Orientierungssatz
Die Erledigung eines Ablehnungsgesuchs zählt nicht zu den unaufschiebbaren Amtshandlungen (ZPO § 47). Eine Mitwirkung des abgelehnten Richters bei der Entscheidung über das Ablehnungsgesuch ist daher auch dann grundsätzlich nicht zulässig, wenn das Gericht durch das Ausscheiden des abgelehnten Mitglieds in seiner Regelbesetzung beschlußunfähig wird.
Seine Mitwirkung ist ausnahmsweise nur dann zulässig, wenn es sich um ein mißbräuchliches, schlechthin unzulässiges oder aus Verschleppungsabsicht gestelltes Ablehnungsgesuch handelt.
Normenkette
ZPO § 45 Abs. 2, § 47
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 23. Januar 1975 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Kläger ist als Inhaber des Bauunternehmens "H" in M Mitglied der Beklagten.
Am 20. Dezember 1968 stürzte ein acht Tage vorher nach Anweisung des Klägers angefertigtes Regendach aus Stahlbeton (Kragplatte) über der Eingangstüre des Anwesens K-straße ... in M beim Ausschalen herab und erschlug den Hilfsarbeiter B.
Nach Durchführung der Unfalluntersuchung durch den technischen Aufsichtsbeamten, Bekanntgabe der festgestellten Fehler bei der Bauausführung an den Kläger und Eingang einer Stellungnahme des Klägers hierzu setzte die Beklagte mit Bescheid vom 21. Mai 1969 gegen den Kläger eine Ordnungsstrafe in Höhe von DM 500,- wegen grobfahrlässiger Verfehlungen gegen die §§ 4 u. 22 der Unfallverhütungsvorschriften - Hauptausgabe - sowie gegen Nr. 19 der Unfallverhütungsvorschrift "Gerüste" fest.
Dem Widerspruch des Klägers vom 22. Mai 1969 half die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11. März 1970 nicht ab.
Die mit Schriftsatz vom 16./20. März 1970 erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) München mit Urteil vom 10. Oktober 1972 abgewiesen. Hiergegen hat der Kläger mit Schriftsatz vom 21./22. Februar 1973 Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt. In der mündlichen Verhandlung am 5. Dezember 1974 hat das LSG einen Antrag des Klägers auf Ablehnung des Vorsitzenden des Senats wegen Befangenheit, der gestellt worden war, nachdem der Senatsvorsitzende geäußert hatte, der Kläger habe beim Strafgericht hinsichtlich des Freispruchs insofern Glück gehabt, als bei Beachtung der einschlägigen und zwingenden Vorschriften der Reichsversicherungsordnung möglicherweise ein anderes Urteil herausgekommen wäre, mit Beschluß unter Mitwirkung des Senatsvorsitzenden zurückgewiesen. Den nach Verkündung dieses Beschlusses vom Kläger auch auf die beiden beisitzenden Berufsrichter des Senats ausgedehnten Ablehnungsantrag hat sodann das LSG mit Beschluß vom 16. Dezember 1974 in der Besetzung des gleichen Senatsvorsitzenden und beider abgelehnter Berufsrichter ebenfalls zurückgewiesen. Mit Urteil vom 23. Januar 1975 hat das LSG - wiederum unter Mitwirkung der gleichen Berufsrichter - die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde vom 24./26. März 1975 hat der erkennende Senat mit Beschluß vom 19. Juni 1975 - 8 BU 20/75 - die Revision gegen das Urteil des LSG gemäß § 160 a Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zugelassen. Auf die Begründung wird verwiesen.
Mit Schriftsatz vom 30. Juni/2. Juli 1975 hat der Kläger die Revision eingelegt und sie mit Schriftsatz vom 5./7. August 1975 begründet. Er rügt die Verletzung des § 60 SGG i. V. m. §§ 42 ff der Zivilprozeßordnung (ZPO) und des § 103 SGG. Im wesentlichen macht er geltend, daß der Vorsitzende des 11. Senats des LSG bei der Entscheidung über das gegen ihn gerichtete Ablehnungsgesuch nicht habe mitwirken dürfen. Das LSG hätte in ordnungsgemäßer Besetzung überprüfen müssen, ob durch die Äußerung des Senatsvorsitzenden beim Kläger der Eindruck der Befangenheit habe erweckt werden können. Das Ablehnungsgesuch könne nicht als Ausdruck einer Verschleppungsabsicht gewertet werden. Der Beschluß über das mit dem ersten Ablehnungsgesuch in innerem Zusammenhang stehende zweite Ablehnungsgesuch sei ebenfalls in unzulässiger Besetzung zustande gekommen. Über beide Befangenheitsanträge sei unter Mitwirkung "der Beteiligten selbst" entschieden worden. Das LSG habe auch von Amts wegen den Sachverhalt nicht sachgerecht erforscht und den begründeten Beweisanträgen des Klägers nicht stattgegeben.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen LSG vom 23. Januar 1975 aufzuheben und den Rechtsstreit zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das LSG - an einen anderen als den 11. Senat - zu verweisen.
Die Beklagte beantragt ebenfalls,
das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision des Klägers hatte Erfolg; das angefochtene Urteil war aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der vom Kläger gerügte Verfahrensverstoß gegen § 60 (Abs. 1) SGG liegt vor. Der Vorsitzende des 11. Senats des LSG durfte bei der Entscheidung über das gegen ihn gerichtete erste Ablehnungsgesuch nicht mitwirken. Daß in § 60 Abs. 1 SGG nicht auf § 45 Abs. 1 ZPO verwiesen wird, läßt einen gegenteiligen Schluß nicht zu. Diese Vorschrift konnte schon wegen des von der ZPO abweichenden Instanzenaufbaus der Sozialgerichtsbarkeit nicht Platz greifen. Folgerichtig ist daher in § 60 Abs. 1 Satz 2 SGG vorgeschrieben, daß über die Ablehnung außer im Falle des § 171 SGG das LSG durch Beschluß entscheidet. Wenn der Gesetzeswortlaut nun auch nicht ausdrücklich vorschreibt, was - wie in § 45 Abs. 1 Halbsatz 2 ZPO vorgesehen - zu geschehen hat, wenn das Gericht durch Ausscheiden des abgelehnten Mitglieds beschlußunfähig wird, so kann doch hieraus nicht - wie das LSG offenbar meint - gefolgert werden, daß ein abgelehntes Mitglied eines Richterkollegiums stets dann an der Entscheidung über das Ablehnungsgesuch mitwirken darf, wenn ansonsten das Gericht in seiner Regelbesetzung beschlußunfähig würde. Daß mit der Ablehnung der Abgelehnte in der Sache bis zur Entscheidung über die Ablehnung ausscheidet (vgl. Baumbach-Lauterbach u. a., Komm. zur ZPO, 32. Aufl. Anm. 1 zu § 45 ZPO), ergibt sich schon aus dem Grundgedanken der Unparteilichkeit des Richteramts, das vom Vertrauen der Rechtsuchenden getragen sein muß. Diesem Grundgedanken entspricht der im § 60 Abs. 1 SGG ausdrücklich in Bezug genommene § 47 ZPO, wonach ein abgelehnter Richter vor Erledigung des Ablehnungsgesuches nur solche Handlungen vorzunehmen hat, die keinen Aufschub gestatten. Es wäre geradezu widersinnig und käme einer Aushöhlung der Vorschrift gleich, wollte man die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch selbst und damit seine Erledigung zu den unaufschiebbaren und daher statthaften Handlungen zählen. Eine Mitwirkung des Abgelehnten ist zwar ausnahmsweise dann zulässig, wenn es sich um ein mißbräuchliches, schlechthin unzulässiges oder aus Verschleppungsabsicht gestelltes Ablehnungsgesuch handelt (vgl. BSG, Breithaupt 1966, 354; Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl. Anm. 3 zu § 60 SGG, S. 186/6-1, 186/7 und Anm. 5 zu § 60 SGG S. 186/10). Diese Voraussetzungen liegen aber bei dem vom Kläger am 5. Dezember 1974 gestellten Antrag nicht vor. Dem Antrag war die o. a. Äußerung des Senatsvorsitzenden vorausgegangen, die der Kläger bzw. sein Bevollmächtigter subjektiv durchaus so auffassen konnte, daß beim Vorsitzenden hinsichtlich des Ausgangs des Strafverfahrens, das von ihm sachlich nicht zu überprüfen war, eine ihm ungünstige vorgefaßte Meinung bestand; damit konnte er auf eine Befangenheit schließen. Wenn er daraufhin einen Ablehnungsantrag stellte, so kann hierin kein Mißbrauch dieses Rechts erblickt werden. Unter diesen Umständen läßt sich auch ein unmittelbarer Zusammenhang mit früheren Säumnissen des klägerischen Bevollmächtigten (verspätete Vorlage von Schriftsätzen) nicht erkennen und feststellen, daß der Ablehnungsantrag in Verschleppungsabsicht gestellt wurde. Für das mit dem ersten Gesuch in innerem Zusammenhang stehende zweite Ablehnungsgesuch, über das das LSG mit Beschluß vom 16. Dezember 1974 wiederum unter Mitwirkung abgelehnter Richter entschieden hat, gilt im wesentlichen das gleiche.
Da sonach über die Ablehnungsgesuche des Klägers nicht ordnungsgemäß entschieden wurde, leidet das Verfahren des LSG an einem schwerwiegenden Mangel, der zur Folge hatte, daß nicht feststellbar ist, ob das LSG bei Erlaß des angefochtenen Urteils mit den gesetzlichen Richtern besetzt war. Die nicht verfahrensfehlerfrei zustande gekommenen Feststellungen des LSG konnten daher keinen Bestand haben und mußten zusammen mit dem angefochtenen Urteil aufgehoben werden. Ob die vom Kläger gerügte Verletzung der Amtsermittlungspflicht gemäß § 103 SGG vorliegt, konnte dahingestellt bleiben. Da mangels verwertbarer tatsächlicher Feststellungen das BSG in der Sache selbst nicht entscheiden kann, mußte die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Dem Antrag des Klägers auf Zurückverweisung an einen anderen als an den 11. Senat des LSG war jedoch nicht zu entsprechen. Dabei kann dahinstehen, ob eine solche Möglichkeit im SGG (im Gegensatz zu § 565 Abs. 1 Satz 2 ZPO stets und schlechthin ausscheidet. Denn es ist zu erwarten, daß der Senat, der an die Rechtsauffassung des Revisionsgerichts gebunden ist, nunmehr, nachdem die Sache gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an ihn zurückverwiesen ist, ohnedies nicht in der gleichen Besetzung entscheiden wird.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Die Entscheidung konnte gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung ergehen, da sich beide Beteiligte hiermit einverstanden erklärt haben.
Fundstellen