Leitsatz (redaktionell)
1. Der Versorgungsanspruch umfaßt nicht nur die Feststellung der einzelnen Leiden, auf die der Beschädigte den Anspruch stützt, und die Bewilligung von Rente wegen dieser Leiden; dieser Anspruch ist vielmehr bei sachgemäßer Würdigung des Begehrens des Beschädigten stets darauf gerichtet, daß alle Leiden, die Schädigungsfolgen sind, festgestellt werden (vergleiche BSG 1959-01-21 11/8 RV 181/57 = BSGE 9, 80 und Haueisen, NJW 1954, 657, 698); es kommt nicht darauf an, mit welchem Leiden der Anspruch begründet wird und ob die Verwaltungsbehörde im Bescheid diesen Anspruch erschöpfend geregelt hat.
Deshalb sind die Gerichte, wenn sie über die Rechtmäßigkeit eines Bescheides der Verwaltungsbehörde zu entscheiden haben, nicht an den Rahmen gebunden, den die Verwaltungsbehörde bei der Entscheidung eingehalten hat; sie greifen damit nicht in die Zuständigkeit der Verwaltungsbehörde ein, denn die Verwaltungsbehörde hat in derartigen Fällen bereits eine "Regelung" getroffen, diese Regelung ist aber möglicherweise nicht erschöpfend gewesen.
2. Für die Frage, ob eine Änderung in den Verhältnissen eingetreten ist, kommt es nicht darauf an, ob eine Änderung in den Schädigungsfolgen eingetreten ist, die bereits anerkannt gewesen sind; vielmehr sind "Verhältnisse, die für die Feststellung maßgebend gewesen sind", alle tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen, die zu dem früheren Bescheid geführt haben.
Die tatsächlichen Voraussetzungen und damit auch die rechtlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf Rente können sich auch dadurch ändern, daß nach Erteilung eines Rentenbewilligungsbescheides neue Leiden aufgetreten sind, die bisher nicht als Schädigungsfolgen festgestellt sind. Der Kläger darf solche Leiden auch noch während des gerichtlichen Verfahrens geltend machen, er darf seinen Klageantrag erweitern (SGG § 99 Abs 3), er darf auch Gründe, die seinen Anspruch auf eine höhere Rente nach seiner Meinung rechtfertigen, nachschieben (vergleiche BSG 1958-02-11 10 RV 657/56 = BSGE 6, 297 und BSG 1961-01-18 11 RV 1020/60). Um eine Klageänderung handelt es sich dabei nicht (SGG § 99 Abs 3 Nr 1 und 2).
3. Hat das SG einen Neufeststellungsbescheid nach BVG § 62 aufgehoben und die Klage hinsichtlich einer neu geltend gemachten Schädigungsfolge aus sachlichen Gründen abgewiesen, dann muß das LSG den Streitfall in gleichem Umfange prüfen wie das SG. Es darf die Sache zur Entscheidung über die Anerkennung der neuen Schädigungsfolge nicht an die Verwaltungsbehörde zurückverweisen und einen Antrag nach SGG § 109 wegen der behaupteten neuen Schädigungsfolge nicht als unerheblich ansehen.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, § 62 Fassung: 1950-12-20; SGG § 99 Abs. 3 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 109 Fassung: 1953-09-03, § 54 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. Januar 1961 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger bezog wegen einer am 5. Februar 1945 erlittenen Verwundung seit dem 1. August 1947 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v.H.; als Schädigungsfolgen waren "Narben am linken Unterschenkel, Bewegungseinschränkung am linken Knie und Fußgelenk nach Schußverletzung; Bewegungseinschränkung am rechten Hüftgelenk nach Quetschung" festgestellt (anerkannt). Durch Bescheid vom 8. Dezember 1951 (Umanerkennung) wurde wegen derselben Leiden auch nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) Rente nach einer MdE um 40 v.H. weitergewährt. Auf Grund einer Nachuntersuchung setzte das Versorgungsamt (VersorgA) mit Bescheid vom 10. September 1957 die Rente vom 1. November 1957 an auf 30 v.H. herab, da eine Behinderung des linken Sprunggelenks und eine Bewegungseinschränkung in den Hüftgelenken nicht mehr bestehe; die Leiden wurden dabei neu bezeichnet. Der Widerspruch blieb erfolglos. Mit seiner Klage begehrte der Kläger Anerkennung der Schädigungsfolgen wie bisher, außerdem aber auch die Anerkennung von Wirbelsäulenveränderungen als Schädigungsfolge mit einer Gesamt-MdE um 70 v.H. Das Sozialgericht (SG) Marburg änderte durch Urteil vom 11. November 1959 den Bescheid vom 10. September 1957 und den Widerspruchsbescheid ab; es verurteilte den Beklagten, auch weiterhin die Bewegungseinschränkung des rechten Hüftgelenks mit chronisch deformierenden Hüftgelenksveränderungen rechts als Schädigungsfolge anzuerkennen und die Rente nach einer MdE um 40 v.H. weiterzugewähren; im übrigen wies es die Klage ab, weil die Wirbelsäulenveränderungen nicht auf Schädigungen im Sinne des BVG zurückzuführen seien. Im Berufungsverfahren verfolgte der Kläger sein Begehren weiter, soweit ihm das SG nicht entsprochen hatte, und stellte den Antrag, nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Prof. Dr. K... in W... als Sachverständigen über die Ursache der Wirbelsäulenveränderungen zu hören. Das Hessische Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung zurück (Urteil vom 18.1.1961). Zur Begründung führte es aus, der Kläger habe mit der Anfechtungsklage die Aufhebung des Bescheids vom 10. September 1957 begehrt, diesem Begehren habe das SG entsprochen, damit habe sich "wegen des Grundsatzes der Gewaltentrennung grundsätzlich die Möglichkeit weiterer rechtsprechender Tätigkeit" erschöpft; einen Antrag auf Anerkennung der Wirbelsäulenveränderungen als Schädigungsfolge habe der Kläger bisher bei der Versorgungsverwaltung nicht gestellt, so daß darüber im Verwaltungswege noch nicht entschieden sei. Wenn er die Anerkennung dieser Änderung der Verhältnisse im Wege der Klage begehre, so handele es sich um eine Klageänderung, auf die sich der Beklagte nicht eingelassen habe und die auch nicht sachdienlich sei. Der Kläger könne seinen weitergehenden Anspruch auf dem "gesetzlich vorgeschriebenen Weg" erheben. Das SG habe zwar über das neue Vorbringen des Klägers Beweis erhoben, es habe sich aber nicht dazu geäußert, warum es die "Klageänderung zugelassen habe". Da die "Klageänderung" unzulässig gewesen sei, habe das SG jedenfalls im Ergebnis zu Recht insoweit die Klage abgewiesen. Der Antrag des Klägers, nach § 109 SGG wegen der Wirbelsäulenveränderungen noch einen Gutachter zu hören, sei unter diesen Umständen nicht erheblich und daher abzulehnen.
Gegen das am 26. Januar 1961 zugestellte Urteil legte der Kläger am 10. Februar 1961 Revision ein und begründete sie gleichzeitig. Er trug vor, mit Rücksicht auf die Einheitlichkeit des Versorgungsanspruchs habe das LSG auch über das neu geltend gemachte Leiden entscheiden müssen. Eine Klageänderung liege insoweit nicht vor. Selbst wenn man aber eine solche annehmen wolle, so sei sie zulässig, weil sich der Beklagte vorbehaltlos darauf eingelassen habe; zum mindesten sei sie aber sachdienlich gewesen. Das LSG sei daher verpflichtet gewesen, auf den gemäß § 109 SGG gestellten Antrag einzugehen.
Der Kläger beantragte,
das Urteil des Hessischen LSG vom 28. Januar 1961 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Der Beklagte stellte keinen Antrag.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; der Kläger rügt zu Recht, das Verfahren des LSG leide an wesentlichen Mängeln.
Gegenstand des Rechtsstreits ist nicht nur die Frage gewesen, ob der Bescheid des Beklagten vom 10. September 1957, der eine teilweise Rücknahme des Bescheides vom 8. Dezember 1951 enthalten hat, rechtmäßig ist, sondern auch die Frage, ob bei dem Kläger noch weitere Schädigungsfolgen, nämlich Wirbelsäulenveränderungen, vorliegen und deshalb Anspruch auf eine höhere Rente besteht. Der Kläger hat sich gegen den Bescheid vom 10. September 1957 nicht nur deshalb gewandt, weil sich die tatsächlichen Verhältnisse gegenüber dem früheren Bescheid nach seiner Meinung nicht gebessert haben, er hat auch geltend gemacht, daß bei ihm ein weiteres, bisher nicht anerkanntes Leiden vorliege, das eine höhere Rente rechtfertige. Über diese Anträge hat das SG zu entscheiden gehabt, es hat zu Recht das Begehren des Klägers auch insoweit geprüft, als es sich um die Anerkennung der Wirbelsäulenveränderungen "als Spätschaden" gehandelt hat. Das LSG ist zu Unrecht der Meinung gewesen, diese Frage habe deshalb nicht geprüft werden dürfen, weil über die "Anerkennung" der Wirbelsäulenveränderungen in den Bescheiden des Beklagten noch nicht entschieden gewesen sei. Der Bescheid des Beklagten vom 10. September 1957 ist nicht nur dann rechtswidrig, wenn er die Rente des Klägers deshalb zu Unrecht teilweise entzogen hat, weil eine Besserung der anerkannten Schäden nicht vorgelegen hat, er ist es auch dann, wenn nach Erteilung des Bescheids vom 8. Dezember 1951 weitere Gesundheitsstörungen aufgetreten sind, die ebenfalls Schädigungsfolgen darstellen und möglicherweise die Rente nicht nur in der bisherigen Höhe rechtfertigen, sondern zu einer Erhöhung der Rente führen. Der Versorgungsanspruch umfaßt nicht nur die Feststellung der einzelnen Leiden, auf die der Beschädigte den Anspruch stützt, und die Bewilligung von Rente wegen dieser Leiden; dieser Anspruch ist vielmehr bei sachgemäßer Würdigung des Begehrens des Klägers stets darauf gerichtet, daß alle Leiden, die Schädigungsfolgen sind, festgestellt werden (vgl. BSG 9, 80; Haueisen, NJW 1954, 657, 698); es kommt nicht darauf an, mit welchen Leiden der Anspruch begründet wird und ob der Beklagte in dem angefochtenen Bescheid diesen Anspruch erschöpfend geregelt hat. Deshalb sind auch die Gerichte, wenn sie über die Rechtmäßigkeit eines Bescheids der Versorgungsverwaltung zu entscheiden haben, nicht an den Rahmen gebunden, den die Verwaltung bei der Entscheidung eingehalten hat; sie greifen damit nicht, wie das LSG meint, in die Zuständigkeit der Verwaltung ein, denn die Verwaltung hat in derartigen Fällen bereits eine "Regelung" getroffen, diese Regelung ist aber möglicherweise nicht erschöpfend gewesen.
Für die Frage, ob eine Änderung in den Verhältnissen eingetreten ist, ist es deshalb nicht nur darauf angekommen, ob eine Änderung in den Schädigungsfolgen eingetreten ist, die bereits anerkannt gewesen sind. Vielmehr sind "Verhältnisse, die für die Feststellung maßgebend gewesen sind", alle tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen, die zu dem früheren Bescheid geführt haben. Die tatsächlichen Voraussetzungen und damit auch die rechtlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf Rente können sich auch dadurch ändern, daß nach Erteilung eines Rentenbewilligungsbescheids neue Leiden aufgetreten sind, die bisher nicht als Schädigungsfolgen festgestellt sind. Der Kläger darf solche Leiden auch noch während des gerichtlichen Verfahrens geltend machen, er darf seinen Klageantrag erweitern (§ 99 Abs. 3 SGG), er darf auch Gründe, die seinen Anspruch auf eine höhere Rente nach seiner Meinung rechtfertigen, nachschieben (vgl. BSG 6, 297; Urteil des Senats vom 18.1.1961 - 11 RV 1020/60 -). Um eine Klageänderung handelt es sich dabei nicht (§ 99 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGG).
Das SG hat der Klage insoweit stattgegeben, als sie die Aufhebung des Bescheids vom 10. September 1957 betroffen hat; es hat die Klage abgewiesen, soweit der Kläger ein weiteres Leiden als Schädigungsfolge geltend gemacht und eine höhere Rente begehrt hat. Auf die Berufung des Klägers hat das LSG den Streitfall in gleichem Umfange zu prüfen gehabt, wie dies - zu Recht - das SG getan hat (§ 157 Satz 1 SGG). Es hat daher auch auf die Frage, ob die Wirbelsäulenveränderungen Schädigungsfolgen sind, eingehen müssen und es hat dem Antrag des Klägers, den von ihm bestimmten Arzt zu der Frage des Zusammenhanges der Wirbelsäulenveränderungen zu hören, stattgeben müssen (§ 109 Abs. 1 SGG). Tatsachen, die die Ablehnung dieses Antrags nach § 109 Abs. 2 SGG rechtfertigen können, hat das LSG nicht festgestellt.
Da das LSG den Streitfall nicht in vollem Umfange geprüft hat, hat es gegen § 157 Satz 1 SGG verstoßen; es hat, wenn es den Antrag, Prof. Dr. K... nach § 109 SGG zu hören, als "nicht erheblich" abgelehnt hat, auch gegen § 109 SGG verstoßen. Der Kläger hat dies zu Recht gerügt. Die Revision, die der Kläger frist- und formgerecht eingelegt hat, ist damit zulässig. Sie ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG bei der Entscheidung darüber, ob der Bescheid vom 10. September 1957 rechtmäßig ist, zu einem anderen Ergebnis kommt, wenn es über die Frage, ob die Wirbelsäulenveränderungen Schädigungen im Sinne des BVG sind, weitere Ermittlungen anstellt. Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben. Der Senat kann, da die tatsächlichen Feststellungen des LSG unvollständig sind, nicht selbst entscheiden; die Sache ist deshalb zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen