Entscheidungsstichwort (Thema)
Notwendige Beiladung. Verfahrensmangel
Orientierungssatz
1. Das Unterlassen einer notwendigen Beiladung nach SGG § 75 Abs 2 Alt 1 ist bei einer zulässigen Revision auch ohne Rüge eines Beteiligten - von Amts wegen - als Verfahrensmangel zu beachten (vgl BSG 1974-03-12 2 S 1/74 = SozR 1500 § 75 Nr 1).
2. Die Entscheidung darüber, welcher der beteiligten Versicherungsträger einem Verletzten gegenüber leistungspflichtig ist, greift unmittelbar in die Rechtssphäre des Verletzten ein (so auch BSG 1976-10-28 8 RU 8/76 = SozR 1500 § 55 Nr 4).
Normenkette
SGG § 75 Abs. 2 Alt. 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 11.03.1975; Aktenzeichen L 3 U 143/74) |
SG München (Entscheidung vom 22.02.1974; Aktenzeichen S 18 U 332/73) |
Tenor
Auf die Revision des Beigeladenen wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. März 1975 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Arbeiter Kurt G (G.) geriet am 20. April 1971 beim Fällen von Bäumen in eine Motorsäge und erlitt dabei schwere Verletzungen am rechten Bein. Er war einem Arbeitskollegen behilflich, der von einem Gutsbesitzer Holz am Stamm als Bauholz für sein Familienheim gekauft hatte.
Nachdem sowohl die Beklagte (Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft Oberbayern) als auch der Beigeladene (Bayerischer Gemeindeunfallversicherungsverband - GUV -) ihre Zuständigkeit verneint hatten, gewährte die Klägerin (Bayerische Bau-BG) dem Verletzten gemäß § 1735 der Reichsversicherungsordnung (RVO) als vorläufige Fürsorge eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 v. H.
Im März 1973 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht (SG) München erhoben mit dem Antrag festzustellen, daß die Beklagte der für die Entschädigung des Unfalles zuständige Versicherungsträger sei. Nach ihrer Ansicht ist das Fällen, Ausschneiden und Wegschaffen der Bäume eine für einen forstwirtschaftlichen Betrieb typische Tätigkeit. Wenn ein Versicherungsschutz für Selbsthilfearbeiten nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO in Betracht komme, sei der Beigeladene für die Entschädigung zuständig.
Durch Urteil vom 22. Februar 1974 hat das SG festgestellt, daß die Beklagte die Folgen des Unfalles zu entschädigen habe. G. habe einen Arbeitsunfall im forstwirtschaftlichen Unternehmen erlitten. Die Voraussetzungen des § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO seien nicht gegeben, weil das Fällen von einzelnen Bäumen aus einem Wald keine allgemein übliche Tätigkeit des Baugewerbes und damit auch keine Selbsthilfe beim Bau, sondern eine typische forstwirtschaftliche Tätigkeit sei.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und festgestellt, daß der Beigeladene zuständiger Versicherungsträger ist (Urteil vom 11. März 1975). Nach seiner Auffassung ist das Bäumefällen im vorliegenden Fall anders als sonst im allgemeinen nicht als sogenannte Aberntung im Forstbetrieb zu werten, weil das Fällen wirtschaftlich nicht angezeigt oder notwendig gewesen sei. Die unfallbringende Tätigkeit des Verletzten sei vielmehr als Beschaffung von Baumaterial dem Familienheimbau zuzurechnen.
Der Verletzte ist zu dem Verfahren nicht beigeladen worden.
Der Beigeladene hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er macht geltend: Stehendes Holz im Wald lasse sich auch bei extensiver Auslegung nicht als Baumaterial bezeichnen. Das Fällen von Bäumen sei stets dem forstwirtschaftlichen Betrieb zuzurechnen, bis der Holzlagerplatz erreicht sei; die beabsichtigte Verwendung des Holzes sei für die Zuständigkeit des Versicherungsträgers ohne Bedeutung. Entscheidend sei, daß die Arbeiten ihrer Art nach und hinsichtlich der damit verbundenen Gefahren für das forstwirtschaftliche Unternehmen kennzeichnend seien. Die Rechtssicherheit verlange, das Fällen von Bäumen als einen Akt der Aberntung stets dem Waldeigentümer zuzurechnen, weil sonst für eine solche Tätigkeit bei Selbsthilfearbeiten, die nicht alle Voraussetzungen des § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO erfüllten, kein Versicherungsschutz gegeben sei.
Er beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils festzustellen, daß die Beklagte der für die Entschädigung zuständige Versicherungsträger ist.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils festzustellen, daß die Beklagte der für die Entschädigung zuständige Versicherungsträger ist,
hilfsweise festzustellen,
daß der Beigeladene zuständig ist.
Die Klägerin schließt sich der Auffassung des Beigeladenen an, nach der das Fällen der Bäume als Aberntung dem forstwirtschaftlichen Betrieb zuzurechnen ist. Folge man dieser Ansicht nicht, könne es sich nur um einen Unfall bei einer Selbsthilfetätigkeit handeln, für den der Beigeladene gem. §§ 539 Abs. 1 Nr. 15, 657 Abs. 1 Nr. 8 RVO der zuständige Versicherungsträger sei.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision des beigeladenen GUV hat Erfolg. Das angefochtene Urteil muß aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, weil der Verletzte G. nicht zu dem Verfahren beigeladen worden ist (§ 75 Abs. 2 Alternative 1 SGG).
Das Unterlassen einer notwendigen Beiladung nach § 75 Abs. 2 Alternative 1 SGG ist bei einer zulässigen Revision auch ohne Rüge eines Beteiligten - von Amts wegen - als Verfahrensmangel zu beachten (Beschluß des erkennenden Senats vom 12. März 1974 in SozR 1500 § 75 Nr. 1 unter Aufgabe der abweichenden früheren Rechtsprechung). Die Beiladung ist nach der angeführten Vorschrift notwendig, wenn an dem streitigen Rechtsverhältnis Dritte derart beteiligt sind, daß die Entscheidung auch ihnen gegenüber nur einheitlich ergehen kann. Diese Voraussetzung ist gegeben, wenn die in dem Rechtsstreit zu erwartende Entscheidung über das streitige Rechtsverhältnis zugleich in die Rechtssphäre eines Dritten unmittelbar eingreift (vgl. BSGE 11, 262, 265; 15, 127, 128; 17, 139, 143; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 8. Aufl., S. 234 w VI mit weiteren Nachweisen). Die Entscheidung im anhängigen Rechtsstreit darüber, welcher der beteiligten Versicherungsträger letztlich dem Verletzten gegenüber leistungspflichtig ist, greift unmittelbar in die Rechtssphäre des Verletzten ein (so auch der 8. Senat des Bundessozialgerichts - BSG - im Urteil vom 28. Oktober 1976 - 8 RU 8/76 -).
Mit der Klage auf Feststellung des zuständigen Versicherungsträgers verfolgt die Bayerische Bau-Berufsgenossenschaft das Ziel, künftig von der Leistung vorläufiger Fürsorge (§ 1735 RVO) freigestellt zu werden und die endgültige Entschädigungspflicht der Beklagten oder des Beigeladenen gegenüber dem Verletzten verbindlich feststellen zu lassen. Die Entscheidung darüber, welcher der beteiligten Versicherungsträger zuständig ist, dem Verletzten also Entschädigung für die Folgen seines Arbeitsunfalls zu leisten hat, kann im Verhältnis der Versicherungsträger untereinander sowie auch dem Verletzten gegenüber nur einheitlich ergehen. Die Beiladung des Verletzten ist somit i. S. des § 75 Abs. 2 Alternative 1 SGG notwendig.
Im Revisionsverfahren ist die Beiladung nicht zulässig (§ 168 SGG). Das auf dem Verfahrensfehler beruhende Urteil des LSG muß daher aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden, damit die Beiladung nachgeholt werden kann.
Fundstellen