Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiswürdigung. Sachverhaltswürdigung
Orientierungssatz
1. Unzureichend und damit fehlerhaft ist die Beweiswürdigung im Sinne des § 128 SGG auch dann, wenn ein von einem Beteiligten vorgetragener Sachverhalt, der möglicherweise den geltend gemachten Anspruch begründet oder ausschließt, in dem Urteil des LSG nicht oder nur ungenügend gewürdigt wird.
2. Das Gericht muß sich, wenn die Kläger mehrfach auf die Flucht und deren Folgen hingewiesen und mindestens zwei Sachverständige zu verstehen gegeben haben, daß die Einwirkungen bei der Flucht möglicherweise von Einfluß auf den Gesundheitszustand des H. gewesen sein Könnten, in seinem Urteil mit diesem Vorbringen der Kläger auseinandersetzen und auch die Gründe angeben, die nach seiner Überzeugung den geltend gemachten Anspruch auch insoweit nicht rechtfertigen.
Normenkette
SGG § 128
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 27.02.1963) |
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt vom 27. Februar 1963 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater des Klägers zu 2), der am 23. Januar 1897 geborene Dipl.-Chemiker Dr. A ... - nachfolgend mit H. bezeichnet - war als Leiter eines chemischen Laboratoriums des Technischen Überwachungs-Vereins in C vor dem Kriege und während des Krieges tätig. Am Ende des Krieges wurde er bei der Heimatflak in der Umgebung von C eingesetzt und in den letzten Kriegsmonaten noch zum Volkssturm eingezogen. Am 8. Mai 1945 flüchtete er mit seiner Familie von D nach S und kehrte im August 1945 allein nach C zurück, um dort wieder seine alte Beschäftigung aufzunehmen. Ende April 1946 wurde er in das K-Krankenhaus von C eingeliefert. Wie aus dem Inhalt des Krankenblattes hervorgeht, war H. am 15. April 1946 an einem Hexenschuß erkrankt. Schon seit mehreren Wochen hatte er an einer Erkältung der oberen Luftwege mit zeitweiser Heiserkeit gelitten. Nach kurzer Zeit traten Lähmungserscheinungen an den unteren Gliedmaßen, an der Blase und am Mastdarm ein. Am 6. Mai 1946 verstarb H. an den Folgen einer Herzkreislaufschwäche. Die Erkrankung wurde als Myelitis transversa bezeichnet. Die Autopsie ergab eine Vereiterung der Bifurkations- und Bronchialdrüsen und eine Entzündung des Knochenmarks im Bereich der Brustwirbelsäule.
Die Klägerin zu 1) stellte für sich und ihren Sohn, den Kläger zu 2), einen Antrag auf Hinterbliebenenrente und überreichte eine gutachtliche Äußerung des Chefarztes der Inneren Klinik des K-Krankenhauses in C Dr. Sch vom 17. März 1952. Das Versorgungsamt lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 20. Juli 1954 ab. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 30. September 1954). Im Klageverfahren legten die Kläger Bescheinigungen der Ärzte Dr. ... und Dr. K vor, die den H. in C und D behandelt hatten, weiterhin mehrere Bescheinigungen von Privatpersonen über den Gesundheitszustand des H.. Das Sozialgericht (SG) hat ein Gutachten von dem Facharzt für innere Krankheiten Dr. V beim R-Krankenhaus in K eingeholt und mit Urteil vom 23. November 1956 die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat im Berufungsverfahren auf Antrag der Klägerin ein Gutachten gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von Dr. M (Gutachten vom 6. September 1959) eingeholt. Diesem Sachverständigen gegenüber hat die Klägerin auf dessen Anfrage in einem Schreiben vom 25. August 1959 unter anderem auch mitgeteilt, daß sie in der Nacht vom 8. zum 9. Mai 1945 mit ihrem Mann und dem damals 10-jährigen Sohn mit Handgepäck und Handwagen von D vor den herannahenden feindlichen Truppen geflüchtet sei. Ihr Mann sei in einem sehr schlechten Gesundheitszustand gewesen, der sich in der dreiwöchigen Fluchtzeit noch weiter verschlechtert habe. H. sei nach der Ankunft bei den Verwandten in S nicht mehr in der Lage gewesen, auch nur kleinere Anhöhen zu besteigen. Dr. M hat den ursächlichen Zusammenhang des Todes des H. mit Einwirkungen des Volkssturmdienstes bejaht. Der vom LSG gehörte Sachverständige Prof. Dr. Sch (Gutachten vom 2. Juli 1960) hat demgegenüber diesen Zusammenhang verneint. In seinem Gutachten ist unter anderem ausgeführt: "Außerdem hat doch gerade nach der von der Klägerin selber gegebenen Schilderung einerseits die nach der Heimkehr erfolgte Flucht von C nach Westdeutschland sich über mehrere Wochen hingezogen und während dieser Zeit für ihren Ehemann besondere Strapazen bedeutet, und müßte also zunächst klargestellt werden, wieweit solche rechtlich noch als Dienstschädigungsfolgen gelten könnten". Der vom LSG nach § 109 SGG sodann gehörte Sachverständige Dr. L St-v. R (Gutachten vom 31. Januar 1961) hat den Ursachenzusammenhang des Todes des H. mit wehrdienstlichen Einflüssen, zu denen er auch die Folgen der Flucht von D nach Westdeutschland gerechnet hat, unter dem Gesichtspunkt eines sog. Summationstraumas nach Prof. Dr. H bejaht. In der zu diesem Gutachten vom LSG eingeholten gutachtlichen Stellungnahme von Prof. Dr. Sch vom 22. September 1962 hat dieser Gutachter das Vorliegen eines Summationstraumas bei H. abgelehnt. Er hat ausgeführt, daß neben den Einwirkungen des Wehrdienstes ganz offensichtlich andere wesentliche Einwirkungen für die tödliche Erkrankung in Frage kämen, und hat unter diesen (Seite 2 des Gutachtens) "die zum größten Teil zu Fuß und dabei sicher unter mangelhaften Ernährungsbedingungen und Unterkunftsverhältnissen zurückgelegte und sich über Wochen erstreckende Flucht aus dem Erzgebirge nach Hessen" erwähnt. In der mündlichen Verhandlung vom 27. Februar 1963 hat die Klägerin zu 1) nochmals die Flucht geschildert. Durch Urteil vom gleichen Tage hat das LSG die Berufung der Kläger gegen das Urteil des SG Kassel vom 23. November 1956 zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, daß ein ursächlicher Zusammenhang des Todes des H. mit Einflüssen des von ihm geleisteten Wehrdienstes bei der Heimatflak und dem Volkssturm nicht wahrscheinlich sei. Unter Würdigung und Gegenüberstellung der verschiedenen Gutachten, gutachtlichen Äußerungen und Bescheinigungen ist es zu der Auffassung gekommen, daß der durch eine Rückenmarksentzündung eingetretene und mit einem Herzversagen einhergehende Tod des H. durch eine bakterielle Ausstreuung von den vereiterten Hilusdrüsen, nicht durch eine Lungentuberkulose oder durch eine chronische Bronchitis hervorgerufen sei. Gegen die Annahme, daß H. während des Flak- oder Volkssturmdienstes sich eine Infektion zugezogen habe, die zu einer chronischen Bronchitis geführt hätte, spreche das Fehlen von Brückensymptomen. Es habe auch nicht festgestellt werden können, daß ein bei H. bestehendes Herzleiden durch den Volkssturm verschlimmert worden und Mitursache seines Todes gewesen sei. Sei danach der Volkssturm- und Flakdienst nicht die Ursache des Todes, so könne auch nicht von einer Lebensverkürzung bei H. infolge kriegsbedingter Einwirkungen gesprochen werden.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Gegen das ihnen am 8. April 1963 zugestellte Urteil haben die Kläger mit Schreiben vom 2. Mai 1963, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG) am 3. Mai 1963, Revision eingelegt und diese innerhalb der Revisionsbegründungsfrist, die bis zum 8. Juli 1963 verlängert worden war, mit Schriftsatz vom 5. Juli 1963, eingegangen beim BSG am 6. Juli 1963, begründet.
Sie beantragen,
1.) das angefochtene Urteil aufzuheben und den Beklagten zur Gewährung von Witwen- und Waisenrente zu verurteilen,
2.) dem Beklagten die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.
In ihrer Revisionsbegründung, auf die Bezug genommen wird, rügen sie eine Verletzung der §§ 103 und 128 SGG und des § 5 Abs. 1 Buchst. c - e des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Sie führen unter anderem aus, das LSG hätte bei dem ihm bekannten Sachverhalt prüfen müssen, ob die Flucht des H. von D nach S zu einer wesentlichen Schwächung seines Gesundheitszustandes oder auch nur der Verfestigung seiner Leiden geführt hat. Eine solche Schwächung des körperlichen Zustandes könne durch den dreiwöchigen Fußmarsch eingetreten sein, auch sei eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes darin zu erblicken, daß er während der Flucht keinen Arzt habe aufsuchen können. Den Fluchtweg von etwa 350 km habe H. zu Fuß zurückgelegt mit einem durch das Fluchtgepäck bis zur Grenze seiner Tragfähigkeit überlasteten Handwagen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Kläger gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 27. Februar 1963 als unzulässig zu verwerfen.
In seiner Revisionserwiderung vom 23. Juli 1963, auf die ebenfalls Bezug genommen wird, hat er die Gründe dargelegt, die es seiner Ansicht nach nicht gestatten, die Revision für zulässig zu halten.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und auch rechtzeitig begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Da das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat, findet sie nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gerügt wird und vorliegt (BSG 1, 150) oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung oder des Todes mit einer Schädigung im Sinne des BVG das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Liegt einer der gerügten wesentlichen Mängel des Verfahrens vor, so ist die Revision statthaft, ohne daß es dabei darauf ankommt, ob auch die übrigen gerügten wesentlichen Verfahrensmängel vorhanden sind (siehe dazu BSG in SozR SGG § 162 Bl. Da 36 Nr. 122).
Die Kläger haben zwar im Abschnitt C ihrer Revisionsbegründung eine Verletzung des § 5 Abs. 1 Buchst. c und e BVG gerügt und "damit einhergehend" eine Verletzung der §§ 103, 128 SGG; sie haben dazu unter anderem vorgetragen, das LSG hätte noch prüfen müssen, ob die Flucht des H. mit seiner Familie von D nach S den Gesundheitszustand des H. so geschwächt habe, daß deshalb sein Tod durch schädigende Einwirkungen im Sinne des BVG eingetreten ist. Die irrtümliche Bezugnahme der Kläger auf die materiell-rechtlichen Vorschriften des BVG, deren Verletzung nie die Rüge eines Verfahrensmangels rechtfertigen könnte, schadet nicht, da sich aus den substantiiert vorgetragenen Tatsachen ergibt, welche Verfahrensvorschrift als verletzt angesehen wird (BSG 1, 227). Aus dem gesamten Vorbringen der Kläger und aus der Bezugnahme auf die §§ 103 und 128 SGG ergibt sich nämlich, daß sie mit ihrem Vorbringen eine Verletzung des § 128 SGG durch das LSG rügen wollen, und zwar sehen sie den Verfahrensfehler darin, daß das LSG den wiederholten Vortrag über ihre Flucht von D nach S bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs des Todes von H. mit schädigenden Einwirkungen im Sinne des BVG nicht gewürdigt hat.
Diese Rüge greift durch.
Nach § 128 Abs. 1 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es hat in dem Urteil die Gründe anzugeben, die für seine Überzeugung leitend gewesen sind. Unzureichend und damit fehlerhaft ist die Beweiswürdigung im Sinne des § 128 SGG auch dann, wenn ein von einem Beteiligten vorgetragener Sachverhalt, der möglicherweise den geltend gemachten Anspruch begründet oder ausschließt, in dem Urteil des LSG nicht oder nur ungenügend gewürdigt wird. Das ist hier der Fall.
Das LSG hat sich bei der Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs des Todes von H. mit schädigenden Einwirkungen im Sinne des BVG allein auf die Frage beschränkt, ob der Tod durch Einwirkungen des Flak- und Volkssturmdienstes verursacht worden ist. Es hat sich also ausschließlich mit den möglichen oder wahrscheinlichen Auswirkungen des Heimatflakdienstes und des Dienstes beim Volkssturm, den H. Ende des Krieges geleistet hat, auseinandergesetzt, obwohl die Klägerin in ihrem Schreiben an Dr. M vom 25. August 1959 und nochmals vor dem LSG in der mündlichen Verhandlung vom 27. Februar 1963 auch auf die Strapazen und Schwierigkeiten der Flucht von D nach S hingewiesen hatte. Zudem hatte der Sachverständige Dr. St-v. R in seinem Gutachten vom 31. Januar 1963 diese Strapazen zu den Einwirkungen gezählt, die den Tod des H. mitverursacht haben, so daß das LSG auch durch diesen Gutachter auf die Bedeutung der Flucht als mögliche Ursache für den Tod des H. hingewiesen war. Auch der Sachverständige Prof. Dr. Sch hatte in seinem Gutachten vom 2. Juli 1960 auf Seite 14 und in seinem Gutachten vom 22. September 1962 auf Seite 2 die Strapazen der Flucht erwähnt, die er anscheinend nur deshalb nicht als Ursache für den Tod des H. näher in Betracht gezogen hat, weil er diese Flucht nicht als eine für den Versorgungsanspruch der Kläger rechtlich erhebliche Ursache angesehen hat, was um so mehr verständlich ist, als das LSG die Beweisfrage an die ärztlichen Gutachter dahin gestellt hatte, ob der Tod des H. mit hinreichender Wahrscheinlichkeit "auf den abgeleisteten Wehrdienst" oder auf andere Ursachen zurückzuführen ist (vgl. Verfügung vom 1. Juni 1960 - Bl. 154 - und vom 5. September 1960 - Bl. 178 - der Akten). Dementsprechend hat Prof. Dr. Sch in der Zusammenfassung am Schluß seiner Gutachten immer nur die Einwirkungen des Wehrdienstes hinsichtlich ihrer Ursächlichkeit für den Tod des H. beurteilt. Es kann aber dahinstehen, von welcher rechtlichen Auffassung die Gutachter ausgegangen sind, in jedem Falle hätte das LSG sich, nachdem die Kläger mehrfach auf die Flucht und deren Folgen hingewiesen und mindestens zwei Sachverständige zu verstehen gegeben hatten, daß die Einwirkungen der Flucht möglicherweise von Einfluß auf den Gesundheitszustand des H. gewesen sein könnten, in seinem Urteil mit diesem Vorbringen der Kläger auseinandersetzen und auch die Gründe angeben müssen, die nach seiner Überzeugung den geltend gemachten Anspruch auch insoweit nicht rechtfertigten. Somit leidet das Verfahren an einem wesentlichen Mangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, so daß die Revision statthaft ist. Sie ist auch begründet, denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG ohne den wesentlichen Verfahrensmangel zu einem für die Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre. Das angefochtene Urteil war somit aufzuheben (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Mangels ausreichender Feststellungen (§ 163 SGG) konnte der Senat in der Sache selbst nicht entscheiden. Die Sache war daher zur erneuten Entscheidung an das LSG nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen