Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachversicherung bei späterem Verlust der Versorgung

 

Orientierungssatz

Seit dem Inkrafttreten der Nachversicherungsregelung in den Neuregelungsgesetzen entsteht nicht nur mit dem Ausscheiden aus der versicherungsfreien Beschäftigung ohne Versorgung ein Anspruch auf Nachversicherung, sondern ebenso beim späteren Verlust der Versorgung, sofern nur die sonstigen Voraussetzungen der Nachversicherung erfüllt sind. In diesen Fällen tritt insoweit, als im Gesetz die sonstigen Voraussetzungen und die Durchführung der Nachversicherung an den Zeitpunkt des Ausscheidens geknüpft sind, an die Stelle dieses Zeitpunkts der Zeitpunkt des Verlustes der Versorgungsbezüge (vgl BSG 1965-11-24 11/1 RA 166/62 = BSGE 24, 106).

 

Normenkette

AVG § 9; RVO § 1232

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 17.10.1962)

SG Köln (Entscheidung vom 21.06.1961)

 

Tenor

Die Urteile des Sozialgerichts Köln vom 21. Juni 1961 und des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 17. Oktober 1962 sowie die Bescheide der Beklagten vom 26. Juli 1959 und vom 26. Oktober 1959 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger und der Beigeladenen einen neuen Bescheid über die Nachversicherung des Klägers zu erteilen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten; im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger, geboren am 16. Juni 1908, war Bundesbahn-Oberzugführer und Beamter auf Lebenszeit. Er wurde zum 31. Januar 1955 wegen Dienstunfähigkeit (mit Ruhegehalt) in den Ruhestand versetzt. Wegen einer Verfehlung aus dem Jahre 1949 - der Kläger hatte als damaliger Hilfszugführer im Lohnverhältnis einen Radioapparat aus einem Packwagen entwendet - wurde gegen den Kläger auf eine Anzeige seiner geschiedenen Ehefrau gegen Ende 1954 ermittelt. Das Strafverfahren wurde wegen Verjährung eingestellt. Auch das Disziplinarverfahren wurde zunächst eingestellt, jedoch später neu eröffnet, weil bei der Einstellung rechtsirrtümlich die Fortsetzung des früheren Beamtenverhältnisses des Klägers über den 8. Mai 1945 hinaus verneint worden sei. Durch Urteil der Bundesdisziplinarkammer in Düsseldorf vom 16. April 1957 wurde der Kläger mit einer Kürzung seines Ruhegehaltes um 10 v. H. auf die Dauer von zwei Jahren bestraft. Auf die Berufung des Bundesdisziplinaranwalts wurde durch Urteil des Bundesdisziplinarhofes vom 29. April 1958 dem Kläger das Ruhegehalt wegen Dienstvergehens aberkannt. In dem Urteil wird ausgeführt, daß der Kläger als eines Unterhaltsbeitrages würdig anzusehen sei; ein Unterhaltsbeitrag wurde jedoch nicht bewilligt, weil der Kläger noch erwerbstätig sein könne.

Im Juni 1959 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Nachversicherung für die Zeit, in der er als Beamter versicherungsfrei beschäftigt war. Die Beklagte lehnte die Nachversicherung ab, weil der Kläger bei seinem Ausscheiden aus der versicherungsfreien Beschäftigung noch einen Anspruch auf beamtenrechtliche Versorgung gehabt und seine Versorgung erst später verloren habe; eine Nachversicherungspflicht bestehe deshalb nicht (Bescheid vom 26. Juli 1959 und Widerspruchsbescheid vom 26. Oktober 1959). Auch die Bundesbahn, der frühere Dienstherr des Klägers, von dem die Leistung der Nachversicherungsbeiträge begehrt wird, vertrat diese Auffassung. Mit der Klage machte der Kläger geltend, die Nachversicherung sei zu Unrecht abgelehnt worden; es könne für die Nachversicherung keinen Unterschied machen, ob ein Beamter bereits ohne Versorgungsanspruch ausscheide oder erst als Ruhestandsbeamter die bereits gewährte beamtenrechtliche Versorgung verliere; eine unterschiedliche Behandlung der aktiven Beamten und der Ruhestandsbeamten in bezug auf die soziale Sicherung bei Wegfall der beamtenrechtlichen Versorgung verstoße gegen Art. 3 des Grundgesetzes (GG).

Das Sozialgericht (SG) Köln lud die Deutsche Bundesbahn zum Verfahren bei. Es wies die Klage mit Urteil vom 21. Juni 1961 ab.

Die Berufung des Klägers wies das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 17. Oktober 1962 zurück. Die Frage, ob der Kläger nachzuversichern sei, müsse nach dem Nachversicherungsrecht zur Zeit des Ausscheidens des Klägers aus der versicherungsfreien Beschäftigung im Jahre 1955 beurteilt werden, also nach §§ 1 Abs. 6 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), 1242 a der Reichsversicherungsordnung (RVO), beide in der Fassung der 1. Vereinfachungsverordnung (VereinfVO) vom 17. März 1945. Danach sei nur nachzuversichern, wer ohne Versorgungsanspruch aus der versicherungsfreien Beschäftigung ausgeschieden sei; das sei aber beim Kläger nicht der Fall; der spätere Verlust der Versorgung begründe keine Nachversicherungspflicht (so auch Reichsversicherungsamt - RVA - in AN 1938, 53). An dieser Rechtslage hätten die Rentenversicherungsneuregelungs-Gesetze vom Jahre 1957 nichts geändert. Der jetzt maßgebende § 9 AVG (idF vor dem Rentenversicherungs-Änderungsgesetz - RVÄndG - vom 9. Juni 1965) sehe ebenfalls nur das "unversorgte Ausscheiden" aus der versicherungsfreien Beschäftigung als Nachversicherungsfall an. Wie früher komme es wegen der Versorgung allein auf die Verhältnisse im Zeitpunkt des Ausscheidens aus der versicherungsfreien Beschäftigung an; spätere Änderungen müßten unberücksichtigt bleiben. Durch den Ausschluß der Ruhestandsbeamten von der Nachversicherung sei der Art. 3 GG nicht verletzt.

Das LSG ließ die Revision zu.

Der Kläger legte fristgemäß und formgerecht Revision ein.

Er beantragte,

die Entscheidung der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn für die Zeit seiner versicherungsfreien Beschäftigung als Beamter nachzuversichern.

Der Kläger führte dazu aus, das LSG habe § 9 AVG (idF vor dem RVÄndG vom 9. Juni 1965) unrichtig angewandt; nach Sinn und Zweck der Nachversicherungsregelung durch die Rentenversicherungsneuregelungs-Gesetze seien auch Ruhestandsbeamte, die ihre Versorgung verlieren, nachzuversichern; eine unterschiedliche Behandlung von aktiven Beamten, die ohne beamtenrechtliche Versorgung aus der Beschäftigung ausscheiden, und von Ruhestandsbeamten, die ihre Versorgung später verlieren, sei nicht gerechtfertigt und verstoße gegen Art. 3 GG, weil in beiden Fällen das gleiche Bedürfnis für eine soziale Sicherung durch die Sozialversicherung bestehe.

Die Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beigeladene schloß sich diesem Antrag an.

II

Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist auch begründet.

Streitig ist, ob der Kläger für die Zeit seiner versicherungsfreien Beschäftigung als Beamter (bis 31. Januar 1955) nachzuversichern ist. Der Kläger ist zwar mit der Versetzung in den Ruhestand am 31. Januar 1955 nicht ohne beamtenrechtliche Versorgung aus der versicherungsfreien Beschäftigung ausgeschieden, er hat diese Versorgung aber später verloren, weil ihm das Urteil des Bundesdisziplinarhofes vom 29. April 1958 das Ruhegehalt aberkannt hat. Der hier vorliegende Sachverhalt wird weder von dem Wortlaut der zur Zeit des Ausscheidens des Klägers geltenden Vorschriften über die Nachversicherung (§ 1 Abs. 6 AVG iVm § 1242 a RVO, beide idF der 1. VereinfVO vom 17. März 1945) noch von dem Wortlaut des seit 1. März 1957 geltenden § 9 AVG (idF vor dem RVÄndG vom 9. Juni 1965) erfaßt (Art. 3 § 7 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - AnVNG -); nach diesen Vorschriften entsteht eine Nachversicherungspflicht nur, wenn im Zeitpunkt des Ausscheidens keine beamtenrechtliche Versorgung gewährt wird.

Der Senat hat jedoch in seinem Urteil vom 24. November 1965, 11/1 RA 166/62, entschieden, daß die Nachversicherungsregelung der Neuregelungsgesetze nach ihrem erkennbaren Sinn und Zweck auch die Fälle als Nachversicherungsfälle einschließt, in denen (nach dem Inkrafttreten der Nachversicherungsregelung der Neuregelungsgesetze - 1. März 1957 -) die beamtenrechtliche Versorgung nach dem Ausscheiden wegfällt; insoweit sei eine berichtigende Auslegung des § 9 AVG (idF vor dem RVÄndG vom 9. Juni 1965) geboten, weil der Gesetzeswortlaut den erkennbaren Sinngehalt nur unvollkommen wiedergebe. Der Senat hat ausgeführt, die Nachversicherungsregelung der Neuregelungsgesetze habe das Ziel, die Grundgedanken der Nachversicherung voll zu verwirklichen und ein vollkommenes System der sozialen Sicherung für Personen zu schaffen, die wegen der Aussicht auf beamtenrechtliche Versorgung zunächst versicherungsfrei sind, dann aber doch keine Versorgung erhalten und deshalb des Schutzes der Sozialversicherung bedürfen; das Gesetz folge auch insoweit dem allgemeinen Grundgedanken, allen abhängig Beschäftigten eine ihrem Arbeitsleben entsprechende soziale Sicherung ihres Alters und ihrer Hinterbliebenen zu verschaffen und sie so zu stellen, daß sie auch nach dem Ausscheiden aus dem Beschäftigungsverhältnis in ihrem Lebenskreis verbleiben können und vor dem sozialen Abstieg bewahrt bleiben. Der Senat hat hervorgehoben, daß die neue Nachversicherungsregelung erkennbar das Schutzbedürfnis, das durch den Ausfall der beamtenrechtlichen Versorgung entsteht, als entscheidend für die Notwendigkeit der Nachversicherung angesehen habe; das Bestreben, dem Schutzgedanken umfassende Geltung zu verschaffen, verlange aber, daß sowohl der Grund als auch der Zeitpunkt des Wegfalls der beamtenrechtlichen Versorgung unbeachtlich bleiben müssen; es könne nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber dem Zeitpunkt des Ausscheidens aus der versicherungsfreien Beschäftigung in dem Sinne habe Bedeutung beimessen wollen, daß nur die Fälle des Fehlens der beamtenrechtlichen Versorgung beim Ausscheiden für die Nachversicherung in Betracht kommen sollen, obwohl in den Fällen des späteren Wegfalls der Versorgung das gleiche Schutzbedürfnis für eine soziale Sicherung durch die gesetzliche Rentenversicherung bestehe; es könne auch nicht unterstellt werden, daß das Gesetz die soziale Sicherung von Zufälligkeiten habe abhängig machen wollen; solche seien häufig dafür entscheidend, ob es vor dem Ausscheiden oder später zum Verlust des Versorgungsanspruchs oder der Versorgung komme. Der Senat hat ferner dargelegt, aus der Entstehungsgeschichte der Neuregelungsgesetze sei nicht zu schließen, daß bei der Schaffung des Gesetzes die Frage der Nachversicherung in den Fällen des Wegfalls der Versorgung nach dem Ausscheiden zwar erwogen, dann aber im Sinne der Rechtsprechung des RVA zu dem früheren Recht (AN 1938 IV S. 53) geregelt worden sei; es sei vielmehr anzunehmen, daß man damals übersehen habe, den Wortlaut des Gesetzes dem klaren Sinngehalt der neuen Nachversicherungsregelung anzupassen. Das RVÄndG vom 9. Juni 1965 habe insoweit, als es durch Art. 1 § 2 Nr. 8 Buchst. b den § 9 AVG ergänzt habe, kein neues Recht geschaffen, es habe nur den Sinngehalt, den schon die Nachversicherungsregelung der Neuregelungsgesetze gehabt habe, verdeutlicht und Zweifel beseitigt; den Übergangsvorschriften des RVÄndG (Art. 5 § 10 Buchst. a und Buchst. e) widerspreche es nicht, daß § 9 AVG (idF vor dem RVÄndG) auch schon für die Zeit von dem Inkrafttreten der Nachversicherungsregelung in den Neuregelungsgesetzen (1. März 1957) an so ausgelegt werde, wie dies dem jetzt ergänzten Gesetzeswortlaut entspreche.

Der Senat verbleibt bei dieser Rechtsauffassung. Danach entsteht seit dem Inkrafttreten der Nachversicherungsregelung in den Neuregelungsgesetzen nicht nur mit dem Ausscheiden aus der versicherungsfreien Beschäftigung ohne Versorgung ein Anspruch auf Nachversicherung, sondern ebenso beim späteren Verlust der Versorgung, sofern nur die sonstigen Voraussetzungen der Nachversicherung erfüllt sind. In diesen Fällen tritt insoweit, als im Gesetz die sonstigen Voraussetzungen und die Durchführung der Nachversicherung an den Zeitpunkt des Ausscheidens geknüpft sind, an die Stelle dieses Zeitpunktes der Zeitpunkt des Verlustes der Versorgungsbezüge (vgl. auch § 124 Abs. 1 AVG, idF des RVÄndG). Die Voraussetzungen der Nachversicherung sind danach im vorliegenden Fall gegeben; der Kläger, der seine Versorgungsbezüge im April 1958, also nach dem Inkrafttreten der Nachversicherungsregelung der Neuregelungsgesetze verloren hat, ist nachzuversichern; dabei sind die Vorschriften des RVÄndG entsprechend anzuwenden.

Da das LSG die Rechtslage unzutreffend beurteilt hat, ist die Revision begründet. Die Entscheidungen der Vorinstanzen sind aufzuheben; der Klage ist stattzugeben; die Beklagte hat dem Kläger und der Beigeladenen einen neuen Bescheid über die Nachversicherung zu erteilen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2379810

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