Entscheidungsstichwort (Thema)

Besonderes berufliches Betroffensein Zugunstenbescheid nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Herbeiführung der Spruchreife

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Bestätigung einer Verwaltungsentscheidung durch ein rechtskräftiges sozialgerichtliches Urteil steht einer nochmaligen Prüfung der Angelegenheit zugunsten des Berechtigten nicht entgegen.

2. Ist die MdE im Wege der Berichtigung rückwirkend höher zu bewerten, dann kann die berufliche Betroffenheit nicht deshalb außer acht gelassen werden, weil der Kläger bereits vor der Antragstellung aus schädigungsunabhängigen Gründen aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist.

3. Ein wegen Nichtbeachtung des beruflichen Betroffenseins (hier: besonderer Energieaufwand nach BVG § 30 Abs 2 S 2 Buchst b), bereits im Zeitpunkt seines Erlasses (hier: 1951) unrichtiger Bescheid, muß auch dann nach KOVVfG § 40 Abs 1 - und zwar nicht nur für die Vergangenheit - berücksichtigt werden, wenn der während der Ausübung seines Berufes besonders betroffene Beschädigte aus schädigungsunabhängigen Gründen aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist (1973) und den Antrag erst danach (1975) gestellt hat.

 

Orientierungssatz

1. Zur Frage, ob Entscheidungen, mit denen ein besonderes berufliches Betroffensein verneint worden ist, noch nach dem Ausscheiden des Beschädigten aus dem Erwerbsleben im Zugunstenwege (KOVVfG § 40 Abs 1) zu berichtigen sind.

2. Am Resultat einer schädigungsbedingten beruflichen Behinderung ändert sich nicht deshalb etwas, weil sie später von einer anderen Ursache - Krankheit oder Überschreiten einer Altersstufe - ohnehin hervorgerufen wäre (vgl BSG vom 1961-04-25 11 RV 1340/60 = BSGE 14, 172, 176 und vom 1972-07-28 8 RV 65/72 = SozR Nr 60 zu § 30 BVG). Für die rechtliche Betrachtung ist nach der im Versorgungsrecht vertretenen Ursachentheorie grundsätzlich die Sachlage maßgebend, die sich unmittelbar nach der Schädigung zeigte (vgl BSG vom 1973-04-25 10 RV 294/72 = BSGE 36, 23). Anders ist es nur im Fall der wesentlichen Änderung der Verhältnisse (BVG § 62 Abs 1), insbesondere, wenn die eingetretenen und anerkannten besonderen Berufsnachteile später wieder ausgeglichen werden (vgl BSG vom 1973-05-24 10 RV 294/72 = BSGE 36, 24).

3. Durch SGG § 131 Abs 2, § 103 S 1, § 123 ist dem Tatsachenrichter die Pflicht auferlegt, den Sachverhalt zu ermitteln und festzustellen, der für die Entscheidung über das Klagebegehren erheblich ist. Die Pflicht zur Erfassung des entscheidungserheblichen Sachverhalts folgt daraus, daß ein angefochtener Verwaltungsakt nur aufgehoben werden darf, wenn und soweit er rechtswidrig ist. Begnügt sich das LSG lediglich mit der Feststellung, die MdE sei wenigstens um 10 vH höher als geschehen einzuschätzen, so ist darin eine unzulässige Zurückverweisung der Sache an die Verwaltung zu erblicken (vgl auch BSG vom 1978-02-09 9 RV 24/77), denn bei dieser Entscheidung bleibe es der Behörde überlassen, die - endgültige - Entscheidung zu einem Merkmal strikten Rechts erst noch herbeizuführen.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1971-12-16; KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27; SGG § 103 S. 1 Fassung: 1974-07-30, § 123 Fassung: 1953-09-03, § 131 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; BVG § 62 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1966-12-28, § 30 Abs. 2 S. 2 Buchst. b

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 07.07.1977; Aktenzeichen L 11 V 74/76)

SG Berlin (Entscheidung vom 13.08.1976; Aktenzeichen S 47 V 90/76)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 7. Juli 1977 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Es ist darüber zu befinden, ob Entscheidungen, mit denen eine besondere berufliche Betroffenheit verneint worden ist, noch nach dem Ausscheiden des Kriegsbeschädigten aus dem Erwerbsleben zu berichtigen sind (§ 40 Abs 1 KOVVfG).

Der Kläger erlitt 1942 eine Schußverletzung des linken Armes. Als Schädigungsfolgen sind hauptsächlich anerkannt: Lähmung des Speichennerven, geringe Bewegungseinschränkung des linken Ellenbogengelenks und der Unterarmdrehung, geringe Schwellneigung durch Tragen der Radialisschiene sowie Blutumlaufstörungen. Der Kläger ist gelernter Schneider. Im Jahre nach seiner Verwundung (1943) legte er die Meisterprüfung ab. In diesem Handwerk war er von 1945 bis etwa 1970 (genauere Feststellungen fehlen) selbständig tätig. Seine Arbeit erstreckte sich nach seinen eigenen Angaben vornehmlich auf das Zuschneiden und Anprobieren von Maßkleidung. Die Handarbeiten habe hauptsächlich seine Frau verrichtet. Durch eine Schüttellähmung des linken Armes und linken Beines (Parkinson'sche Krankheit) hatte sich sein Gesundheitszustand - unabhängig von der Wehrdienstbeschädigung - verschlechtert. Die durch Schädigungsfolgen iS des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) eingetretene Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) hatte die Versorgungsbehörde (Bescheid vom 8.11.1951) auf 40 vH festgesetzt. Anträge des Klägers, den Grad der MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit anzuheben, hatte die Versorgungsverwaltung wiederholt (1966, 1969) abgelehnt, und zwar zuletzt durch ein rechtskräftig gewordenes sozialgerichtliches Urteil vom 16. Juni 1971 bestätigt. Mit Rücksicht darauf, daß in einem Verfahren über die Feststellung der Versichertenrente des Klägers aus der gesetzlichen Rentenversicherung der ärztliche Referent der zuständigen Landesversicherungsanstalt die Ansicht vertreten hatte, der Kläger sei seit seiner Verwundung im Jahr 1942 wegen der dadurch hervorgerufenen Funktionsbehinderungen seiner linken Hand berufsunfähig, sagte die Versorgungsbehörde die nochmalige Prüfung der Angelegenheit zu, hielt dann aber doch unter Berufung auf die Bindungs- und Rechtskraftwirkung der vorher getroffenen Entscheidungen an ihrem Rechtsstandpunkt fest ("Mitteilung" vom 29.8.1975; Widerspruchsbescheid vom 22.1.1976).

Im Hinblick auf die Unanfechtbarkeit der vorausgegangenen Entscheidungen hat das Sozialgericht (SG) die erhobene Klage "als unzulässig" abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat der Aufhebungsklage stattgegeben. Zunächst hatte der Kläger beantragt, die angefochtenen Verwaltungsakte aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, wegen seiner besonderen beruflichen Betroffenheit einen neuen ("Zugunsten"-)Bescheid zu erteilen. Dem Kläger ging es um eine Höherbewertung seiner Beschädigtenrente auf eine MdE um 60 vH. In der Verhandlung vor dem SG hatte er lediglich den Antrag auf Aufhebung der angegriffenen Verwaltungsakte gestellt. Dieses Klagebegehren hat das Berufungsgericht für begründet gehalten. Der ursprüngliche Bewilligungsbescheid (8.11.1951) sei unrichtig. Der Kläger sei bereits damals als selbständiger Schneidermeister beruflich besonders betroffen gewesen. Die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit hätte mithin um mindestens 10 % höher veranschlagt werden müssen. Dem stehe nicht entgegen, daß der Kläger bei der Erteilung dieses Bescheides und auch noch lange danach seinem Beruf nachgegangen sei. Das sei nur mit besonderem Energieaufwand und nur in Teilbereichen der üblichen Tätigkeiten eines Schneiders möglich gewesen. Die nachträgliche Feststellung der Berufsbetroffenheit durch einen Zugunstenbescheid scheitere im übrigen nicht daran, daß der Kläger bereits aus schädigungsunabhängigen Gründen aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei.

Der Beklagte hat die - zugelassene - Revision eingelegt. Er meint, das LSG habe verkannt, daß von einem gegenwärtigen beruflichen Schaden des Klägers keine Rede sein könne, nachdem er seinen Beruf aufgegeben habe. Das Gegenteil hätte nur angenommen werden können, wenn die in der Vergangenheit liegende Erwerbseinbuße zur Zeit des Antrags auf Neubescheidung noch fortgewirkt hätte, wenn zB deswegen die Altersversorgung beeinträchtigt wäre. Dies treffe indessen nicht zu, weil der Kläger den erlernten Beruf ausgeübt und wirtschaftliche Nachteile dabei nicht gehabt habe.

Der Beklagte beantragt,

die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise:

die Sache an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.

Das Berufungsgericht hat die angefochtenen Verwaltungsakte zutreffend als "Zugunsten"-Bescheide iS des § 40 Abs 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) angesehen, wiewohl darin die Versorgungsverwaltung an ihrem früher eingenommenen Standpunkt festhielt und das Begehren des Klägers auf Neuregelung ablehnte (BSGE 29, 278, 279 f). Daß eine der vorausgegangenen Verwaltungsentscheidungen durch ein rechtskräftiges sozialgerichtliches Urteil bestätigt worden ist, stand der nochmaligen Prüfung der Angelegenheit im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren nicht entgegen (BSG SozR 1500 § 141 Nr 2; 3900 § 40 Nr 3). - Dieser Auffassung hat Schultze-Lock (Mehr Gerechtigkeit durch Abschaffung der Rechtskraft? in: Die Sozialgerichtsbarkeit 1975, 435) widersprochen. Seine Argumente vermögen den Senat jedoch nicht zu überzeugen. Er kritisiert die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im wesentlichen aus Gründen des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrensrechts; darin braucht man nicht einmal geteilter Meinung zu sein. Nur wird Schultze-Lock dem besonderen Sinngehalt der Vorschrift des § 40 Abs 1 KOVVfG - sowie der Tragweite der verwandten Vorschriften der §§ 627 und 1300 Reichsversicherungsordnung (RVO) - nicht gerecht. Diese Rechtsnormen sind auf dem Hintergrund einer langen Tradition des Sozialversicherungs- und Versorgungsrechts zu sehen. Die Befugnis zur Korrektur einer bindenden, ja rechtskräftigen Entscheidung zugunsten des Berechtigten entspricht einem überkommenen allgemeinen Grundsatz dieser Rechtsbereiche (BSGE 36, 120, 122; Reichsversicherungsamt, Amtliche Nachrichten 1930, 59 Nr 3643). Für die Berechtigung zur Änderung von später als unrichtig erkannten Entscheidungen war und ist es gleichgültig, ob die Unanfechtbarkeit solcher Entscheidungen auf der Bindungswirkung eines Verwaltungsakts oder auf der Rechtskraft eines richterlichen Urteils beruht. Der betroffene Staatsbürger wird durch eine früher getroffene falsche Regelung im einen wie im anderen Fall belastet und soll nach dem oa Rechtsgrundsatz von dieser Beschwer freigestellt werden. Daran hat die strenge Trennung der Gewalten mit Einführung einer von der Verwaltung strikt gesonderten Gerichtsbarkeit nichts geändert. Im Gegenteil, der Gesetzgeber hat die einschlägigen Vorschriften sogar zum Teil noch dahin verschärft, daß er die Möglichkeit einer erneuten Prüfung früherer Hoheitsakte nicht dem behördlichen Ermessen überließ, sondern die Verwaltung unter näher festgelegten Umständen zur Kontrolle verpflichtete (§§ 627, 1300 RVO). Dieser vom Gesetzgeber deutlich vorgezeichneten Richtung liefe es zuwider, wenn man Schultze-Lock folgte. Deshalb sieht sich der Senat nicht veranlaßt, die kritisierte Ansicht aufzugeben.

In der Sache selbst hat das Berufungsgericht aufgrund der getroffenen und von dem Beklagten nicht angegriffenen Feststellungen die Bescheide der Versorgungsverwaltung zu Recht beanstandet. Das Verlangen des Klägers nach Berichtigung (§ 40 Abs 1 KOVVfG) ist begründet, weil die ursprüngliche Rentenbewilligung (8.11.1951) unrichtig ist, nämlich die besondere berufliche Betroffenheit des Klägers außer acht gelassen hat. Die Beschwernis auf dem Berufsgebiet hat das LSG darin gesehen, daß der Kläger infolge der Verletzung und Lähmung des linken Armes in der Ausübung wichtiger Aufgaben seines Berufes als Schneidermeister sehr empfindlich beeinträchtigt sei. Infolgedessen habe er dem Beruf nur unter besonderem Energieaufwand nachgehen können (dazu BSGE 13, 20, 22; 36, 21, 24; SozR Nr 60 zu § 30 BVG; Urteil vom 23.11.1977 - 9 RV 12/77 -). Richtig ist auch die Auffassung des Berufungsgerichts, daß der heute § 30 Abs 2 Satz 2 Buchst b BVG unterzuordnende Sachverhalt bereits bei Erlaß des Bescheides vom 8. November 1951 von Gesetzeswegen hätte beachtet werden müssen, und zwar damals gemäß § 30 Abs 1 Satz 1 BVG idF vom 20. Dezember 1950 (BGBl I, 791). Die damalige Gesetzesformulierung ging allerdings weniger als die gegenwärtig geltende Fassung auf Einzelheiten ein. Der heutige Text des Gesetzes drückt aber nur aus, wie der Tatbestand der besonderen beruflichen Betroffenheit schon seinerzeit zu verstehen war (BSGE 13, 20, 22; 15, 208, 209; 33, 73).

Die spezielle Berufsbelastung ist nicht deshalb außer acht zu lassen, weil der Kläger sich inzwischen - seit 1970, jedenfalls seit 1973 - wegen der Parkinson'schen Erkrankung, also wegen Nichtschädigungsfolgen aus dem aktiven Berufsleben hatte zurückziehen müssen. Danach könnte indessen der Kläger 1975, als er die Berichtigung des Bescheides von 1951 beantragte, beruflich nicht mehr beschwert sein. Dennoch mußte die Rentenbewilligung korrigiert werden und dies nicht nur für die Vergangenheit, weil eine solche Korrektur nach § 40 Abs 1 KOVVfG "jederzeit" zu geschehen hat. Der Ursprungsbescheid entsprach nicht der wahren Sachlage; er blieb fehlerhaft so lange, bis er richtiggestellt wurde (BSGE 36, 21, 23). Hinzu kommt, daß der Tatbestand der speziellen Berufsbetroffenheit auch nicht deshalb entfiel, weil der Kläger krankheitshalber jeder Erwerbstätigkeit hatte entsagen müssen (ebenso für den Fall des Zurruhesetzens nach Erreichen der Altersgrenze: BSGE 36, 21, 24 f; SozR 3100 § 62 Nr 8; Urteil vom 23.11.1977 - 9 RV 12/77). Am Resultat einer schädigungsbedingten beruflichen Behinderung ändert sich nicht deshalb etwas, weil sie später von einer anderen Ursache - Krankheit oder Überschreiten einer Altersstufe - ohnehin hervorgerufen wäre (BSGE 14, 172, 176; dazu ferner SozR Nr 60 zu § 30 BVG). Für die rechtliche Betrachtung ist nach der im Versorgungsrecht vertretenen Ursachentheorie grundsätzlich die Sachlage maßgebend, die sich unmittelbar nach der Schädigung zeigte (BSGE 36, 23). Anders ist es nur im Fall der wesentlichen Änderung der Verhältnisse (§ 62 Abs 1 BVG), insbesondere, wenn die eingetretenen und anerkannten besonderen Berufsnachteile später wieder ausgeglichen werden (BSGE 36, 24). Ein Sachverhalt dieser Art ist hier jedoch nicht gegeben.

Von der hier vertretenen Rechtsansicht ist Abweichendes unter der Voraussetzung entschieden worden, daß der Antrag auf Versorgung erstmals nach dem Ende jeder Erwerbsarbeit gestellt worden ist. Dann kann nach BSG SozR 3100 § 30 Nr 22 eine Höherbewertung der MdE wegen besonderen Berufsbetroffenseins nicht allein damit gerechtfertigt werden, daß der Beschädigte seine Berufspflichten nur unter Aufbietung aller Kräfte habe erfüllen können. Vielmehr greife - so heißt es an der angeführten Stelle - der Gesichtspunkt durch, daß nur ein solcher Berufsschaden in Rechnung zu stellen sei, der über die Zeit der Antragstellung hinauswirke oder in dieser Zeit neu entstanden sei; ein ausschließlich in der Vergangenheit liegender Schaden sei nicht auszugleichen. Von dieser Situation unterscheidet sich der Fall des Klägers. Hier ist die MdE im Wege der Berichtigung rückwirkend höher zu bewerten, so wie die Bewilligung eigentlich von vornherein hätte vorgenommen werden sollen. Die nachträgliche Anerkennung ist dann als Besitzstand zu wahren und nicht wieder rückgängig zu machen.

Das Berufungsurteil, dem bis hierher beizupflichten ist, kann jedoch nicht aufrechterhalten werden. Das LSG ist seiner Aufgabe, die Spruchreife der Streitsache herbeizuführen, nicht nachgekommen. Durch § 131 Abs 2, § 103 Satz 1, § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist dem Tatsachenrichter die Pflicht auferlegt, den Sachverhalt zu ermitteln und festzustellen, der für die Entscheidung über das Klagebegehren erheblich ist. Entscheidungserheblich sind alle Tatsachen, von deren Gegebensein es nach der gesetzlichen Tatbestandsbeschreibung abhängt, ob der angefochtene Verwaltungsakt rechtmäßig oder rechtswidrig ist. Die Pflicht zur Erfassung des entscheidungserheblichen Sachverhalts folgt daraus, daß ein angefochtener Verwaltungsakt nur aufgehoben werden darf, wenn und soweit er rechtswidrig ist. Dies gilt gleichermaßen für die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Verwaltungsakts, mit dem die Behörde von ihrem Ermessen Gebrauch macht, wie von einer behördlichen Regelung, welche ganz oder zum Teil auf zwingendem Recht beruht (BSG Urteil vom 24.11.1977 - 9 RV 64/76 -; 9.2.1978 - 9 RV 24/77 -). Der erste Fall ist hier gegeben. Der Kläger fordert eine Aufstockung des Grades seiner MdE im Wege einer ihm günstigen Neubescheidung (§ 40 Abs 1 KOVVfG). Ein entsprechender Verwaltungsakt "kann" erteilt werden, wenn eine ältere rechtsverbindliche Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch unrichtig ist. Die Unrichtigkeit ist - ungeschriebene - Voraussetzung für die mit der Klage erstrebte "Berichtigung" (BSGE 29, 278, 282 f uö). Sie ist wie jedes Tatbestandskriterium auf ihre Anwendbarkeit im Einzelfall durch das Gericht voll nachzuprüfen. Dies ließ es geboten erscheinen, daß das LSG sich nicht mit der Feststellung begnügte, die MdE sei "wenigstens" um 10 % höher als geschehen einzuschätzen gewesen. Denn bei dieser Entscheidung blieb es der Behörde überlassen, die - endgültige - Entscheidung zu einem Merkmal strikten Rechts noch erst herbeizuführen. Darin ist eine unzulässige Zurückverweisung der Sache an die Verwaltung zu erblicken (BSG Urteil vom 9.2.1978 - 9 RV 24/77 - mN).

Von der Pflicht, die Spruchreife herbeizuführen war das LSG nicht deshalb freigestellt, weil der Kläger lediglich die Aufhebung der angegriffenen Verwaltungsakte beantragt hatte. Das Gericht war nicht an die Fassung des Klagantrags gebunden, sondern hatte über den vom Kläger erhobenen Anspruch zu befinden (§ 123 SGG). Das Begehren des Klägers, wie es im übrigen auch aus dem Verwaltungsantrag, dem Inhalt des Widerspruchs und der Klageschrift hervortrat, ging verständigerweise dahin, das für seine Versorgungsbezüge bestimmende Maß des Grades der MdE zu erhöhen. Dem vom Kläger verfolgten Interesse war erkennbar nicht mit einer Aufhebung der entgegenstehenden Verwaltungsakte gedient, vielmehr mußte der Beklagte verpflichtet werden, den abgelehnten neuen Bescheid zu erteilen (vgl BSGE 7, 46; 9, 285, 287; 20, 199, 200; SozR Nr 133 zu § 54 SGG; ferner: BVerwG, Buchholz 310 § 113 VwGO Nr 26; Menger, System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, 1954, 196). Das LSG hätte die in Gestalt der reinen Anfechtungsklage erhobene Klage als Verpflichtungsklage - mit unselbständigen Anfechtungsteil - behandeln müssen (so auch BVerwG Buchholz 310 § 88 Nrn 3 und 5). Es hätte bis auf den Teil, der dem Verwaltungsermessen vorbehalten ist, über die Sache entscheiden müssen. Da insoweit die in Betracht zu ziehenden Tatsachen noch zu würdigen, wenn nicht gar zu ermitteln sind, ist der Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen (vgl auch BSG SozR Nr 6 zu § 163 SGG).

Mit der Zurückverweisung wird nicht gegen den Grundsatz verstoßen, daß eine Vorentscheidung nicht zum Nachteil des sie angreifenden Beteiligten geändert werden darf (BSGE 2, 225, 229; 7, 178). Eine Schlechterstellung des Revisionsklägers kann nicht in einer Art der Rechtsmittelerledigung gesehen werden, die ohne weiteres zu erwarten war. So wie die Anfechtungsklage nach dem erkennbaren wahren Klageinhalt als Verpflichtungsklage zu deuten war, so war der Revision gegen das Aufhebungsurteil des Berufungsgerichts auch das entsprechend weitergehende Prozeßziel zu unterlegen. Unter diesem Blickwinkel war der Antrag der Revision auf materielle Abweisung der Klage weitergehend als derjenige auf Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Außerdem kann von einer prozessualen Schlechterstellung des Beklagten auch deshalb nicht gesprochen werden, weil er dann, wenn es bei dem Aufhebungsurteil geblieben wäre, über den unerledigten Streitstoff durch einen Verwaltungsakt entscheiden müßte, der wiederum mit der Klage angegriffen werden könnte. Die hier gefundene Lösung reduziert lediglich die Zahl vermeidbarer Verfahrensgänge und dient somit der Prozeßökonomie.

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651815

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