zustehe. Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Der Beklagte hat gegen das am 6. April 1957 zugestellte Urteil am 4. Mai 1957 Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG. Schleswig vom 22. Februar 1957 und das Urteil des SG. Schleswig vom 6. Oktober 1955 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Revision rügt die Verletzung des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG. Sie meint, bei Beantwortung der Frage, ob ein Beschädigter an einer als Schädigungsfolge anerkannten Verschlimmerung gestorben sei, komme es nicht auf die von den Vorinstanzen getroffene Feststellung an, daß der Tod durch diese Verschlimmerung um mindestens ein Jahr früher eingetreten sei; entscheidend sei lediglich die Feststellung, ob die anerkannte Verschlimmerung richtunggebend gewesen sei. Richtunggebend im Hinblick auf ein zum Tode führendes Leiden könne aber eine Verschlimmerung nur dann sein, wenn sie zu einer MdE. um 50 v.H. oder mehr geführt habe. Bei dem Verstorbenen sei aber nur eine MdE. um 30 v.H., die durch mehrere Leiden verursacht worden sei, anerkannt gewesen. Im übrigen sei das LSG. zu Unrecht davon ausgegangen, daß die anerkannte MdE. um 30 v.H. fast ausschließlich die Verschlimmerung des Bluthochdruckleidens und des Herzmuskelschadens betreffe, vielmehr habe eine ins Gewicht fallende Verschlimmerung dieser Leiden durch Wehrdienst und Kriegsgefangenschaft nicht vorgelegen, wie aus dem Gutachten des Sachverständigen Prof. ... hervorgehe. Das LSG. habe auch das hohe Alter des Verstorbenen bei seinen Feststellungen nicht hinreichend in Betracht gezogen.
Die Klägerin hat beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG); sie ist daher zulässig.
Die Revision ist jedoch nicht begründet.
Der Beklagte greift mit der Revision die von den Vorinstanzen getroffenen und der Entscheidung des LSG. zugrunde gelegten Feststellungen an, der Tod des Ehemannes der Klägerin sei durch die als Schädigungsfolge anerkannte Verschlimmerung des Bluthochdruckleidens und des Herzmuskelschadens um mindestens ein Jahr früher eingetreten und der Ehemann der Klägerin habe wegen der als Schädigungsfolge anerkannten Verschlimmerung dieser Leiden eine Versorgungsrente bezogen. Angriffe gegen tatsächliche Feststellungen des LSG. können in der Revisionsinstanz nur dann Erfolg haben, wenn in Bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind (§ 163 SGG), wenn also die Feststellungen entgegen den Vorschriften des Verfahrensrechts zustande gekommen und diese Verfahrensverstöße gerügt sind. Der Beklagte hat in der Revisionsbegründung allerdings nicht ausdrücklich das Vorliegen wesentlicher Verfahrensmängel gerügt. Aus den Ausführungen, das LSG. habe bei der Feststellung, daß die als schädigungsbedingt anerkannt gewesene MdE. um 30 v. H. fast ausschließlich durch die als Schädigungsfolge anerkannte Verschlimmerung der Herzbeschwerden verursacht worden sei, ohne stichhaltige Gründe die anderen anerkannten Schädigungsfolgen außer Acht gelassen und auch das Alter des Verstorbenen nicht hinreichend berücksichtigt, kann jedoch entnommen werden, daß der Beklagte eine Verletzung des § 128 SGG geltend machen will. Wird die verletzte Rechtsnorm in der Revisionsbegründung nicht ausdrücklich bezeichnet, ist der Vorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG noch genügt, wenn sich - wie hier - aus den vorgetragenen Tatsachen ergibt, welche Verfahrensvorschrift als verletzt angesehen wird (BSG. Bd 1 S. 227).
Nach § 128 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; es hat im Urteil die Gründe anzugeben, die für seine richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Ein Mangel des Verfahrens in Bezug auf die Beweiswürdigung liegt nur dann vor, wenn das Gericht die gesetzlichen Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung überschritten hat. Insoweit kommt insbesondere ein Verstoß gegen Erfahrungssätze des täglichen Lebens oder gegen Denkgesetze in Betracht. Das LSG. hat in dem angefochtenen Urteil widerspruchsfrei die Gründe dargelegt, die für seine Überzeugung maßgebend waren. Es hat die ärztlichen Gutachten eingehend gegeneinander abgewogen und ist auf Grund dieser Würdigung nicht dem Gutachten des Sachverständigen Prof. ... gefolgt; eine Überschreitung der Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung ist insoweit nicht erkennbar. Insbesondere hat das LSG. die Feststellung, daß durch Schädigungen im Sinne des BVG das Herz- und Kreislaufleiden des Verstorbenen erheblich verschlimmert worden sei und die Verschlimmerung dieser Leiden früher in einem solchen Maße im Vordergrund der Beschwerden gestanden habe, daß demgegenüber die als ebenfalls wehrdienstbedingt angenommene Verschlimmerung anderer Leiden bei der Bewertung der MdE. und damit bei der Gewährung der Rente nicht ins Gewicht gefallen sei, unter eingehender Auswertung der erstatteten ärztlichen Gutachten getroffen. Das Berufungsgericht hat auch widerspruchsfrei die Gründe angeführt, die für seine Überzeugung maßgebend gewesen sind, bei der Beurteilung der Lebenserwartung des Verstorbenen ohne die Schädigung durch den in fortgeschrittenen Jahren geleisteten Wehrdienst und die nachfolgende Kriegsgefangenschaft dem Gutachten des Sachverständigen P nicht zu folgen. Damit hat das LSG. aber entgegen den Ausführungen des Beklagten auch das Lebensalter des Verstorbenen bei der Beurteilung der Lebensaussichten berücksichtigt. Da ein Verstoß gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze ebenfalls nicht erkennbar ist, liegt eine Verletzung des § 128 SGG nicht vor; das BSG. ist daher nach § 163 SGG an die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts gebunden.
Die Klägerin begehrt vom Beklagten Witwenrente nach § 38 Abs. 1 BVG. Nach dieser Vorschrift hat die Witwe einen Rentenanspruch, wenn ein Beschädigter an den Folgen einer Schädigung im Sinne des § 1 BVG gestorben ist. Hierbei gilt der Tod des Beschädigten stets dann als Folge einer Schädigung, wenn er an einem Leiden stirbt, das als Folge einer Schädigung anerkannt und für das ihm im Zeitpunkt des Todes Rente zuerkannt war. Die Ansicht des LSG., die Tatbestandsvoraussetzungen des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG seien erfüllt, ist entgegen der Meinung der Revision frei von Rechtsirrtum.
Nach dieser Vorschrift kommt es nicht darauf an, ob der Tod tatsächlich Folge einer Schädigung im Sinne des § 1 BVG ist; diese Anspruchsvoraussetzung gilt vielmehr dann nach unwiderleglicher Rechtsvermutung als erfüllt, wenn das Leiden, das zum Tode geführt hat, auch das Leiden ist, das für die Zuerkennung der Rente bestimmend gewesen ist. Diese Rechtsvermutung bezieht sich mithin auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen einer anerkannten Schädigung und dem Tod des Beschädigten, wie der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 25. November 1958 - 10 RV 1063/57 - (Breith. 1959 S. 448) ausgeführt hat. Sie gilt stets, aber auch nur dann, wenn ein Leiden, für das dem Beschädigten im Zeitpunkt seines Todes Rente zuerkannt war, den Tod verursacht hat. Diese Frage ist nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung unter Berücksichtigung der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätsnorm zu beantworten (vgl. RVGer. Bd 12 S. 260 Nr. 75; BSG. Bd 7 S. 53 (56)). Es ist also in einem die Versorgung von Hinterbliebenen betreffenden Verfahren in jedem einzelnen Falle zu prüfen, ob der Tod des Beschädigten mit der anerkannten Schädigung in ursächlichem Zusammenhang steht. Auf der einen Seite besteht zu Gunsten der Hinterbliebenen keine Rechtsvermutung, daß der Tod mit dem anerkannten Leiden ursächlich zusammenhängt (RVGer. Bd 10 S. 127, Bd 12 S. 260, BSG. Bd 7 S. 53 (57)). Es ist daher auch in den Fällen, in denen ein Leiden im Sinne der Verschlimmerung als Schädigungsfolge mit einer MdE. um mehr als 50 v.H. anerkannt war, jeweils zu prüfen, ob diese Verschlimmerung für den Tod des Versorgungsberechtigten ursächlich geworden ist (BSG. Bd 6 S. 87, Bd 7 S. 53). Auf der anderen Seite ist aber eine als Schädigungsfolge anerkannte Verschlimmerung nicht nur dann als den weiteren Verlauf des Leidens bestimmend (richtunggebend) anzusehen, wenn die als Schädigungsfolge anerkannte Verschlimmerung mit einer MdE. bewertet worden ist, die einem hohen Anteil an dem gesamten Leidenszustand entspricht. Es ist daher nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung jeweils zu prüfen, ob die Verschlimmerung eines Leidens, die als Schädigungsfolge anerkannt und für die dem Beschädigten eine Rente gewährt worden war, den weiteren Verlauf des Leidens so bestimmt hat, daß sie Ursache des Todes des Beschädigten war, wie es das LSG. im vorliegenden Falle zutreffend getan hat.
Bei dieser Prüfung hat das LSG. die vom Beklagten ohne Erfolg angegriffene Feststellung getroffen, daß die als Schädigungsfolge anerkannte Verschlimmerung des Herz- und Kreislaufleidens, für die der Verstorbene nach den bindenden Feststellungen des LSG. Versorgungsrente bezogen hat, insofern ursächlich für den Tod gewesen ist, als dadurch der Tod um ein Jahr früher herbeigeführt worden ist, als er ohne die Verschlimmerung eingetreten wäre. Hierbei hat das LSG. die im Versorgungsrecht geltende Kausalitätsnorm zutreffend angewendet. Die Beschleunigung des Todes durch eine Schädigung ist dann als wesentlich anzusehen, wenn der Tod ohne die Schädigung wahrscheinlich erst etwa ein Jahr später eingetreten wäre (vgl. Komm. von Reichsversorgungsbeamten zum Reichsversorgungsgesetz 1929, S. 33 Nr. 41; RVA. in EuM. Bd 15 S. 98 (für das Gebiet der Unfallversicherung); BSG. Bd 2 S. 265 (271)). Das LSG. hat hiernach ohne Rechtsirrtum festgestellt, daß der Ehemann der Klägerin an einem Leiden gestorben ist, das als Folge einer Schädigung anerkannt und für das ihm im Zeitpunkt des Todes Rente zuerkannt war. Die Voraussetzungen des § 38 Abs. 1 SGG für die Gewährung einer Witwenrente an die Klägerin sind somit erfüllt. Die Revision des Beklagten war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen