Entscheidungsstichwort (Thema)

Ablehnungsbescheid. Nachschieben von Gründen

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Beklagte darf den Fristablauf auch noch im Berufungsverfahren geltend machen; es fehlt eine der materiellrechtlichen Voraussetzungen des Versorgungsanspruchs, wenn der Kläger die Anmeldefrist versäumt hat; auf diese Voraussetzung darf und kann der Beklagte nicht "verzichten" , er hat auch nicht "das Recht verwirkt", sich auf das Fehlen dieser Voraussetzung zu berufen.

 

Orientierungssatz

Die Rechtsgrundlage eines Verwaltungsakts kann im Laufe des Verfahrens durch Nachschieben einer anderen rechtlichen Begründung dann geändert oder ergänzt werden, wenn der Verwaltungsakt hierdurch in seinem Wesensgehalt, also nach Voraussetzungen, Inhalt und Wirkungen, nicht etwas anderes wird (vgl BSG 1958-02-12 11/9 RV 948/55 = BSGE 7, 8).

 

Normenkette

BVG § 56 Fassung: 1950-12-20; SGG § 157 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 26.09.1957)

SG Lübeck (Entscheidung vom 09.05.1955)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 26. September 1957 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger beantragte am 4. August 1953 Versorgung wegen eines Hüftgelenkleidens; er machte geltend, er habe im Januar 1943 als Soldat einen Motorradunfall erlitten und sei dadurch gesundheitlich geschädigt worden. Durch Bescheid vom 16. November 1953 lehnte das Versorgungsamt L den Antrag ab: es handele sich um eine Arthrosis deformans der Hüftgelenke und um Formveränderungen der Wirbelsäule, diese Leiden seien anlagebedingt, Schädigungsfolgen im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) seien nicht vorhanden. Den Widerspruch (Einspruch) wies das Landesversorgungsamt N durch Bescheid vom 12. Juni 1954 zurück. Das Sozialgericht (SG.) Lübeck wies die Klage durch Urteil vom 9. Mai 1955 ab. Im Berufungsverfahren machte der Beklagte erstmalig geltend, der Kläger habe die Anmeldefrist des § 56 BVG versäumt. Das Landessozialgericht (LSG.) Schleswig wies die Berufung durch Urteil vom 26. September 1957 zurück: ___AMPX_‚_SEMIKOLONX___XDie Frist für die Anmeldung von Versorgungsansprüchen (§ 56 BVG) sei am 30. September 1952 abgelaufen, der Kläger habe seinen Anspruch erst am 4. August 1953, also verspätet, geltend gemacht; die Voraussetzungen des § 57 BVG, unter denen ein Anspruch auch nach Ablauf der Frist des § 56 BVG noch angemeldet werden könne, seien nicht gegeben; es sei zwar möglich, daß sich das Leiden des Klägers nach dem 30. September 1952 verschlimmert habe, jedoch sei die Verschlimmerung dem Kläger jedenfalls früher als sechs Monate vor dem Tage der Antragstellung bemerkbar geworden, der Kläger sei nämlich wegen der jetzt geltend gemachten Gesundheitsstörungen am 29. November 1952 für ständig arbeitsunfähig erklärt worden; der Versorgungsanspruch sei aber auch unbegründet, wenn die Anmeldefrist gewahrt wäre, denn das Leiden des Klägers sei anlagebedingt. Die Revision ließ das LSG. zu.

Das Urteil wurde dem Kläger am 29. Januar 1958 zugestellt. Am 24. Februar 1958 legte er Revision ein und beantragte,

das angefochtene Urteil aufzuheben und nach dem Klageantrag zu erkennen,

hilfsweise,

die Sache an das LSG. zurückzuverweisen.

Am 25. April 1958 - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - begründete er die Revision: Der Beklagte habe vor dem LSG. nicht mehr geltend machen dürfen, die Anmeldefrist (§§ 56, 57 BVG) sei versäumt; nachdem er sich auf den Fristablauf weder in dem Bescheid vom 16. November 1953 noch in dem Widerspruchsbescheid vom 12. Juni 1954 noch im Verfahren vor dem SG. berufen habe, habe er auf den Einwand der Fristversäumnis verzichtet; zumindest sei aber das Recht, sich auf die Fristversäumnis zu berufen, verwirkt; als einfacher Mann dürfe der Kläger erwarten, daß er von dem Versorgungsamt rechtzeitig darüber aufgeklärt werde, ob er seinen Anspruch noch geltend machen könne; wenn das nicht rechtzeitig geschehen sei, könne sich der Beklagte jetzt - mehrere Jahre nach der Antragstellung - nicht mehr auf Fristversäumnis berufen; im übrigen sei sein Leiden tatsächlich auf wehrdienstliche Einflüsse, insbesondere auf den Motorradunfall während des Wehrdienstes zurückzuführen.

Der Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft. Der Kläger hat sie auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet, sie ist daher zulässig; sie ist jedoch nicht begründet.

Nach § 56 Abs. 1 BVG muß der Beschädigte seine Versorgungsansprüche zur Vermeidung des Ausschlusses binnen zwei Jahren anmelden. Die Frist beginnt mit dem auf das schädigende Ereignis folgenden Tage, jedoch nicht vor Beendigung des Wehrdienstes. Soweit der Anspruch - wie hier - auf eine Schädigung gestützt wird, die nach dem 31. August 1939 eingetreten ist, beginnt die Frist frühestens mit dem Inkrafttreten des Gesetzes (§ 56 Abs. 2 BVG). Für den Kläger ist die Anmeldefrist sonach am 30. September 1952 abgelaufen. Der Kläger hat seinen Anspruch am 4. August 1953, also nach Ablauf der Frist, angemeldet. Nach Ablauf der Frist des § 56 BVG kann der Anspruch auf Rente nach § 57 BVG nur dann noch angemeldet werden, wenn Folgen einer Schädigung erst später in einem rentenberechtigenden Grade bemerkbar geworden sind oder wenn Folgen einer Schädigung zwar schon innerhalb der Frist in einem rentenberechtigenden Grade bemerkbar geworden sind, aber sich erst nach Ablauf der Frist wesentlich verschlimmert haben; in diesen Fällen ist der Anspruch binnen sechs Monaten anzumelden, nachdem die Folgen der Schädigung oder die Verschlimmerung bemerkbar geworden sind. Das LSG. hat festgestellt, daß sich das Leiden des Klägers zwar nach dem 30. September 1952 verschlimmert habe, daß die Verschlimmerung jedoch dem Kläger jedenfalls früher als sechs Monate vor dem Tage der Antragstellung bemerkbar geworden sei, weil der Kläger nach seinen eigenen Angaben im Verfahren über die Gewährung von Invalidenrente schon am 29. November 1952 als arbeitsunfähig erklärt worden ist. Gegen diese Feststellung sind Revisionsrügen nicht erhoben, sie ist daher für das Bundessozialgericht (BSG.) bindend (§ 163 SGG). Auch die Voraussetzungen des § 57 BVG haben somit nicht vorgelegen.

Für die Frage, ob der angefochtene Bescheid rechtmäßig ist, ist es auch unerheblich, daß der Beklagte erst im Berufungsverfahren geltend gemacht hat, der Kläger habe die Anmeldefrist versäumt. Wie das BSG. wiederholt entschieden hat (vgl. BSG. 7 S. 8 f. (12); BSG. 8 S. 257 f. (262); SozR. Nr. 68 zu § 54 SGG; ferner auch BVerwG NJW. 1959 S. 2033; BVerwGE. 1 S. 12 f.), kann die Rechtsgrundlage eines Verwaltungsakts im Laufe des Verfahrens durch Nachschieben einer anderen rechtlichen Begründung dann geändert oder ergänzt werden, wenn der Verwaltungsakt hierdurch in seinem Wesensgehalt, also nach Voraussetzungen, Inhalt und Wirkungen, nicht etwas anderes wird; diese Voraussetzungen haben hier vorgelegen. Wesentlich ist in dem angefochtenen Bescheid die Ablehnung des Anspruchs des Klägers auf Versorgung. Wenn der Beklagte diesen Bescheid zunächst darauf gestützt hat, daß Schädigungsfolgen im Sinne von § 1 BVG nicht vorliegen, und wenn er sich erst später, jedoch noch in der Tatsacheninstanz, darauf berufen hat, daß die Frist für die Anmeldung des Anspruchs abgelaufen ist, so hat er im einen wie im anderen Falle geltend gemacht, daß eine der materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Versorgungsanspruchs fehlt. Die Fristen der §§ 56 ff. BVG sind materiell-rechtliche Ausschlußfristen (vgl. Schönleiter, Komm. zum BVG, § 56 Anm. 3; Thannheiser-Wende-Zech, Handbuch des Bundesversorgungsrechts bei den §§ 56 bis 59; Schieckel, Komm. zum BVG, Anm. 3 zu § 56; van Nuis-Vorberg, Das Recht der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen, Teil VI S. 11; Wilke, Sozialgerichtsbarkeit 1956 S. 173; Haueisen, NJW 1957 S. 729; Urteil des BSG. vom 25. Mai 1960 - 11 RV 548/58). Der Beklagte kann und darf auf materiell-rechtliche Voraussetzungen des Versorgungsanspruchs nicht verzichten, er kann auch nicht das Recht verwirken, sich auf das Fehlen einer solchen Voraussetzung zu berufen, er hat nicht etwa die "Einrede der Verjährung" erhoben. Der Beklagte hat den angefochtenen Bescheid jedenfalls auch darauf stützen können, daß der Kläger die Anmeldefrist versäumt hat, und der Beklagte hat dies auch geltend gemacht. Unter diesen Umständen kann dahingestellt bleiben, ob das Gericht bei der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts die Versäumung der Anmeldefrist auch dann von Amts wegen berücksichtigen muß, wenn der Beklagte sich nicht darauf berufen hat, daß die Anmeldefrist versäumt ist.

Das LSG. hat sonach die Berufung des Klägers zu Recht zurückgewiesen, die Revision des Klägers ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324192

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