Leitsatz (amtlich)
Die einjährige Strafhaft eines Soldaten auf Grund eines Kriegsgerichtsurteils ist keine Ersatzzeit nach RVO § 1251 Abs 1 Nr 1.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 20. August 1970 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte bei der dem Kläger seit dem 1. Dezember 1967 gewährten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit die Zeit von November 1940 bis Oktober 1941, in der der Kläger als Militärgefangener in Strafanstalten eine Freiheitsstrafe verbüßt hat, als Ersatzzeit anzurechnen hat.
Der Kläger, der seit August/September 1939 Soldat war, ist am 28. September 1940 durch das Kriegsgericht der 58. Infanteriedivision zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt worden, die er als Militärgefangener zum Teil von November 1940 bis Oktober 1941 in den Strafanstalten H und B verbüßt hat. Nach einer Bescheinigung der Baubehörde H ist der Kläger wegen seiner Verurteilung aus dem Beamtenverhältnis, in das er am 20. April 1938 als Betriebsassistent aufgenommen worden war, ausgeschieden. Im Rechtsstreit hat die Beklagte die Kriegsdienstzeiten des Klägers vom 1. September 1939 bis zum 31. Oktober 1940 und vom 1. Februar 1942 bis zum 4. September 1946 als Ersatzzeiten anerkannt, nicht aber die streitige Zeit der Strafverbüßung. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, diese Zeit rentensteigernd als Ersatzzeit anzurechnen (Urteil vom 9. September 1969). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG geändert und die Klage abgewiesen. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 20. August 1970).
Der Kläger hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Er rügt Verletzung des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 20. August 1970 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 9. September 1969 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Das LSG hat zu Recht entschieden, daß die Zeit vom 1. November 1940 bis zum 31. Oktober 1941, in der der Kläger zur Verbüßung einer vom Kriegsgericht der 58. Infanteriedivision gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe in den Strafanstalten Hermersheim und Bruchsal war, keine Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO ist. Wie das Berufungsgericht im Ergebnis zutreffend erkannt hat, ist die streitige Zeit keine Zeit des militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), der während eines Krieges geleistet worden ist, - die übrigen Ersatzzeitfälle des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO kommen hier nach Lage des Falles ohnehin nicht in Betracht - gewesen. Das ergibt bereits eine die gesamten Ersatzzeitengeschehnisse des § 1251 Abs. 1 RVO umfassende übergreifende Betrachtung von Sinn und Zweck der Ersatzzeitregelung. Die in § 1251 Abs. 1 RVO genannten Ersatzzeiten sollen als Zeiten ohne Beitragsleistung (§ 1250 Abs. 1 Nr. 2 RVO) unterbliebene Beitragszeiten ausgleichen. Das Gesetz hat solche Zeiten im Auge, in denen der Versicherte wegen der besonderen im Gesetz festgelegten Tatbestände regelmäßig daran gehindert war, eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit auszuüben und in denen deshalb für ihn keine Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden sind (vgl. BSG SozR RVO § 1251 Nr. 7; 8; BSG 23, 89 = SozR RVO § 1251 Nr. 12; Nr. 21 und 42). Die vom Gesetz in § 1251 Abs. 1 RVO zum Ausgang genommenen Tatbestände sind sämtlich außergewöhnlicher Art: Militärischer oder militärähnlicher Dienst im Sinne der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes, der auf Grund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist, deutscher Minenräumdienst nach dem 8. Mai 1945, Kriegsgefangenschaft (Nr. 1); Internierung oder Verschleppung von Heimkehrern im Sinne des § 1 des Heimkehrergesetzes (Nr. 2); der Nichtkriegsteilnehmer wird während oder nach Beendigung eines Krieges durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus dem Ausland oder aus den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten verhindert oder dort festgehalten (Nr. 3); Freiheitsentziehung im Sinne des § 43 des Bundesentschädigungsgesetzes; Verfolgungsmaßnahmen im Sinne dieses Gesetzes; Auslandsaufenthalt bis zum 31. Dezember 1949 eines Verfolgten im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (Nr. 4); Gewahrsam einer Person im Sinne des § 1 des Häftlingshilfegesetzes (Nr. 5); Vertreibung, Flucht, Umsiedlung oder Aussiedlung einer Person im Sinne der §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes (Nr. 6).
Diese außergewöhnlichen Umstände gehen sämtlich auf Eingriffe von hoher Hand zurück, denen sich der Versicherte regelmäßig nicht zu entziehen vermochte. Sie beeinträchtigten einschneidend schicksalhaft das Leben der davon Betroffenen und brachten ihn ohne sein Zutun und seinen Willen in eine Opferlage, die auch dafür ursächlich war, daß Beiträge zur Rentenversicherung nicht entrichtet wurden. Die die fehlenden Beitragszeiten ausgleichende Ersatzzeitregelung mißt dem von hoher Hand verfügten, nicht in der Sphäre des Betroffenen liegenden Eingriff die entscheidende Bedeutung zu. Sie versagt aber, wenn der Beitragsausfall aus der Sphäre des Betroffenen kommt und insofern atypisch ist. Das ist z.B. bei längerem Arbeits- oder Studienurlaub eines Soldaten der Fall; solche Zeiten sind keine Ersatzzeiten (vgl. Koch/Hartmann/von Altrock/Fürst, AVG, Band IV, § 28 Anm. 2a)). Das ist auch insbesondere hier so:
Daß die Zeit der Strafverbüßung allein der Sphäre des Klägers zuzurechnen ist, kann nach den von der Revision unangefochten gelassenen und daher das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) nicht zweifelhaft sein. Danach hat der Kläger vom 1. November 1940 bis 31. Oktober 1941 in den Strafanstalten Hermersheim und Bruchsal eine von einem Kriegsgericht gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe verbüßt. Wenn sich auch der dieser Bestrafung zugrunde liegende Straftatbestand nicht hat feststellen lassen, geht doch die Bestrafung, was die Revision nicht anzweifelt, allein auf ein Verhalten des Klägers zurück. Damit entfällt die Möglichkeit, die in der Zeit der einjährigen Strafhaft unterbliebenen Beitragsleistungen ausgleichend als Ersatzzeiten gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO dem Kläger gutzubringen. Etwas anderes hätte nur dann angenommen werden können, wenn sich hätte feststellen lassen, daß die Strafe als solche oder das Strafmaß, weil überzogen, Unrecht gewesen wären, wofür hier aber nichts spricht. Auch fehlt jeder Anhalt dafür, daß der Kläger, wenn er nicht Soldat gewesen wäre, nicht oder nicht im festgestellten Umfang bestraft worden wäre.
Zu demselben Ergebnis ist das Berufungsgericht auf einem anderen Wege gelangt: Es hat sich maßgeblich davon leiten lassen, daß § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO als Ersatzzeiten u.a. nur solche Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 BVG gelten läßt, der während eines Krieges geleistet worden ist. Es hat sein Augenmerk darauf gerichtet, ob der Kläger in der streitigen Zeit einen derartigen Dienst tatsächlich geleistet hat. Solange das tatsächliche Verhalten des Versicherten nicht durch die ihm als Soldaten obliegenden Pflichten bestimmt werde, leiste er keinen militärischen Dienst im Sinne des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO. Es sei ein wesentlicher Unterschied, ob die Beitragszahlung durch geleisteten militärischen Dienst oder durch eine Freiheitsstrafe unterbrochen werde. Zeiten der Strafhaft seien im allgemeinen keine Versicherungszeiten. Nur unter besonderen Voraussetzungen gewähre § 1251 Abs. 1 RVO einen Ausgleich für die durch den Verlust der persönlichen Freiheit entstandenen versicherungsrechtlichen Nachteile: bei Kriegsgefangenschaft (Nr. 1), Internierung oder Verschleppung wegen deutscher Volkszugehörigkeit oder Zugehörigkeit zur Deutschen Wehrmacht (Nr. 2), Freiheitsentziehung wegen politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus, aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung (Nr. 4) und Gewahrsam wegen Gegnerschaft zu den Zonenmachthabern (Nr. 5). In allen Fällen komme es auf den Grund der Freiheitsentziehung an, nicht aber auf die Art und Weise ihres Vollzuges und schon gar nicht auf den rechtlichen Status der Inhaftierung. Für unerheblich hat es das Berufungsgericht erklärt, ob die Freiheit aufgrund strafgerichtlicher Verurteilung oder ohne Gerichtsverfahren entzogen worden sei, so daß es versicherungsrechtlich bedeutungslos sei, daß der Kläger durch ein Kriegsgericht verurteilt worden sei. Freiheitsentziehung durch Freiheitsstrafe könne grundsätzlich nicht mit militärischem Dienst zusammenfallen.
Diesem Gedankengang des Berufungsgerichts, der darin gipfelt, daß der tatsächlichen Gestaltung des Falles die maßgebliche Bedeutung beigemessen wird, kann entgegen der Auffassung der Revision gefolgt werden. Wie auch immer der militärische Dienst eines Soldaten im einzelnen während des 2. Weltkrieges umschrieben werden mag, jedenfalls fällt die Zeit der Verbüßung einer von einem Kriegsgericht verhängten Freiheitsstrafe von einem Jahr nicht darunter.
All dem kann noch die weitere, das Ergebnis gleichfalls stützende Überlegung angefügt werden: Wenn auch die Ursachenreihe zwischen dem Ersatzzeitentstehungsgrund - hier dem Kriegsdienst - bis zur Wirkung der unterbliebenen Beitragsleistung regelmäßig nicht in allen Zwischengliedern aufzuweisen ist und insofern der von einer Opferlage Betroffene beweismäßig günstig gestellt ist, ist der am Anfang der Ursachenreihe stehende Entstehungsgrund als solcher jedoch nachzuweisen. Dies hat bereits der 4. Senat in seinem Urteil vom 5. August 1970 - 4 RJ 79/70 - (SozR RVO § 1251 Nr. 48 Blatt Aa 46 Rückseite) betont, indem er den Entstehungsgrund als "ein real nachzuweisendes, insbesondere zeitlich näher zu bestimmendes Geschehen (Kriegsdienst, Kriegsgefangenschaft, Verschleppung, Freiheitsentziehung, Vertreibung)" genannt hat. Auch nach dieser zusätzlichen Erwägung hat das LSG Recht daran getan, zu prüfen und festzustellen, ob der die Strafe verbüßende Kläger gleichzeitig Kriegsdienst geleistet hat, was aber zu verneinen war.
Gegenüber den beiden Begründungen, von denen die erste auf den übergreifenden Sinn und Zweck der Ersatzzeitregelung des § 1251 Abs. 1 RVO, die zweite darauf abhebt, daß der Kläger in der Zeit der Strafverbüßung keinen militärischen Dienst geleistet hat, vermögen die Angriffe der Revision nicht durchzudringen. Selbst wenn der Kläger, wie dies die Revision vorträgt, während der Strafverbüßung weiterhin Soldat geblieben sein sollte, genügt dies nicht, um die Zeit der Strafverbüßung als Ersatzzeit zu behandeln. Wenn auch offen bleiben kann, wie dies schon ausgeführt worden ist, was im einzelnen einer militärischen Dienstleistung während des 2. Weltkrieges zuzuordnen ist, gehört jedenfalls die Verbüßung einer Freiheitsstrafe - wie hier - nicht dazu. Entgegen der Auffassung der Revision kann die Zeit einer solchen Strafverbüßung nicht gleichgestellt werden mit Dienstunterbrechungen durch gewöhnlichen Urlaub, Lazarettaufenthalte wegen Verwundungen oder Krankheiten, die der Annahme einer Ersatzzeit gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO regelmäßig nicht entgegenstehen. Sie hat ihre Ursache allein in der Sphäre des Klägers, weil sein - wenngleich nicht näher bekanntes - Verhalten zur Bestrafung und darauf folgender Strafverbüßung geführt hat. Ohne Einfluß auf das Ergebnis ist auch, daß der Kläger während der Verbüßung der Freiheitsstrafe im wesentlichen zivile Arbeiten ausgeführt haben will. Die Art des Strafvollzuges ändert nichts daran, daß die Strafverbüßung als solche, wie bereits dargetan, nur in der Sphäre des Klägers liegt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen