Leitsatz (amtlich)
Die Berücksichtigung einer an den militärischen Dienst anschließenden Krankheitszeit als Ersatzzeit (§ 1251 Abs 1 Nr 1 RVO) scheitert unter der Voraussetzung einer vorherigen Versicherung (§ 1251 Abs 2 S 1 RVO) nicht daran, daß die vom Versicherten erlittenen schweren Kriegsverletzungen zu einem endgültigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben geführt haben.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 S. 1, § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin begehrt als Rechtsnachfolgerin ihres während des Klageverfahrens verstorbenen Ehemannes - des Versicherten - die rentensteigernde Berücksichtigung der Zeit vom 26. März 1945 bis zum 31. Oktober 1955 als Ersatzzeit iS des § 1251 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Der 1924 geborene Versicherte war zwischen 1940 und 1942 als Zimmererlehrling beschäftigt und bei der Beklagten versichert. Anschließend wurde er Soldat und erlitt am 2. Februar 1944 eine schwere Kriegsverletzung. Am 26. März 1945 wurde er aus der Wehrmacht entlassen. Seine Minderung der Erwerbsfähigkeit wurde mit 100 % bewertet. Als Schädigungsfolgen wurden im wesentlichen festgestellt: Verlust beider Augen, Verlust des rechten Beines im Oberschenkel, Verlust des rechten Unterarmes, Teilverlust des Ring- und Mittelfingers links, Bewegungseinschränkung sämtlicher Finger links, des Unterarmdrehgelenkes, des linken Kniegelenkes, Trommelfelldefekt beidseits, chronische Mittelohrvereiterung, Taubheit rechts und Schwerhörigkeit links, Kreislaufstörungen als Folgeerkrankung.
Der Versicherte beantragte im November 1955 bei der Beklagten die Zahlung von Invalidenrente, die ihm ab 1. November 1955 gewährt wurde. Als Versicherungsfall wurde das Jahr 1944 zugrunde gelegt. Zum 1. Januar 1957 wurde die Rente nach dem Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) umgestellt.
Der Versicherte entrichtete nach Vollendung des 55. Lebensjahres 12 Monatsbeiträge und beantragte mit Schreiben vom 29. März 1980 die Neuberechnung der Rente nach Art 2 § 38 Abs 2 Satz 2 ArVNG. Er begehrte auch die Berücksichtigung der Zeit vom 26. März 1945 bis Rentenbeginn als Anschlußersatzzeit. Bis Mai 1946 sei er noch in stationärer und später öfter in ambulanter Arbeitsamt habe er nicht in Arbeit vermittelt werden können und daher im November 1955 seinen Rentenantrag gestellt. Die Beklagte berechnete die Rente des Versicherten ab 1. April 1980 neu, berücksichtigte dabei auch die Zeit des militärischen Dienstes vom 16. Oktober 1942 bis 25. März 1945 als Ersatzzeit, lehnte aber die Berücksichtigung der geltend gemachten Anschlußersatzzeit bis zum Rentenbeginn am 1. November 1955 ab (Bescheid vom 2. Juni 1981; Widerspruchsbescheid vom 19. August 1982).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. Januar 1985). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: Die im geltend gemachten Zeitraum vorgelegene Arbeitsunfähigkeit des Versicherten habe "in erster Linie" nicht auf Krankheit - einem regelwidrigen Gesundheitszustand, der der Behandlung bedürfe -, sondern auf dem Fehlen von Körperteilen beruht. Eine Anschlußersatzzeit liege auch deshalb nicht vor, weil der Versicherte im streitigen Zeitraum bereits endgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden gewesen sei (Urteil vom 28. Mai 1986).
Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO sowie des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch das Berufungsgericht.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 30. Januar 1985 aufzuheben und die Beklagte in Abänderung der angefochtenen Bescheide zu verurteilen, die Zeit vom 26. März 1945 bis 31. Oktober 1955 als Ersatzzeit iS des § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision der Klägerin ist begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung des § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO und des Art 2 § 38 Abs 2 Satz 3 ArVNG durch das LSG, so daß die mit der Revision außerdem gerügte Verletzung des § 103 SGG dahingestellt bleiben kann.
Für den geltend gemachten Anspruch ist davon auszugehen, daß im angefochtenen Bescheid aufgrund der nach Vollendung des 55. Lebensjahres vom Versicherten entrichteten 12 Monatsbeiträge dessen Rente gemäß Art 2 § 38 Abs 2 Satz 2 ArVNG neu berechnet wurde und für diese Neuberechnung der Tag der Antragstellung - hier also der 29. März 1980 - als Eintritt des Versicherungsfalles der Erwerbsunfähigkeit gilt (Art 2 § 38 Abs 2 Satz 3 ArVNG). Bei diesem erstmaligen Versicherungsfall nach neuem Recht ist die streitige Zeit als Ersatzzeit gemäß § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO zu berücksichtigen, weil sie eine an den militärischen Dienst des Versicherten anschließende Krankheit iS dieser Vorschrift betrifft, vor der - von der Beklagten anerkannten - Ersatzzeit des militärischen Dienstes eine Versicherung während der Beschäftigung des Versicherten als Zimmererlehrling bestanden hat und während der Ersatzzeit Versicherungspflicht nicht bestanden hat (§ 1251 Abs 2 Satz 1 RVO).
Die beim Versicherten aufgrund der erlittenen schweren Kriegsverletzungen bereits im Jahre 1944 während des militärischen Dienstes eingetretene Invalidität nach altem Recht steht nach den Urteilen des 4. und 5. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 12. November 1979 (BSGE 49, 236 = SozR 2200 § 1251 Nr 74) und 11. September 1980 (SozR 2200 § 1251 Nr 80) der Anerkennung einer Ersatzzeit iS von § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO nicht entgegen. Der 5. Senat hat dabei in seiner Entscheidung vom 11. September 1980 ausdrücklich auch eine nach der Entlassung aus dem Wehrdienst infolge von Invalidität fortbestehende Krankheit als von der Ersatzzeit umfaßt angesehen. Er hat dies damit begründet, daß das Gesetz von der verbindlichen Annahme ausgeht, Zeiten der Krankheit und Arbeitslosigkeit, die im Anschluß an einen primären Ersatzzeittatbestand liegen, stellten die Fortdauer des durch Zuwendung einer Ersatzzeit zu entschädigenden erzwungenen Aufklärungstatbestandes dar. Die vom Berufungsgericht angeführten Gründe rechtfertigen im vorliegenden Fall keine andere Entscheidung.
Das LSG ist zwar unter Hinweis auf das Urteil des 5a Senats des BSG vom 14. Juli 1982 (BSGE 54, 30 = SozR 2200 § 1251 Nr 98) zutreffend davon ausgegangen, daß die anschließende Krankheit iS des § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO als krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit dieselbe Bedeutung wie in der gesetzlichen Krankenversicherung hat. Es hat aber den sonach maßgebenden Krankheitsbegriff iS des § 182 Abs 1 Nr 2 Satz 1 RVO verkannt, wenn es als Krankheit lediglich einen regelwidrigen, der Behandlung bedürftigen Gesundheitszustand ansieht und davon das "Fehlen von Körperteilen" unterscheidet. Vielmehr ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG auch bei unbehebbaren und nicht mehr behandlungsbedürftigen Körperverletzungen eine Krankheit zu bejahen, wenn diese die Arbeitsunfähigkeit wesentlich mitbewirkt haben (vgl BSGE 26, 288, 289; 33, 202, 203 f jeweils mwN). Insoweit hat aber auch das LSG für den erkennenden Senat gemäß § 163 SGG bindend festgestellt, daß die schweren, nicht mehr behebbaren Kriegsverletzungen die Arbeitsunfähigkeit des Versicherten herbeigeführt haben.
Dem LSG kann schließlich auch nicht in der Rechtsauffassung gefolgt werden, daß die Ersatzzeit der anschließenden Krankheit dann nicht vorliege, wenn der Versicherte aufgrund der Krankheit endgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kann insoweit die Rechtsprechung des BSG zur Ausfallzeit iS des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO nicht herangezogen werden, weil sich dieser Ausfallzeittatbestand vom genannten Ersatzzeittatbestand wesentlich unterscheidet. Die Berücksichtigung der Ersatzzeit setzt hier lediglich eine vorhergehende Versicherungszeit voraus (§ 1251 Abs 2 Satz 1 RVO), die nach den eigenen Feststellungen der Beklagten im angefochtenen Bescheid gegeben ist. Die Anerkennung einer Ausfallzeit iS des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO hängt dagegen - ua - von der Unterbrechung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit durch eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit ab, die nach dem vom Berufungsgericht zitierten Urteil des BSG vom 5. Februar 1976 (BSGE 41, 168 = SozR 2200 § 1259 Nr 15) bei einem endgültigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nicht vorliegen kann.
Dieser Aspekt ist von der bisherigen Rechtsprechung des BSG bei der Beurteilung einer anschließenden Krankheit als Ersatzzeit iS des § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO nicht als rechtserheblich angesehen worden. Es wäre auch mit der ratio legis dieser Vorschrift nicht zu vereinbaren, von den Versicherten, die für versicherungsrechtliche Nachteile eines hoheitlichen Eingriffs durch Gewährung einer Ersatzzeit entschädigt werden sollen, diejenigen auszunehmen, bei denen das Kriegsgeschehen nicht nur zu einer vorübergehenden, sondern infolge von Invalidität zu einer bleibenden Arbeitsunfähigkeit geführt hat. Durch die Ersatzzeit des § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO soll unter der alleinigen Voraussetzung einer vorher begonnenen Versicherung (§ 1251 Abs 2 Satz 1 RVO) ein vom Versicherten erbrachtes Sonderopfer auch und gerade dann ausgeglichen werden, wenn es zur vorzeitigen Beendigung des Erwerbslebens geführt hat. Hinsichtlich des primären Ersatzzeittatbestandes des Wehr- und Kriegsdienstes geht davon auch die Beklagte aus. Zu Recht sah sie sich verpflichtet, die gesamte Wehr- und Kriegsdienstzeit des Versicherten bis zum 25. März 1945 im angefochtenen Bescheid als Ersatzzeit anzuerkennen. Da der Versicherte aber die das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben verursachenden schweren Kriegsverletzungen bereits am 2. Februar 1944 erlitten hat, hätte bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung des LSG nicht einmal die anschließende Zeit bis zum 25. März 1945 als Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO berücksichtigt werden dürfen. Eine derartige Konsequenz wäre indes mit dem vom Gesetzgeber beabsichtigten Ersatz des vom Versicherten erbrachten Sonderopfers nicht zu vereinbaren. Denn dieses dauerte hier aufgrund der erlittenen unbehebbaren Körperverletzungen nicht nur bis zur Entlassung aus der Wehrmacht am 25. März 1945, sondern anschließend als infolge von Invalidität fortbestehender Krankheit (vgl hierzu BSG-Urteil vom 11. September 1980 aaO) unverändert an. Damit im Einklang hat bereits der 5a Senat des BSG in seinem Urteil vom 14. Juli 1982 (SozR 2200 § 1251 Nr 98) die Anerkennung einer Anschlußersatzzeit wegen Krankheit nicht daran scheitern lassen, daß die Krankheit bis zum Eintritt des Versicherungsfalls andauerte, der Versicherte also auch dort nach Beginn der Krankheit nicht erneut versicherungspflichtig beschäftigt war.
Da nach alledem sich die Revision der Klägerin als begründet erweist, hat der erkennende Senat in der Sache selbst zu entscheiden (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen