Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur notwendigen Beiladung bei einem Rechtsstreit über die Versicherungspflicht einer geringfügigen Beschäftigung
Orientierungssatz
1. Soweit eine Entscheidung der Einzugsstelle die Versicherungspflicht in der Krankenversicherung und Rentenversicherung betrifft, sind die Arbeitnehmer, um deren Versicherungspflicht es geht, nach § 75 Abs 2 SGG notwendig beizuladen (vgl BSG vom 2.2.1978 - 12 RK 59/76 = SozR 1500 § 75 Nr 15 mwN).
2. Das Unterlassen einer notwendigen Beiladung stellt einen in jeder Verfahrenslage und damit auch im Revisionsverfahren von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensmangel dar, sofern eine zulässige Revision vorliegt (vgl BSG vom 2.9.1977 - 12/7 RAr 22/76 = SozR 1500 § 75 Nr 10 und BSG vom 4.4.1979 - 12 RK 8/78 = SozR 1500 § 75 Nr 21.
Normenkette
SGG § 75 Abs 2; RVO § 165 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1956-06-12, § 168 Fassung: 1986-07-25; SGB 4 § 8 Abs 1 Fassung: 1982-11-04; RVO § 1227 Abs 1 S 1 Nr 1 Fassung: 1960-09-08, § 1228 Abs 1 Nr 4 Fassung: 1988-12-20; SGG § 160 Abs 2 Nr 3
Verfahrensgang
SG Detmold (Entscheidung vom 23.03.1990; Aktenzeichen S 10 Kr 50/87) |
Tatbestand
Die klagende Firma, die sich ua mit dem Bau von Fertighäusern befaßt, beschäftigte in den Jahren 1984 und 1985 neben anderen Arbeitnehmern jeweils für kurze Zeit Arbeitslose, die sie im Bedarfsfall beim Arbeitsamt anforderte. Sie stellte Bescheinigungen über Nebeneinkommen gemäß § 143 Abs 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) aus, das diese Arbeitnehmer bei ihr verdient hatten.
Aufgrund einer Betriebsprüfung, die sich auf die Zeit von Dezember 1984 bis Dezember 1985 erstreckte, machte die Beklagte mit Bescheid vom 12. Mai 1986 für namentlich benannte, als versicherungspflichtig bezeichnete Arbeitnehmer Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 4.028,74 DM geltend. Die Klägerin erhob Widerspruch. Daraufhin berechnete die Beklagte die Beiträge neu und verringerte ihre Forderung auf 2.977,35 DM an Beiträgen zur Kranken- und zur Rentenversicherung. Im übrigen blieb der Widerspruch erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 23. März 1987).
Die Klägerin hat Klage beim Sozialgericht (SG) Detmold erhoben. Die Arbeitnehmer seien versicherungsfrei gewesen. Denn sie hätten die Beschäftigungen regelmäßig weniger als 15 Stunden in der Woche ausgeübt und regelmäßig im Monat die damaligen Entgeltgrenzen nicht überschritten (§ 8 Abs 1 Nr 1 des Sozialgesetzbuchs - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - SGB IV), ferner auch innerhalb eines Jahres nicht mehr als zwei Monate oder 50 Arbeitstage gearbeitet (§ 8 Abs 1 Nr 2 SGB IV). Die Beklagte hat demgegenüber daran festgehalten, daß eine versicherungsfreie geringfügige Beschäftigung iS des § 8 Abs 1 Nr 2 SGB IV nach dem Urteil des erkennenden Senats vom 27. September 1972 (12/3 RK 49/71) nicht bestanden habe, weil die Arbeitslosen die Beschäftigungen berufsmäßig ausgeübt hätten. Geringfügigkeit nach § 8 Abs 1 Nr 1 SGB IV habe ebenfalls nicht vorgelegen. Die dort genannte Entgeltgrenze sei nur anzuwenden, wenn die Beschäftigung einen ganzen Monat gedauert habe. Sei sie hingegen wie hier auf Tage oder Wochen begrenzt gewesen, werde die Geringfügigkeitsgrenze schon dann überschritten, wenn das Entgelt die auf die Arbeitstage bzw -wochen umgerechnete niedrigere Geringfügigkeitsgrenze übersteige. Für diese Auffassung sprächen die Geringfügigkeits-Richtlinien.
Das SG hat die Landesversicherungsanstalt Westfalen (Beigeladene zu 1) und die Bundesanstalt für Arbeit (Beigeladene zu 2) beigeladen. Durch Urteil vom 23. März 1990 hat es die Klage abgewiesen und die Ansicht der Beklagten für zutreffend gehalten. Es hat die Sprungrevision zugelassen.
Die Klägerin hat die Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 8 SGB IV und beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 23. März 1990 und den Bescheid der Beklagten vom 12. Mai 1986 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. März 1987 aufzuheben.
Die Beklagte hält die Beiladung der Arbeitnehmer für notwendig. Da diese bisher nicht erfolgt sei, sehe sie von einem Sachantrag ab, halte jedoch ihre Beurteilung der Versicherungspflicht für zutreffend.
Die Beigeladenen haben sich zur Sache nicht geäußert, alle Beteiligten sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision der Klägerin ist zulässig und iS einer Aufhebung des angefochtenen Urteils und einer Zurückverweisung begründet. Das Urteil des SG leidet an einem Verfahrensmangel.
Umstritten ist, ob die Arbeitnehmer während ihrer Beschäftigung bei der Klägerin nach § 165 Abs 1 Nr 1, Abs 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der Krankenversicherung und nach § 1227 Abs 1 Nr 1 RVO in der Rentenversicherung versicherungspflichtig waren oder ob in beiden Versicherungszweigen Versicherungsfreiheit nach § 168, § 1228 Abs 1 Nr 4 RVO, jeweils iVm § 8 SGB IV, vorlag. Die Beklagte hat - für die Rentenversicherung als Einzugsstelle - mit dem angefochtenen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides nicht nur eine Beitragsforderung erhoben, sondern sinngemäß auch die Versicherungs- und Beitragspflicht in der Krankenversicherung und der Rentenversicherung festgestellt (vgl zu diesem Zusammenhang BSGE 41, 297, 298 = SozR 2200 § 1399 Nr 4, ständige Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 22. September 1988, USK 8880). Demgegenüber ist die Beitragsfreiheit in der Arbeitslosenversicherung nach den ausdrücklichen Ausführungen im Widerspruchsbescheid nicht umstritten. Soweit die Entscheidung der Beklagten jedoch die Krankenversicherung und die Rentenversicherung betrifft, waren die Arbeitnehmer, um deren Versicherungspflicht es geht, nach § 75 Abs 2 SGG notwendig beizuladen (vgl BSG SozR 1500 § 75 Nr 15 mwN). Hierauf hat die Beklagte zutreffend hingewiesen. Die Beiladung ist durch das SG nicht erfolgt.
Das Unterlassen einer notwendigen Beiladung stellt einen in jeder Verfahrenslage und damit auch im Revisionsverfahren von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensmangel dar, sofern - wie hier - eine zulässige Revision vorliegt (vgl BSG SozR 1500 § 75 Nrn 10, 21). Da eine Nachholung der Beiladung durch das Revisionsgericht nicht in Betracht kommt (vgl § 168 SGG), mußte das Urteil des SG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückverwiesen werden, damit dieses die Arbeitnehmer, soweit sie sich noch ermitteln lassen, beilädt.
Das SG wird nach Beiladung der Arbeitnehmer auch die Rechtsprechung zu ihrer Anhörung im Verwaltungsverfahren (BSGE 55, 160, 163 = SozR 1300 § 12 Nr 1; BSGE 64, 145, 147 = SozR 2100 § 5 Nr 3) zu beachten haben.
Der Senat sieht davon ab, sich vor der notwendigen Beiladung der Arbeitnehmer zur Sache zu äußern. Für eine abschließende rechtliche Beurteilung sind auch konkretere Feststellungen des SG zu den Beschäftigungsverhältnissen der einzelnen Arbeitnehmer, ihrer Dauer und der im Zusammenhang mit ihnen zwischen der Klägerin, den Arbeitnehmern und möglicherweise auch dem Arbeitsamt getroffenen Vereinbarungen erforderlich. Die kurzen und pauschalen Angaben des SG im angefochtenen Urteil bieten keine genügende tatsächliche Grundlage für die Entscheidung einer Rechtsfrage durch das Revisionsgericht.
Das SG wird bei einer erneuten Entscheidung auch darüber zu befinden haben, ob - einschließlich des Revisionsverfahrens - außergerichtliche Kosten zu erstatten sind.
Fundstellen