Leitsatz (redaktionell)
Die Verletzung der sachlichen Zuständigkeit (hier: Geschäftsführer erläßt anstelle des Rentenausschusses einen Unfallrentenbescheid) ist kein Nichtigkeitsgrund.
Denn die Nichtigkeit eines Verwaltungsakts setzt - neben der Schwere des Mangels - voraus, daß der Mangel offensichtlich ist. Offensichtlich ist ein Mangel, wenn er einem aufmerksamen und verständigen Staatsbürger ohne weiteres erkennbar ist. Das ist bei einer Überschreitung der Befugnisse eines Geschäftsführer nicht der Fall.
Ein Verwaltungsakt, der nicht nichtig ist, darf nicht allein deshalb aufgehoben werden, weil er unter Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften zustandegekommen ist, wenn er nur sonst richtig ist. Die Gerichte dürfen sich in solchen Fällen nicht darauf beschränken, allein die formelle Seite des angefochtenen Verwaltungsakts nachzuprüfen.
Normenkette
RVO § 1569a Fassung: 1925-07-14; SGG § 54 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 25. Juli 1968 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger ist italienischer Staatsangehöriger.
Am 13. Oktober 1965 erlitt er bei dem H Zweigbetrieb der Maschinenfabrik A AG (MAN) einen Arbeitsunfall. Durch einen - von dem Geschäftsführer ihrer Bezirksverwaltung M unterzeichneten - Bescheid vom 17. Oktober 1967 gewährte die Beklagte dem Kläger vom 17. Februar 1966, dem Tage nach dem Wegfall der Arbeitsunfähigkeit, bis zum 31. Dezember 1966 eine Teilrente von 20 v.H. der Vollrente; über diesen Zeitraum hinaus wurde die Weitergewährung einer Rente abgelehnt, weil die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nur noch 10 v.H. betrage.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Klage erhoben mit dem Antrag, die Beklagte unter Änderung des Bescheides zu verurteilen, ihm die Rente auch über den 31. Dezember 1966 hinaus zu gewähren, weil noch wesentliche Unfallfolgen vorlägen.
Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat ein schriftliches Gutachten von dem Facharzt für Orthopädie Dr. H eingeholt; nach dessen Ansicht hat eine unfallbedingte MdE von 20 v.H. nur bis zum 31. Dezember 1966 bestanden. Der in der mündlichen Verhandlung vernommene Sachverständige Dr. Sp hat sich diesem Gutachten angeschlossen. Die Beklagte hat dem SG mitgeteilt, der Unfallbetrieb (Werk H der MAN) sei mit Wirkung vom 1. Januar 1967 an die N Eisen- und Stahl-Berufsgenossenschaft - BG - (jetzige Beigeladene) überwiesen worden. Das SG hat daraufhin nur diese BG - nicht die Beklagte - zur mündlichen Verhandlung geladen und sie in der Verhandlungsniederschrift und im Urteil als Beklagte bezeichnet.
Durch Urteil vom 22. März 1968 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 17. Oktober 1967 aufgehoben und die "Beklagte" (= Beigeladene) für verpflichtet erklärt, den Kläger seinem Antrag entsprechend neu zu bescheiden. Nach seiner Auffassung hätte eine förmliche Feststellung durch den Rentenausschuß getroffen werden müssen (§§ 1569 a, 1569 b der Reichsversicherungsordnung - RVO - iVm Satzungsbestimmungen). Der Bescheid des hierfür absolut unzuständigen Geschäftsführers habe keine Rechtswirkungen erzeugt.
Gegen dieses Urteil, das der Beklagten nicht zugestellt worden ist, haben beide BG'en Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Nordwestliche Eisen- und Stahl-BG beigeladen.
Die Beklagte und die Beigeladene haben bemängelt, daß das SG die N Eisen- und Stahl-BG ohne Beiladungsbeschluß als Beklagte in das Verfahren eingeführt und die Beklagte als am Verfahren nicht mehr beteiligt behandelt habe. Die mit Wirkung vom 1. Januar 1967 erfolgte Betriebsüberweisung während der Rechtshängigkeit habe die Passivlegitimation der Beklagten nicht berührt. In der Sache sei die Auffassung des SG, die Entscheidung über die Rentengewährung habe im vorliegenden Fall einer förmlichen Feststellung bedurft, nicht zutreffend, weil dem Kläger lediglich eine Rente für die Vergangenheit gewährt worden sei. Die Beklagte und die Beigeladene haben Abweisung der Klage, hilfsweise Zurückverweisung an das SG beantragt. Der Kläger hat beantragt, das SG-Urteil aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides für verpflichtet zu erklären, seinen Antrag auf Weitergewährung der Unfallrente über den 31. Dezember 1966 hinaus zu bescheiden.
Das LSG hat durch Urteil vom 25. Juli 1968 das SG-Urteil und den Bescheid der Beklagten vom 17. Oktober 1967 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger einen neuen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu erteilen; im übrigen hat es die Berufungen zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:
Beide Berufungen seien zulässig. Da für die Beklagte mangels Zustellung des Urteils eine Berufungsfrist nicht zu laufen begonnen habe, sei auch ihr Rechtsmittel rechtszeitig eingelegt worden. Beide BG'en seien durch das SG-Urteil beschwert: die Beklagte, weil ihr Bescheid aufgehoben, die Beigeladene, weil sie als Beklagte (zur Bescheiderteilung) verurteilt worden sei. Obwohl ein wesentlicher Verfahrensmangel darin liege, daß das SG die (später) Beigeladene als Beklagte behandelt habe, sei eine Zurückverweisung an das SG nicht zweckdienlich, weil der Bescheid der Beklagten aufzuheben sei. Da die Beklagte nicht nur eine befristete Rente für die Zeit vom 17. Februar 1966 bis zum 31. Dezember 1966 gewährt, sondern darüber hinaus ausdrücklich die Weitergewährung einer Rente für die Folgezeit abgelehnt habe, betreffe der angefochtene Bescheid nicht ausschließlich die Gewährung einer Rente für die Vergangenheit, sondern außerdem die negative Feststellung einer Rente für die Zukunft (Hinweis auf BSG 24, 36). Eine solche ablehnende Feststellung falle unter den Begriff der "Gewährung von Renten" im Sinne des § 1569 a Abs. 1 Nr. 1 RVO. Demzufolge hätte der Bescheid nach § 1569 b RVO in Verbindung mit § 34 der Satzung der Beklagten vom Rentenausschuß erlassen werden müssen. Über den Rentenanspruch des Klägers sei somit, da der Geschäftsführer den Bescheid erteilt habe, noch nicht rechtswirksam entschieden worden. Die Beklagte müsse deshalb dem Kläger einen neuen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des LSG erteilen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und wie folgt begründet:
Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen erfasse § 1569 a Abs. 1 Nr. 1 RVO nicht den Fall der Nichtgewährung einer Rente; hierfür sehe Abs. 2 dieser Vorschrift vielmehr eine förmliche Feststellung nur auf Antrag des Berechtigten oder Anweisung der Aufsichtsbehörde vor. Einen Antrag auf Weitergewährung der Rente über den in der Vergangenheit liegenden Bewilligungszeitraum hinaus habe der Kläger jedoch erst nach der Erteilung des Bescheides im Klageverfahren gestellt. Das LSG hätte neben der Verurteilung der Beklagten zur Bescheiderteilung über die Ansprüche des Klägers ab 1. Januar 1967 den Bescheid jedenfalls nicht aufheben dürfen, soweit mit diesem eine vorläufige Rente bis zum 31. Dezember 1966 - unstreitig zu Recht durch den Geschäftsführer - festgestellt worden sei.
Sie beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beigeladene und der Kläger haben keinen Antrag gestellt.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist insofern begründet, als die Sache an das LSG zurückverwiesen werden muß.
Zutreffend hat das LSG nicht nur die - fristgerecht eingelegte - Berufung der durch das SG-Urteil wegen der Verpflichtung zur Bescheiderteilung beschwerten Beigeladenen, sondern auch das Rechtsmittel der Beklagten für zulässig erachtet. Diese ist, da das SG ihren Bescheid aufgehoben hat, ebenfalls beschwert; mangels Zustellung des Urteils ist für sie die Berufungsfrist nicht in Lauf gesetzt worden.
Auf die Berufung der Beklagten und der Beigeladenen hat das LSG unter entsprechender Änderung des SG-Urteils klargestellt, daß der Bescheid der Beklagten (nicht der Beigeladenen) aufgehoben werde und - berichtigend - ausgesprochen, daß anstelle der Beigeladenen die Beklagte verpflichtet sei, dem Kläger einen neuen Bescheid "unter Beachtung der Rechtsauffassung" des LSG zu erteilen. Dieser Entscheidung liegt die Rechtsauffassung zugrunde, zur Erteilung des angefochtenen Bescheides wäre nach §§ 1569 a Abs. 1 Nr. 1, 1569 b RVO in Verbindung mit § 34 der Satzung der Beklagten nicht der Geschäftsführer der Bezirksverwaltung der Beklagten, sondern der Rentenausschuß zuständig gewesen, weil nicht lediglich Rente für die Vergangenheit gewährt, sondern zugleich Rente für die Zukunft abgelehnt worden sei; die Unzuständigkeit des Geschäftsführers der Beklagten zur Erteilung des Bescheides habe zur Folge, daß über den Rentenanspruch des Klägers noch nicht rechtswirksam entschieden worden sei. Diesem Ergebnis ist jedoch nicht beizupflichten.
Es kann dahingestellt bleiben, ob der Geschäftsführer der Beklagten befugt war, den angefochtenen Bescheid zu erlassen. Auch wenn dies - in Übereinstimmung mit der Auffassung des LSG - zu verneinen wäre, hätte sich das LSG nicht mit der Aufhebung des Bescheides aus formellen Gründen begnügen und die Beklagte zu - formgerechter - Bescheiderteilung verurteilen dürfen, sondern die Rechtsmäßigkeit des Bescheides in der Sache prüfen müssen.
Trifft die Auffassung des LSG zu, daß eine förmliche Feststellung nach § 1569 a Abs. 1 Nr. 1 RVO erforderlich war, die nach § 1569 RVO in Verbindung mit § 34 der Satzung der Beklagten nicht vom Geschäftsführer, sondern vom Rentenausschuß getroffen werden mußte, so leidet allerdings der angefochtene Bescheid an einem erheblichen Mangel (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 14. Dezember 1965 in BSG 24, 162, 165). Wie der Senat jedoch (aaO) mit ausführlicher Begründung, auf die Bezug genommen wird, des näheren ausgeführt hat, setzt die Nichtigkeit eines Verwaltungsakts - neben der Schwere des Mangels - voraus, daß der Mangel offensichtlich ist. Offensichtlich ist ein Mangel, wenn er einem aufmerksam und verständigen Staatsbürger ohne weiteres erkennbar ist. Die Annahme, daß dies hier der Fall sei, ist nicht gerechtfertigt. Eine Überschreitung der Befugnisse des Geschäftsführers ist aus dem angefochtenen Bescheid auch von einem aufmerksamen und verständigen Staatsbürger nicht ohne weiteres zu erkennen, zumal da die Unzuständigkeit des Geschäftsführers, der jedenfalls in bestimmten Fällen Entschädigungen feststellen kann (vgl. z.B. § 1569 a Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 2 RVO; BSG 24, 162, 168), in Fällen der vorliegenden Art nicht unzweifelhaft ist (vgl. ua Pickel, SozVers 1964, 374 einerseits; Ricke, BG 1968, 482 andererseits).
Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist somit rechtswirksam erlassen worden.
Die auf der gegenteiligen Ansicht beruhende Entscheidung des LSG, die auf eine unzulässige Zurückverweisung an die Verwaltung hinausläuft (vgl. BSG 24, 134, 136 f), ist daher fehlerhaft. Ein Verwaltungsakt, der nicht nichtig ist, darf nicht allein deshalb aufgehoben werden, weil er unter Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften zustandegekommen ist, wenn er nur sonst richtig ist; die Gerichte dürfen sich in solchen Fällen nicht darauf beschränken, allein die formelle Seite des angefochtenen Verwaltungsakts nachzuprüfen (vgl. BSG 24, 134, 137 f; 26, 177, 179).
Das LSG hätte somit feststellen müssen, ob der Bescheid der Beklagten deren Ansicht entsprechend rechtmäßig ist und deshalb aufrechterhalten werden muß, d.h., ob die durch den Bescheid getroffene Entscheidung, dem Kläger stehe über den 31. Dezember 1966 hinaus mangels erwerbsmindernder Unfallfolgen in rentenberechtigendem Grad eine Rente nicht zu, in der Sache richtig ist. Dies wird das LSG nach Zurückverweisung (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG) nachzuholen haben.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten bleibt dem Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen