Entscheidungsstichwort (Thema)
Grobe Nachlässigkeit. Nachprüfung durch das Revisionsgericht
Leitsatz (redaktionell)
Das Tatsachengericht entscheidet gemäß SGG § 109 Abs 2 nach seiner freien Überzeugung darüber, ob der Antrag des Versicherten, einen bestimmten Arzt gutachtlich zu hören, aus grober Nachlässigkeit nicht früher gestellt ist. Auf die ordnungsgemäß erhobene Rüge der Revision unterliegt es aber der Nachprüfung durch das Revisionsgericht, ob das Berufungsgericht bei der Ablehnung des Antrags die Grenzen seines Rechts, hierüber nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden, überschritten hat.
Das Gericht überschreitet die Grenzen dieses Rechts, wenn es bei seiner Ablehnung des Antrags aus SGG § 109 von tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, die im Widerspruch zur Aktenlage stehen, also unrichtig sind.
Normenkette
SGG § 109 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Mai 1963 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Klägerin begehrt Rente wegen Berufsunfähigkeit aus der Arbeiterrentenversicherung. In dem angefochtenen Urteil hat das Landessozialgericht (LSG) ihren Anspruch als unbegründet abgelehnt. Mit der nicht zugelassenen Revision rügt sie Verletzung des § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie macht geltend, das LSG habe zu Unrecht ihren Antrag, den Chefarzt des Knappschafts-Krankenhauses B in B, Dr. R, gemäß § 109 SGG gutachtlich zu hören, deswegen abgelehnt, weil der Antrag aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden sei.
Die Klägerin beantragt,
die Sache unter Aufhebung des Urteils des LSG vom 10. Mai 1963 zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Die Statthaftigkeit der Revision ergibt sich aus § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, weil die Klägerin in zulässiger Weise einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG rügt, der auch vorliegt (BSG 1, 150). Das Verfahren des Berufungsgerichts ist mit der Vorschrift des § 109 SGG unvereinbar.
Nach § 109 Abs. 1 SGG muß auf Antrag des Versicherten, des Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann davon abhängig gemacht werden, daß der Antragsteller die Kosten vorschießt. Nach § 109 Abs. 2 SGG kann das Gericht einen Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist.
Die Auffassung des LSG, durch die Zulassung des Antrags wäre die Erledigung des Rechtsstreits verzögert worden, begegnet zwar keinen Bedenken. Das gleiche gilt aber nicht für seine Annahme, der Antrag sei aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden. Ein Beteiligter handelt in der Regel grob nachlässig, wenn er den Antrag auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 Abs. 1 SGG nicht in angemessener Frist stellt, obgleich er erkennt oder erkennen muß, daß von Amts wegen keine ärztlichen Gutachten mehr eingeholt werden (BSG in SozR SGG § 109 Nr. 24). Von dieser Rechtsauffassung ist offenbar auch das LSG ausgegangen. Der Antrag der Klägerin, den Chefarzt des Knappschafts-Krankenhauses B, Dr. R, als Sachverständigen zu hören, war in ihrem Schriftsatz vom 28. März 1963 enthalten, der am 30. März 1963 beim LSG eingegangen ist. Das LSG hatte demnach zu prüfen, ob es auf grober Nachlässigkeit beruhte, daß dieser Antrag erst am 28./30. März 1963 gestellt worden ist. Was den Zeitpunkt angeht, in dem die Klägerin erkannte oder erkennen mußte, daß von Amts wegen keine Gutachten mehr eingeholt würden, so hat das Berufungsgericht in den Gründen des angefochtenen Urteils selbst ausgeführt, spätestens beim Empfang der Stellungnahme der Beklagten zu den von Amts wegen eingeholten Gutachten habe die Klägerin erkannt, daß diese Gutachten ihren Rechtsstandpunkt nicht stützten. Damit hat es selbst eingeräumt, daß mit hinreichender Bestimmtheit von einem früheren Zeitpunkt, in dem die Klägerin erkannte oder erkennen mußte, daß die von Amts wegen durchzuführende Beweiserhebung beendet war, und in dem sie prüfen mußte, ob sie einen Antrag nach § 109 SGG stellen wollte, nicht ausgegangen werden kann. Da die Klägerin die Stellungnahme der Beklagten, die das LSG am 29. Januar 1963 an sie abgesandt hat, frühestens am 30. Januar 1963 erhalten hat, kommt es darauf an, ob sie, von diesem Zeitpunkt ausgehend, den Antrag am 28./30. März 1963 in angemessener Frist gestellt hat. Hierbei durfte das LSG aber nicht unberücksichtigt lassen, daß die Klägerin bereits in ihrem Schriftsatz vom 12. Februar 1963, also in einer nicht unangemessenen Frist nach Empfang der Stellungnahme der Beklagten, ihre Absicht, ein Gutachten nach § 109 Abs. 1 SGG zu beantragen, geäußert und bei dem Gericht angefragt hat, ob Prof. Dr. K als ärztlicher Gutachter nach § 109 Abs. 1 SGG vom LSG angenommen werde. Dafür, daß diese Anfrage offensichtlich nur einer Hinauszögerung des Verfahrens gedient habe, wie das LSG gemeint hat, fehlt es an tatsächlichen Feststellungen durch das Berufungsgericht. Mit Recht weist die Revision darauf hin, daß diese Anfrage sachgemäß gewesen ist, weil Prof. Dr. K bereits auf Veranlassung des Sozialgerichts (SG) als ärztlicher Sachverständiger ein Gutachten erstattet hatte und deshalb die Zweifel der Klägerin begründet waren, ob das LSG die nochmalige gutachtliche Anhörung dieses Arztes gemäß § 109 Abs. 1 SGG zulassen werde.
Dies hat das LSG offensichtlich übersehen; denn aus dessen Antwort vom 21. Februar 1963, daß nicht ersichtlich sei, welche Bedenken gegen die Persönlichkeit des Prof. Dr. K erhoben werden sollten, ist zu erkennen, daß das LSG die Anfrage der Klägerin vom 12. Februar 1963 mißverstanden hat. Es handelte sich nicht darum, daß das LSG gegen die Persönlichkeit des Prof. Dr. K Bedenken haben konnte, sondern Bedenken dagegen, daß er sich nochmals und jetzt als Gutachter gemäß § 109 Abs. 1 SGG äußern sollte, nachdem er bereits in einem vom SG von Amts wegen eingeholten Gutachten als Sachverständiger Stellung genommen hatte. Die Auffassung des LSG, die Anfrage der Klägerin vom 12. Februar 1963 habe der Verzögerung des Verfahrens dienen sollen, beruht also auf einer unrichtigen tatsächlichen Voraussetzung.
Das LSG hat zwar in seiner Antwort vom 21. Februar 1963 gleichzeitig angefragt, ob der Beweisantrag gestellt werde. Es hat auch, wie sich entgegen der Ansicht der Revision aus den Akten des LSG ergibt, an die Klägerin unter dem 12. März 1963 eine Erinnerung an die Stellungnahme gerichtet und dabei eine Frist von 10 Tagen gesetzt. Die Klägerin hat aber sodann wenige Tage später, innerhalb der vom LSG gesetzten Frist, mit Schriftsatz vom 16. März 1963 beantragt, das in Aussicht genommene Gutachten nach § 109 Abs. 1 SGG ohne Einzahlung eines Kostenvorschusses genehmigen zu wollen, weil ihre Einkünfte nur aus Fürsorgemitteln bestünden. Auch diese Anfrage des damaligen Prozeßbevollmächtigten der Klägerin war sachgerecht; denn § 109 Abs. 1 Satz 2 SGG stellt es in das Ermessen des Gerichts, ob es die Anhörung des bestimmten Arztes davon abhängig machen will, daß der Antragsteller die Kosten vorschießt. Das Gericht kann den benannten Arzt nach § 109 Abs. 1 SGG auch gutachtlich hören, ohne vom Antragsteller einen Kostenvorschuß zu erheben (BSG 2, 258, 260). Mit Schriftsatz vom 28. März 1963 hat die Klägerin dann den Antrag nach § 109 SGG gestellt.
Bei dieser Sachlage bestehen Bedenken gegen die Annahme des LSG, der Antrag sei nicht in angemessener Frist und deshalb aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden. Allerdings entscheidet das Tatsachengericht gemäß § 109 Abs. 2 SGG nach seiner freien Überzeugung darüber, ob der Antrag des Versicherten, einen bestimmten Arzt gutachtlich zu hören, aus grober Nachlässigkeit nicht früher gestellt ist. Auf die ordnungsgemäß erhobene Rüge der Revision unterliegt es aber der Nachprüfung durch das Revisionsgericht, ob das Berufungsgericht bei der Ablehnung des Antrags die Grenzen seines Rechts, hierüber nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden, überschritten hat (BSG 2, 258; BSG in SozR SGG § 109 Nr. 4 und Nr. 29). Das Gericht überschreitet die Grenzen dieses Rechts, wenn es bei seiner Ablehnung des Antrags aus § 109 SGG von tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, die im Widerspruch zur Aktenlage stehen, also unrichtig sind. Dies ist aber in mehrfacher Hinsicht der Fall.
Der Schriftsatz der Klägerin vom 16. März 1963 liegt nicht etwa einen Monat nach Erhalt der Mitteilung des Berufungsgerichts vom 21. Februar 1963, wovon das LSG ausgegangen ist, sondern höchstens 17 Tage; denn die Mitteilung hat das LSG erst am 26. Februar 1963 abgesandt, so daß die Klägerin sie frühestens am 27. Februar 1963 erhalten haben kann; in ihrem Schriftsatz vom 16. März 1963 hat die Klägerin auch nicht, wie das LSG gemeint hat, zugegeben, erst nunmehr mit Prof. Dr. K Verbindung aufgenommen zu haben; für diese Schlußfolgerung des LSG gibt dieser Schriftsatz der Klägerin keinerlei Anhalt. Sodann hat das LSG die Tatsache unberücksichtigt gelassen, daß dieser Schriftsatz längst vor Ablauf der in dem Erinnerungsschreiben des LSG von diesem selbst eingeräumten Frist abgegangen war. Wenn das LSG es gegen die Klägerin verwertet hat, der förmliche Antrag nach § 109 SGG sei erst am 30. März 1963, fast drei Monate nach Zugang der von Amts wegen eingeholten Gutachten, eingegangen, so hat es sich dadurch zu seiner eigenen Ausführung in Widerspruch gesetzt, daß der Lauf der angemessenen Frist zur Stellung des Antrags erst von dem Zeitpunkt an gerechnet werden könne, zu dem die Klägerin die Stellungnahme der Beklagten zu den Gutachten empfangen habe, d. h. erst frühestens vom 30. Januar 1963 an. Schließlich hat das LSG bei seiner Ablehnung des Antrags in keiner Weise dem Umstand Rechnung getragen, daß durch die sachgerechten, in der Zwischenzeit bis zum 28. März 1963 gestellten Anträge der Klägerin ein erheblicher Zeitraum verstrichen war, der in den Lauf der angemessenen Frist nicht ohne weiteres eingerechnet werden kann.
Die Ablehnung des Antrags der Klägerin durch das LSG ist sonach unter Überschreitung der Grenzen des Rechts zur freien richterlichen Beweiswürdigung erfolgt. Dies stellt einen wesentlichen Mangel im Verfahren des Berufungsgerichts dar. Die Revision ist deshalb nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG zulässig.
Die Revision ist auch begründet, weil die Möglichkeit besteht, daß das LSG nach Anhörung des von der Klägerin benannten Arztes andere tatsächliche Feststellungen getroffen und deshalb anders entschieden hätte. Der Senat kann mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen in der Sache nicht selbst entscheiden.
Gemäß § 170 Abs. 2 SGG ist aus diesen Gründen das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen