Entscheidungsstichwort (Thema)

Notwendige Beiladung. Verfahrensmangel

 

Orientierungssatz

1. Das Unterlassen einer notwendigen Beiladung nach SGG § 75 Abs 2 Alt 1 ist bei einer zulässigen Revision auch ohne Rüge eines Beteiligten - von Amts wegen - als Verfahrensmangel zu beachten (vgl BSG 1974-03-12 2 S 1/74 = SozR 1500 § 75 Nr 1).

2. Die Entscheidung darüber, welcher der beteiligten Versicherungsträger einem Verletzten gegenüber leistungspflichtig ist, greift unmittelbar in die Rechtssphäre der Verletzten ein (so auch 1976-10-28 BSG 8 RU 8/76 = SozR 1500 § 55 Nr 4).

 

Normenkette

SGG § 75 Abs. 2 Alt. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 30.05.1974; Aktenzeichen L 10a Ua 598/72)

SG Stuttgart (Entscheidung vom 17.03.1972; Aktenzeichen S 12b U 1685/71)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. Mai 1974 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Friseuse Gerda H (H.) erlitt am 11. August 1970 einen Unfall auf der Fahrt von ihrem Wohnort nach R, wo sie - als Bewerberin um eine Fahrerlaubnis ("Führerschein") - an einem vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) turnusmäßig angesetzten Lehrgang in "Sofortmaßnahmen am Unfallort" teilnehmen wollte. H. war beim DRK weder beruflich noch ehrenamtlich tätig.

Der Kläger (Land Baden-Württemberg) ging davon aus, daß Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 8 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bestanden und demnach ein Arbeitsunfall vorgelegen habe. Er bewilligte vorläufige Fürsorge nach § 1735 RVO, hielt jedoch die Beklagte (Bundesrepublik Deutschland) für den zuständigen Versicherungsträger. Diese verneinte dem Kläger gegenüber ihre Zuständigkeit; die Voraussetzungen eines entschädigungspflichtigen Arbeitsunfalls hielt sie ebenfalls für gegeben.

Der Kläger hat Klage auf Feststellung erhoben, daß die Beklagte der für die Entschädigung des Arbeitsunfalls der H. vom 11. August 1970 zuständige Versicherungsträger sei. Nach seiner Auffassung ergibt sich die Zuständigkeit der Beklagten aus § 653 Abs. 1 Nr. 4 RVO; zu den dort angeführten "verwandten Tätigkeitsgebieten" des DRK gehörten auch Lehrgänge und Ausbildungsveranstaltungen, in denen die nach § 539 Abs. 1 Nr. 8 RVO versicherten Führerscheinbewerber, ohne Mitglieder oder Angehörige des DRK zu sein, ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Teilnahme an einem Erst-Hilfe-Kursus nachkämen.

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 17. März 1972 die Klage abgewiesen: Das DRK sei in Fällen der vorliegenden Art nur eines aus der Zahl von Unternehmen zur Hilfe bei Unglücksfällen, für die nach § 655 Abs. 2 Nr. 1 RVO das Land - folglich hier der Kläger - Träger der Versicherung sei. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers durch Urteil vom 30. Mai 1974 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Zutreffend seien die Beteiligten davon ausgegangen, daß die Verletzte H. nach § 539 Abs. 1 Nr. 8 RVO gegen Arbeitsunfall versichert gewesen sei. § 653 Abs. 1 Nr. 4 RVO begründe die Zuständigkeit der Beklagten nur für Versicherte, die langfristig (zB Vorstände) oder kurzfristig (zB Bereitschaftsdienst Leistende) für das DRK tätig seien, nicht jedoch für diejenigen, die wie die Verletzte ihrerseits die Dienste des DRK in Anspruch nähmen. Diese Auffassung teile auch der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Die Feststellungsklage sei demnach abzuweisen. Eine Entscheidung darüber, wer anstelle der Beklagten zuständig sei, verbinde sich mit diesem Urteil nicht. Das LSG hat angedeutet, nach seiner Auffassung sei auch bei Anwendung des § 655 Abs. 2 Nr. 1 RVO (Zuständigkeit des Landes für Unternehmen zur Hilfe bei Unglücksfällen) wie bei § 653 Abs. 1 Nr. 4 RVO zu unterscheiden, ob Personen für das Unternehmen tätig geworden seien oder es für eigene Zwecke in Anspruch nehmen wollten. Ob sich die Zuständigkeit des Landes in solchen Fällen aus § 655 Abs. 2 Nr. 1 RVO ergeben könnte oder ob möglicherweise Parallelen zur Versicherung der Lebensretter (§ 539 Abs. 1 Nr. 9 RVO) bestünden, sei nicht zu entscheiden. Das LSG hat die Verletzte nicht beigeladen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision vertritt der Kläger weiterhin die Auffassung, die Beklagte sei für die Entschädigung zuständig.

Er beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und festzustellen, daß die Beklagte der für die Entschädigung zuständige Versicherungsträger sei.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im wesentlichen für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision des Klägers hat Erfolg.

Das angefochtene Urteil muß aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, weil die Verletzte H. nicht zu dem Verfahren beigeladen worden ist (§ 75 Abs. 2 Alternative 1 SGG).

Das Unterlassen einer notwendigen Beiladung nach § 75 Abs. 2 Alternative 1 SGG ist bei einer zulässigen Revision auch ohne Rüge eines Beteiligten - von Amts wegen - als Verfahrensmangel zu beachten (Beschluß des erkennenden Senats vom 12. März 1974 in SozR 1500 § 75 Nr. 1 unter Aufgabe der abweichenden früheren Rechtsprechung). Die Beiladung ist nach der angeführten Vorschrift notwendig, wenn an dem streitigen Rechtsverhältnis Dritte derart beteiligt sind, daß die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Diese Voraussetzung ist gegeben, wenn die in dem Rechtsstreit zu erwartende Entscheidung über das streitige Rechtsverhältnis zugleich in die Rechtssphäre eines Dritten unmittelbar eingreift (vgl. BSGE 11, 262, 265; 15, 127, 128; 17, 139, 143; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-8. Aufl., S. 234 w VI mit weiteren Nachweisen). Die Entscheidung im anhängigen Rechtsstreit darüber, welcher der beteiligten Versicherungsträger letztlich der Verletzten gegenüber leistungspflichtig ist, greift unmittelbar in die Rechtssphäre der Verletzten ein (so auch der 8. Senat des BSG im Urteil vom 28. Oktober 1976 - 8 RU 8/76 -).

Mit der Klage auf Feststellung des zuständigen Versicherungsträgers verfolgt der Kläger das Ziel, von der Leistung vorläufiger Fürsorge (§ 1735 RVO) freigestellt zu werden und die endgültige Entschädigungspflicht der Beklagten gegenüber der Verletzten H. verbindlich feststellen zu lassen. Die Entscheidung darüber, welcher der beteiligten Versicherungsträger zuständig ist, der Verletzten also Entschädigung für die Folgen ihres Arbeitsunfalls zu leisten hat, kann im Verhältnis der Versicherungsträger untereinander sowie auch der Verletzten gegenüber nur einheitlich ergehen. Die Beiladung der Verletzten ist somit im Sinne des § 75 Abs. 2 Alternative 1 SGG notwendig.

Im Revisionsverfahren ist die Beiladung nicht zulässig (§ 168 SGG). Das auf dem Verfahrensfehler beruhende Urteil des LSG muß daher aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden, damit die Beiladung nachgeholt werden kann.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659196

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?