Leitsatz (amtlich)
1. Hat der Rentenversicherungsträger eine Rente ohne Anwendung der Ruhensvorschrift der RKG §§ 75, 76 (= RVO §§ 1278, 1279) bindend festgestellt, weil ihm nicht bekannt war, daß dem Berechtigten eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zustand, wird diese vielmehr durch die BG erst danach rückwirkend für eine Zeit vor Erlaß des Bescheides des Rentenversicherungsträgers gewährt, so ist der Rentenversicherungsträger berechtigt, eine Neufeststellung der Rente zu Ungunsten des Berechtigten unter Berücksichtigung dieser Ruhensvorschriften vorzunehmen.
2. Wird eine Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung oder eine ihr gleichzubehandelnde Leistung (Vorschuß usw) vor der knappschaftlichen Rente ausgezahlt, so ist nicht RKG § 75 Abs 4 (= RVO § 1278 Abs 4), sondern RKG § 85 Abs 2 (= RVO § 1294) anzuwenden.
3. Hat die BG bei Ungewißheit über das Bestehen des Anspruchs auf Witwenrente zunächst bis zur Höhe der Witwenbeihilfe Vorschüsse "auf die noch festzusetzenden Leistungen" gezahlt, so sind diese wie die Zahlung der Witwenrente zu behandeln, wenn der Anspruch auf Witwenrente später bindend anerkannt worden ist.
Normenkette
RKG § 75 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30; RVO § 1278 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30; RKG § 76 Abs. 1 Fassung: 1965-06-09, Abs. 3 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1279 Abs. 1 Fassung: 1965-06-09, Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; RKG § 85 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1294 Fassung: 1957-02-23; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03; RKG § 75 Abs. 4 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1278 Abs. 4 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Auf die Sprungrevision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 30. Januar 1970 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Gelsenkirchen zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte von der Klägerin den Betrag von 2.190,60 DM zurückfordern kann.
Der Ehemann der Klägerin, der von der Bergbau-Berufsgenossenschaft (Bergbau-BG) wegen einer Quarzstaub-Lungenerkrankung eine Rente von 80 v.H. der Vollrente bezog, starb am 29. Mai 1965. Da zunächst noch nicht feststand, ob der Klägerin aus der Unfallversicherung die Witwenrente oder die Witwenbeihilfe zustand, leistete die Bergbau-BG an die Klägerin erstmalig am 21. Juli 1965 und letztmalig am 27. Mai 1966 insgesamt elf Vorschußzahlungen von je DM 300,-"unter dem Vorbehalt der Anrechnung auf die gegebenenfalls festzusetzenden Leistungen". Die Bergbau-BG lehnte mit Bescheid vom 15. Juli 1966 den Anspruch auf die Witwenrente ab. Das teilte sie der Beklagten am 20. Juli 1966 mit. Die Beklagte gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 22. August 1966 die erhöhte Witwenrente aus der knappschaftlichen Rentenversicherung vom 1. Juni 1965 an ohne Anwendung von Ruhensvorschriften.
Das Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen verurteilte die Bergbau-BG am 21. September 1967, der Klägerin die Witwenrente aus der Unfallversicherung zu gewähren. Die Berufung gegen dieses Urteil nahm die Bergbau-BG am 18. Juli 1968 zurück. Sie zahlte der Klägerin vom 17. September 1968 an Vorschüsse auf die Witwenrente und teilte dies der Beklagten am 20. September 1968 mit. Die Bergbau-BG stellte die Witwenrente aus der Unfallversicherung mit Bescheid vom 19. Februar 1969 für die Zeit vom 29. Mai 1965 an fest. Die laufende Rentenzahlung begann am 1. April 1969. Auf den bis dahin aufgelaufenen Rentenbetrag rechnete die Bergbau-BG auch die in der Zeit vom 21. Juli 1965 bis zum 27. Mai 1966 geleisteten Zahlungen an. Von dem Bescheid gab die Bergbau-BG der Beklagten am 13. März 1969 Mitteilung.
Die Beklagte stellte die knappschaftliche Witwenrente der Klägerin mit Bescheid vom 3. April 1969 vom 1. September 1965 an neu fest. Dabei ging sie davon aus, daß die Rente nach § 76 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) seit dem 1. September 1965 zum Teil ruhe. Sie errechnete für die Zeit vom 1. September 1965 bis zum 31. Mai 1969 eine Überzahlung von 7.267,10 DM, die sie dadurch von der Klägerin zurückforderte, daß sie von ihr die Abtretung der von der Bergbau-BG noch nicht ausgezahlten Rentennachzahlung verlangte. Nachdem die Klägerin Widerspruch erhoben hatte, stellte die Beklagte Ermittlungen über die Vorschußzahlungen der Bergbau-BG an. Sie stellte die Witwenrente mit Bescheid vom 13. Juni 1969 vom 1. September 1965 an neu fest und errechnete nun eine Überzahlung von 2.190,60 DM, die sie von der Klägerin zurückforderte. Der Widerspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg.
Das SG hat mit Urteil vom 30. Januar 1970 die Bescheide der Beklagten vom 3. April 1969 und 16. Juni 1969 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 1969 dahin abgeändert, daß für die Zeit vor dem 1. Oktober 1968 eine Rückforderung nicht geltend gemacht werden kann. Das SG hat angenommen, das in § 76 RKG angeordnete teilweise Ruhen der knappschaftlichen Witwenrente sei nach dem entsprechend anwendbaren § 75 Abs. 4 RKG erst am 1. Oktober 1968 eingetreten, da der Klägerin erstmalig am 18. September 1968 ein Vorschuß auf die Unfallwitwenrente gezahlt worden sei. Die in den Jahren 1965 und 1966 geleisteten Vorschußzahlungen seien zwar zunächst auf die Witwenrente oder die Witwenbeihilfe geleistet worden; diesen alternativen Charakter hätten sie aber mit der Ablehnung der Witwenrente durch die Bergbau-BG am 15. Juli 1966 verloren. Der Umstand, daß die Bergbau-BG nunmehr die Zahlung von Vorschüssen einstellte, zeige deutlich, daß sie in Wirklichkeit nicht Vorschüsse auf die Witwenrente, sondern auf die Witwenbeihilfe leisten wollte. Das SG hat die Berufung zugelassen.
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil unter Beifügung einer schriftlichen Einverständniserklärung der Klägerin Sprungrevision eingelegt, mit der sie geltend macht, das teilweise Ruhen der knappschaftlichen Witwenrente der Klägerin nach § 76 RKG sei nicht erst am 1. Oktober 1968, sondern bereits am 1. September 1965 eingetreten. Bei den von der Bergbau-BG in den Jahren 1965 und 1966 geleisteten Zahlungen habe es sich um Vorschüsse auf die Witwenrente gehandelt. Mit der Anerkennung des Anspruchs auf die Witwenrente sei der Rechtsgrund für die Witwenbeihilfe weggefallen. Diese Leistung habe ihren Charakter als Witwenbeihilfe verloren und sei rückwirkend zur Witwenrente geworden. Die zunächst als Witwenbeihilfe deklarierten Zahlungen seien daher mit Recht von der Bergbau-BG als Vorschüsse auf die Witwenrente angerechnet worden. Wenn schon das Verletztengeld nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) den Vorschüssen auf die Unfallrente gleichgestellt werde, so müßten aus dem gleichen Rechtsgedanken Vorschüsse auf Witwenbeihilfe den Vorschüssen auf Witwenrente gleichgestellt werden. Die Klägerin habe also den Betrag von 2.190,60 DM zu Unrecht erhalten und müsse ihn zurückzahlen. Bei einem Gesamtrenteneinkommen der Klägerin von monatlich 557,40 DM ließen deren wirtschaftliche Verhältnisse eine Rückzahlung des unrechtmäßig erhaltenen Betrages im Wege der ratenweisen Aufrechnung gegen die fortlaufend zu zahlende Knappschafts-Witwenrente zu.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig.
II
Die Sprungrevision der Beklagten ist zulässig. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Berufung ganz oder teilweise nach den §§ 144 ff des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen und das Urteil nur kraft Zulassung nach § 150 Nr. 1 SGG mit der Berufung anfechtbar ist. Selbst wenn man davon ausginge, daß ein Berufungsausschließungsgrund nicht vorliegt und die Berufung schon nach § 143 SGG statthaft ist, muß die Sprungrevision unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes als statthaft angesehen werden (vgl. BSG 2, 135). Zwar ist die Sprungrevision auch unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes dann nicht statthaft, wenn das SG die Berufung offensichtlich zur Ermöglichung der Sprungrevision zugelassen hat (vgl. SozR Nr. 11 zu § 161 SGG). Es besteht aber hier kein Anhalt für eine solche Annahme, es ist vielmehr davon auszugehen, daß das SG in Übereinstimmung mit den Beteiligten angenommen hat, es liege ein Berufungsausschließungsgrund nach § 146 SGG vor, so daß es der Zulassung der Berufung bedürfe.
Die danach zulässige Sprungrevision der Beklagten hat auch insoweit Erfolg, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückverwiesen werden muß.
Der Bescheid der Beklagten vom 22. August 1966 ist zwar nach § 77 SGG bindend geworden. Gleichwohl war die Beklagte nicht gehindert, eine Neufeststellung der knappschaftlichen Witwenrente vorzunehmen, soweit das Ruhen gemäß § 76 RKG eintrat. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl. SozR Nr. 12 zu § 1301 RVO; BSG in Mitteilungen der Ruhrknappschaft 1963 S. 73 = NJW 1962 S. 2078 mit weiteren Hinweisen) tritt das Ruhen kraft Gesetzes ein, ohne daß es eines feststellenden Verwaltungsaktes bedarf. Das bedeutet aber nicht, daß ein Verwaltungsakt, der ohne Berücksichtigung des Ruhens ergangen ist, ohne weiteres wirkungslos wird, sondern nur, daß er schon bei seinem Erlaß rechtswidrig war, dies allerdings erst durch die rückwirkende Feststellung der Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zutage tritt. Um dem Bescheid des Rentenversicherungsträgers die Wirksamkeit zu nehmen, bedarf es daher der Rücknahme. Zwar enthalten weder das RKG noch die übrigen Sozialversicherungsgesetze für einen solchen Fall eine ausdrückliche Ermächtigung zur Änderung des früheren Bescheides. Die Vorschriften über die Rentenentziehung sind weder unmittelbar noch entsprechend anzuwenden, denn sie regeln nur den Fall, daß ein zunächst rechtmäßiger Bescheid später rechtswidrig wird. Hier handelt es sich aber um einen Bescheid, der schon bei seinem Erlaß rechtswidrig war. Die Rücknahme eines solchen Verwaltungsaktes ist in dem nach § 162 RKG entsprechend anwendbaren § 1744 der Reichsversicherungsordnung (RVO) geregelt. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen jedoch nicht vor. Es kann aber nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber in den Fällen des teilweisen Ruhens der Rente nach §§ 75, 76 RKG (= §§ 1278, 1279 RVO) den Rentenversicherungsträger bei rückwirkender Gewährung einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung an einen vorliegenden rechtswidrigen Bescheid binden wollte, es ist vielmehr davon auszugehen, daß er es unabsichtlich versäumt hat, diesen Tatbestand ausdrücklich zu regeln, daß insoweit also eine Gesetzeslücke vorliegt. § 78, 1. Halbs. RKG (= § 1281, 1. Halbs. RVO) zeigt deutlich, daß der Gesetzgeber sicherstellen wollte, daß der Rentenversicherungsträger das Ruhen der Rente nach §§ 75 Abs. 1, 76 Abs. 1 RKG (= § 1279, 1278 RVO) berücksichtigt, denn andernfalls hätte die angeordnete Meldepflicht des Versicherten keinen rechten Sinn. Wenn auch der Gesetzgeber hierbei die Fälle vorliegender Art vielleicht nicht in seinem Blickfeld gehabt haben mag, so muß doch wegen der gleichen Interessenlage auch diese Gruppe von Fällen mit einbezogen werden, in welchen die Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung erst nach Erlaß des Rentenfeststellungsbescheides des Rentenversicherungsträgers - rückwirkend - festgestellt wird und daher eine Rücknahme des Rentenfeststellungsbescheides erforderlich ist; denn andernfalls würde das dem Gesetzgeber in § 78, 1. Halbs. RKG (= § 1281, 1. Halbs. RVO) vorschwebende Ziel sicherzustellen, daß das teilweise Ruhen der Rente nach §§ 75, 76 RKG (= §§ 1279, 1280 RVO) tatsächlich berücksichtigt wird, nicht erreicht werden. Die Beklagte war daher berechtigt, für die Zeit vom Eintritt des Ruhenstatbestandes an eine Neufeststellung der knappschaftlichen Witwenrente vorzunehmen.
Nach § 76 Abs. 1 RKG ruht eine knappschaftliche Witwenrente zu dem dort näher bestimmten Teil, wenn sie mit einer Witwenrente aus der Unfallversicherung zusammentrifft. Diese Vorschrift will den Doppelbezug von Leistungen einschränken, die demselben Zweck, den Unterhalt des Berechtigten sicherzustellen, dienen. Die in § 76 Abs. 1 RKG genannten Renten treffen nicht erst dann zusammen, wenn sie durch Bescheid festgestellt sind, sondern schon dann, wenn die entsprechenden materiellen Ansprüche bestehen. Nach § 76 Abs. 1 RKG ist das Ruhen also schon am 1. Juni 1965 eingetreten.
Es ist allerdings zweifelhaft, ob auf die der Klägerin gewährte Witwenrente für die Zeit vom 1. Juni 1965 bis zum 31. August 1965 der § 76 Abs. 1 RKG überhaupt anzuwenden ist, denn nach § 76 Abs. 3 RKG gilt diese Vorschrift nicht für die nach § 69 Abs. 5 RKG berechnete Witwenrente. Aus dem Neufeststellungsbescheid vom 3. April 1969 geht nicht hervor, aus welchem Grunde die Beklagte die Rente für die Zeit vor dem 1. September 1965 vom Ruhen freigelassen hat. Vieles spricht dafür, daß die Beklagte der Klägerin abweichend von dem Wortlaut des Feststellungsbescheides vom 22. August 1966 für die ersten drei Monate die Rente nach § 69 Abs. 5 RKG berechnet hat, so daß sie wegen der in § 76 Abs. 3 RKG normierten Unanwendbarkeit des § 76 Abs. 1 RKG vom Ruhen freiblieb. In diesem Falle wären nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Urteil vom 29. April 1971 - 5 RKn 34/69) sowohl die §§ 76 Abs. 5 i.V.m. 75 Abs. 4 RKG als auch § 85 Abs. 2 RKG unanwendbar, weil § 76 Abs. 3 RKG als spezielle Vorschrift für die Witwenrente der ersten drei Monate nach dem Tode des Versicherten den genannten Vorschriften vorgeht. Das teilweise Ruhen der Witwenrente der Klägerin hätte bei dem unterstellten Sachverhalt am 1. September 1969 begonnen, also zu dem von der Beklagten angenommenen Zeitpunkt.
Auch wenn man mit dem Wortlaut des Feststellungsbescheides vom 22. August 1966 davon ausgeht, daß es sich bei der am 1. Juni 1965 beginnenden Witwenrente nicht um eine nach § 69 Abs. 5 RKG, sondern um eine nach § 69 Abs. 2 RKG berechnete Witwenrente handelt, bleibt die Rente keinesfalls über den 1. September 1965 hinaus vom Ruhen frei.
Nach dem gemäß § 76 Abs. 5 RKG (= § 1279 Abs. 5 RVO) entsprechend anwendbaren § 75 Abs. 4 RKG (= § 1278 Abs. 4 RVO) wird die knappschaftliche Witwenrente jedoch - abweichend von § 76 Abs. 1 RKG (= § 1279 Abs. 1 RVO) - unverkürzt bis zum Ende des Monats gewährt, in dem die Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zum ersten Mal ausgezahlt wird. Diese Vorschrift will verhindern, daß die knappschaftliche Rente gekürzt wird, bevor dem Berechtigten die Rente aus der Unfallversicherung tatsächlich zur Verfügung steht. Sie erfaßt nur den Fall, daß die knappschaftliche Rente zu einem Zeitpunkt festgestellt und ausgezahlt wird, in dem die Unfallrente noch nicht ausgezahlt wird. In diesem Fall bedarf der Berechtigte zur Sicherstellung seines Lebensunterhalts zunächst noch der vollen knappschaftlichen Rente, weil ihm Zahlungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung noch nicht zur Verfügung stehen. Die Vorschrift erfaßt aber nicht die Fälle, in denen als erstes die Rente aus der Unfallversicherung und erst danach die knappschaftliche Rente ausgezahlt wird. In diesen Fällen bedarf es der Schutzfunktion des § 75 Abs. 4 RKG (= § 1278 Abs. 4 RVO) nicht, weil der Berechtigte im Augenblick der Feststellung der knappschaftlichen Rente bereits über beide Rentenzahlungen verfügt. Wird als erstes die Rente aus der Unfallversicherung und dann erst die knappschaftliche Rente ausgezahlt, ist § 75 Abs. 4 RKG (= § 1278 Abs. 4 RVO) also nicht anwendbar.
Dagegen ist in einem solchen Fall § 85 Abs. 2 RKG (= § 1294 RVO) anzuwenden, wonach die knappschaftliche Rente für den Monat, in dem das Ruhen eintritt, für den ganzen Monat gezahlt wird. Zwar ist § 75 Abs. 4 RKG gegenüber § 85 Abs. 2 RKG die spezielle Vorschrift, die die Anwendbarkeit der allgemeinen Vorschrift des § 85 Abs. 2 RKG ausschließt. Das gilt aber nur, soweit die Wirkung des § 75 Abs. 4 RKG (= § 1278 Abs. 4 RVO) reicht, also nicht für die Gruppe von Fällen, bei denen die Unfallrente vor der knappschaftlichen Rente ausgezahlt wird; denn diese Fälle hat der Gesetzgeber in § 75 Abs. 4 RKG (= § 1278 Abs. 4 RVO) bewußt ungeregelt gelassen und ungeregelt lassen können, weil der Berechtigte bei Auszahlung der Rente aus der Rentenversicherung stets schon Zahlungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zur Bestreitung seines Lebensunterhalts zur Verfügung hat. Insoweit ist daher Raum für die Anwendung des § 85 Abs. 2 RKG. Diese Vorschrift will erreichen, daß sich der Versicherte während des Monats, in welchem zwei Renten zusammentreffen, auf das Ruhen einstellen kann, und will darüber hinaus vermeiden, daß unter Umständen sogar für diesen Monat bereits gezahlte Renten zum Teil zurückgezahlt werden müssen. Dieser Grund trifft zwar auch für die Regelung des § 75 Abs. 4 RKG (= § 1278 Abs. 4 RVO) zu, doch hat diese Vorschrift darüber hinaus - und zwar hauptsächlich - den Zweck sicherzustellen, daß die Rente aus der Rentenversicherung erst - teilweise - ruht, wenn dem Versicherten Zahlungen sowohl aus der Rentenversicherung als auch aus der gesetzlichen Unfallversicherung zur Verfügung stehen. Die mit beiden Vorschriften verfolgten Zwecke decken sich daher nicht. Auch dies spricht für die Anwendung des § 85 Abs. 2 RKG (= § 1294 RVO) auf die Gruppe von Fällen, bei der § 75 Abs. 4 RKG (= § 1278 Abs. 4 RVO) unanwendbar ist.
Im vorliegenden Fall ist der Klägerin die Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung bereits vor Feststellung der knappschaftlichen Witwenrente ausgezahlt worden. Zwar ist die Witwenrente aus der Unfallversicherung erst nach der knappschaftlichen Witwenrente festgestellt worden. Das ist aber unerheblich, denn es kommt nicht auf die Feststellung, sondern auf die Auszahlung der Witwenrente aus der Unfallversicherung an. Die Klägerin hat in der Zeit vom 21. Juli 1965 bis zum 27. Mai 1966 insgesamt elf Vorschußzahlungen von je 300,- DM "auf die gegebenenfalls festzusetzenden Leistungen" erhalten. Diese Vorschußzahlungen waren zunächst zwar nicht als Leistungen auf die Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung gekennzeichnet, sondern hatten einen unbestimmten Charakter. Dieser unbestimmte Charakter ist nicht etwa dadurch beseitigt worden, daß die Bergbau-BG den Anspruch auf die Witwenrente mit Bescheid vom 15. Juli 1966 ablehnte, solange dieser Bescheid noch nicht bindend war. Davon abgesehen kommt gegenüber dem vom Senat am 2. Juli 1965 entschiedenen Fall (vgl. SozR Nr. 3 zu § 75 RKG) hinzu, daß die Bergbau-BG nicht gleichzeitig mit der Ablehnung der Witwenrente die Witwenbeihilfe festgestellt hat, sondern daß sie sich diese Feststellung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Anspruch auf die Witwenrente vorbehalten hat. Die Vorschußzahlungen waren weiterhin auf die "gegebenenfalls festzusetzenden Leistungen" erbracht. Dieser unbestimmte Charakter ist erst durch die rechtskräftige Verurteilung zur Gewährung der Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung beseitigt worden. Damit steht fest, daß die Klägerin Anspruch auf Witwenrente hat. In einem solchen Fall sind im Sinne des § 75 Abs. 4 RKG (= § 1278 Abs. 4 RVO) diese Vorschüsse als Vorleistungen auf den Rentenanspruch anzusehen, weil die Interessenlage hier keine andere ist als in den Fällen, in denen es sich von vornherein um Rentenleistungen oder um ausdrücklich als solche gekennzeichnete Vorschußleistungen auf eine solche Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung handelt.
Dies kann allerdings nur gelten, wenn derartige unbestimmte Leistungen von demselben Versicherungsträger demselben Berechtigten wegen desselben Unfalls oder derselben Berufskrankheit zum Zwecke des Unterhalts für dieselbe Zeit wie die später - rückwirkend - festgestellte Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung selbst gewährt werden, und wenn diese Leistungen später auf den Rentenanspruch angerechnet werden. In einem solchen Fall standen dem Versicherten tatsächlich für dieselbe Zeit bereits dem Unterhalt dienende Leistungen aus der Unfallversicherung und aus der Rentenversicherung zur Verfügung, so daß der Schutzzweck des § 75 Abs. 4 RKG (= § 1278 Abs. 4 RVO) nicht durchgreift. Muß danach davon ausgegangen werden, daß die Leistungen auf die Witwenrente aus der Unfallversicherung bereits am 21. Juli 1965 erbracht worden sind, so steht fest, daß die Witwenrente aus der Unfallversicherung vor der Feststellung der knappschaftlichen Witwenrente ausgezahlt wurde. Das bedeutet aber, daß nicht § 75 Abs. 4 RKG (= § 1278 Abs. 4 RVO), sondern § 76 Abs. 1 RKG (= § 1279 Abs. 1 RVO) i.V.m. § 85 Abs. 2 RKG (= § 1294 RVO) anzuwenden ist, so daß die knappschaftliche Witwenrente jedenfalls nicht über August 1965 hinaus unverkürzt zu zahlen war.
Den ruhenden Teil der knappschaftlichen Witwenrente in Höhe von 2.190,60 DM hat die Beklagte der Klägerin zu Unrecht gezahlt. Sie hat daher in dieser Höhe gegen die Klägerin grundsätzlich einen Rückforderungsanspruch. Das ergibt sich aus den §§ 93 Abs. 2, 90 RKG, die einen solchen Rückforderungsanspruch voraussetzen. Nach § 93 Abs. 2 Satz 2 RKG darf die Beklagte eine zu Unrecht erbrachte Leistung allerdings nur unter den dort näher bestimmten Voraussetzungen zurückfordern. Erste Voraussetzung ist, daß die Beklagte für die Überzahlung kein Verschulden trifft. Die Beklagte konnte im vorliegenden Fall die Überzahlung nicht ablehnen. Im Zeitpunkt der Feststellung der knappschaftlichen Witwenrente am 22. August 1966 stand der Klägerin zwar materiell-rechtlich bereits ein Anspruch auf Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu, doch konnte die Beklagte diese erst nach deren Feststellung durch die Bergbau-BG bei Anwendung des § 76 RKG (= § 1279 RVO) berücksichtigen, weil das Bestehen dieses Anspruchs bis dahin noch nicht mit hinreichender Sicherheit feststand. Die Beklagte mußte daher die knappschaftliche Witwenrente ohne Anwendung von Ruhensvorschriften feststellen. Erst nachdem die Bergbau-BG den Anspruch auf die Witwenrente aus der Unfallversicherung anerkannt hatte, konnte die Beklagte diese - im Wege einer Neufeststellung - berücksichtigen. Die Überzahlung beruht daher nicht auf einem Verschulden der Beklagten. Die Klägerin mußte auch wissen, daß ihr die Leistung nicht in der gewährten Höhe zustand. Ist der Empfänger einer Rente aus der Rentenversicherung erkennbar davon überzeugt, daß er zugleich den gesetzlichen Tatbestand für die Gewährung einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung erfüllt, so kann er, wenn ihm ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit später unter Billigung seiner Rechtsauffassung die Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung rückwirkend rechtskräftig zuerkennt, der Rückforderung der wegen Zusammentreffens mit dieser Rente ruhenden und daher überzahlten knappschaftlichen Rente nicht entgegenhalten, er habe bei ihrem Empfang im Sinne des § 93 Abs. 2 Satz 2 RKG nicht gewußt oder nicht wissen müssen, daß sie ihm nicht (in dieser Höhe) zustehe (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 24. Juni 1971 - 5 RKn 49/68 -). Die in dem zitierten Urteil zum Ausdruck gebrachten Grundgedanken sind auch im vorliegenden Fall anzuwenden. Beim Empfang der knappschaftlichen Witwenrente war die Klägerin davon überzeugt, daß ihr die Witwenrente aus der Unfallversicherung zustand. Das hat sie dadurch zu erkennen gegeben, daß sie das Verfahren vor dem SG betrieb. Sie kann sich daher nicht darauf berufen, sie habe beim Empfang der knappschaftlichen Witwenrente nicht gewußt oder nicht wissen müssen, daß sie ihr nicht in dieser Höhe zustehe.
Gleichwohl kann noch nicht abschließend entschieden werden, ob der Beklagten gegen die Klägerin ein Rückforderungsanspruch in der geltend gemachten Höhe zusteht. Nach § 93 Abs. 2 Satz 2 RKG darf die Beklagte den zu Unrecht geleisteten Betrag nur zurückfordern, soweit die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers vertretbar ist. Das SG hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht - keinerlei Feststellungen über die wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin getroffen. Da der Senat als Revisionsgericht diese fehlenden Feststellungen nicht treffen kann, ist er gehindert, über den streitigen Anspruch abschließend zu entscheiden. Das SG wird diese Feststellungen nachzuholen haben.
Das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
Fundstellen