Entscheidungsstichwort (Thema)
Schüler-Unfallversicherung. Unfallversicherungsschutz auf Wegen zum und vom Kindergarten. Unfallversicherungsschutz bei geringfügiger Unterbrechung des Weges vom Kindergarten
Leitsatz (redaktionell)
1. Wege, die Kinder zum und vom Besuch des Kindergartens zurücklegen, unterliegen nach RVO § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst a iVm RVO § 550 Abs 1 grundsätzlich denselben versicherungsrechtlichen Grundsätzen wie die Wege von Arbeitnehmern zu oder von dem Ort der versicherten Tätigkeit; für die Annahme einer geringfügigen Unterbrechung des Weges sind jedoch nicht so strenge Maßstäbe wie bei Erwachsenen anzulegen.
2. Ein 5jähriges Kind, das auf dem Heimweg vom Kindergarten nur wenige Meter von der elterlichen Wohnung und nur ganz kurz nach dem Zeitpunkt, in dem es von der Bushaltestelle kommend an seiner elterlichen Wohnung vorbeiging, verunglückt, unterbricht den Heimweg nur geringfügig, so daß der Unfallversicherungsschutz erhalten bleibt.
Orientierungssatz
Der bei der Beurteilung des Versicherungsschutzes während einer geringfügigen Unterbrechung des Weges nach oder von dem Kindergarten anzuwendende Begriff der Geringfügigkeit kann nicht nach absoluten Maßstäben beurteilt werden, vielmehr sind die gesamten Umstände des Einzelfalles maßgebend. Der Zeitfaktor wird bei dieser Beurteilung zwar als ein besonders wichtiger Umstand anzusehen sein, doch dürfen andere für den Einzelfall bedeutsame Tatsachen von der Gesamtwürdigung nicht ausgeschlossen werden. Im Rahmen dieser Gesamtwürdigung sind insbesondere die von dem natürlichen Spieltrieb der Kinder und ggf einem dem Alter entsprechenden Gruppenverhalten ausgehenden Gefahren besonders zu beachten.
Normenkette
RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01, § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. a
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des beklagten Landes gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland Pfalz vom 27. Juli 1977 wird zurückgewiesen.
Das beklagte Land hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der am 4. Januar 1970 geborene Kläger wohnt mit seinen Eltern in A, M Straße .... Er besuchte im Jahre 1975 einen Kindergarten in I. Die Unterbringung im Kindergarten dauerte von 8.00 bis 12.00 Uhr. Anschließend wurden die Kinder mit einem Bus nach Hause gefahren. Der Kläger wurde an der in der M Straße in A etwa 100 m von der Wohnung der Eltern entfernten Bushaltestelle von seiner Mutter abgeholt. Am 7. April 1975 fuhr der Bus bereits um 11.50 Uhr vom Kindergarten ab. Die Mutter des Klägers war hiervon nicht unterrichtet und bei der Ankunft des Busses in A noch nicht an der Haltestelle. Der Kläger ging daraufhin zusammen mit einem Nachbarkind, das denselben Kindergarten besuchte und - von der Haltestelle aus etwas weiter entfernt - in der M Straße ... wohnt, in Richtung auf sein Elternhaus. Gegen 12.10 Uhr wurde der Kläger auf der M Straße von einem Pkw angefahren und erheblich verletzt. Die Unfallstelle lag zwischen dem Elternhaus und dem Wohnhaus des Nachbarkindes.
Das beklagte Land lehnte mit Bescheid vom 18. Dezember 1975 die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab, weil der versicherte Heimweg für den Kläger an der Außentür seiner Wohnung geendet und sich der Unfall auf einem sogenannten Abweg ereignet habe. Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage durch Urteil vom 20. Juli 1976 abgewiesen, da der Kläger auf einem Abweg verunglückt und eine andere rechtliche Beurteilung auch nicht gerechtfertigt sei, weil der Kläger damals erst 5 Jahre alt gewesen sei.
Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 27. Juli 1977 das Urteil des SG aufgehoben und das beklagte Land verurteilt, den Kläger wegen der Folgen des Unfalles vom 7. April 1975 zu entschädigen. Es hat ausgeführt: Der Kläger sei üblicherweise an der Bushaltestelle von seiner Mutter abgeholt worden, die ihn und das Nachbarkind nach Hause gebracht habe. Dabei habe der Weg zunächst an der eigenen Wohnung vorbei zu der nur wenige Meter weiter gelegenen Nachbarwohnung geführt, und anschließend habe der Kläger mit seiner Mutter die eigene Familienwohnung aufgesucht. Am Unfalltage sei der Kläger allein den Gefahren des Heimweges zwischen der Bushaltestelle und der elterlichen Wohnung ausgesetzt gewesen. Diese Gefahren hätten sich im Hinblick auf sein kindliches Alter und seinen geringen Reifegrad gerade darin geäußert, daß er den direkten Heimweg verlassen und zunächst ein anderes Ziel angesteuert habe. Diese Gefährdung habe hier besonders nahegelegen, weil der Kläger in Begleitung seiner Mutter immer erst bis zur Wohnung des Nachbarkindes gegangen sei. Daß er daher am Unfalltage mit dem Nachbarkind gewohnheitsgemäß an der eigenen Wohnung zunächst vorbeigegangen sei, schließe den Versicherungsschutz nicht aus; denn es sei verursacht durch die in diesem Alter mit der Zurücklegung eines unbeaufsichtigten Weges verbundenen typischen Gefahren.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das beklagte Land hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Es trägt vor: Es sei den tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht zu entnehmen, ob sich die Bushaltestelle auf der Straßenseite befinde, auf der die Wohnung des Klägers liege oder auf der gegenüberliegenden Seite. Es sei auch nicht erkennbar, worauf die Feststellung des LSG beruhe, daß der Kläger in Begleitung seiner Mutter immer erst bis zur Wohnung des Nachbarkindes gegangen sei, ehe er die elterliche Wohnung aufgesucht habe. Dazu hätte es vielmehr einer Ortsbesichtigung und der Vernehmung von Zeugen bedurft. Somit sei die Klage entweder abzuweisen, weil der Kläger im Unfallzeitpunkt bereits über das Wohnhaus Nr. 46 hinaus weitergegangen gewesen sei, oder aber das angefochtene Urteil müsse aufgehoben werden, um die örtlichen Gegebenheiten und den Weg des Klägers vor dem Unfall genau festzustellen.
Das beklagte Land beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 20. Juli 1976 zurückzuweisen,
hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die zulässige Revision des beklagten Landes ist nicht begründet.
Der Kläger war währen des Besuchs des Kindergartens in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert (s. § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. a der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Er stand auch auf dem Wege nach und von dem Kindergarten gemäß § 550 Abs. 1 RVO unter Versicherungsschutz. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG verunglückte der Kläger allerdings nicht auf dem direkten Weg von der Bushaltestelle zum Elternhaus, sondern auf dem Weg zwischen dem Elternhaus und dem von der Haltestelle weiter entfernten Wohnhaus des Nachbarkindes. Das LSG hat jedoch zutreffend entschieden, daß der Kläger dennoch im Unfallzeitpunkt unter Versicherungsschutz stand.
Nach den in ständiger Rechtsprechung und unter nahezu einhelliger Zustimmung des Schrifttums zum Versicherungsschutz auf dem Wege nach und von dem Ort der Tätigkeit entwickelten Grundsätzen besteht während einer persönlichen Verrichtungen dienenden erheblichen Unterbrechung dieses Weges kein Versicherungsschutz, während der Versicherungsschutz aufrechterhalten bleibt, wenn die Besorgung hinsichtlich ihrer Zeitdauer und der Art ihrer Erledigung keine rechtlich ins Gewicht fallende und somit keine erhebliche Unterbrechung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit bedeutet, sondern nur als geringfügig anzusehen ist (vgl. u. a. BSG SozR Nr. 5 und Nr. 28 zu § 543 RVO a. F.; BSG SozR 2200 § 549 Nr. 1, § 539 Nr. 21; BSGE 43, 113 = SozR 2200 § 550 Nr. 26; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 8. Aufl., S. 486 t und x sowie Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl. § 550 Anm. 17 a und d -jeweils mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Wie der Senat in seinem Urteil vom 25. Januar 1977 (BSGE 43, 113, 115) zum Versicherungsschutz von Schülern während des Besuchs allgemeinbildender Schulen auf dem Schulweg ausgeführt hat, sind der Gesetzessystematik und der Entstehungsgeschichte des Gesetzes über die Unfallversicherung für Schüler und Studenten sowie Kinder in Kindergärten vom 18. März 1971 (BGBl I 237) keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß die angeführten Grundsätze zum Versicherungsschutz während der Unterbrechung des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit insoweit für den Versicherungsschutz für Schüler gem. § 550 Abs. 1 RVO nicht gelten sollen. Entsprechendes gilt für die Wege von Kindern zum und von dem Besuch des Kindergartens. Der Senat hat in diesem Urteil jedoch näher ausgeführt, daß die strengen Maßstäbe, die für die Annahme einer geringfügigen Unterbrechung des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit für Erwachsene zu beachten sind, dem vielfältigen Spieltrieb und dem Gruppenverhalten der Schulkinder im Zusammenhang mit dem Schulweg nicht gerecht werden; es entspricht vielmehr auch der Verkehrsanschauung, daß derartige Unterbrechungen regelmäßig mit zum Schulweg gehören (Brackmann aaO, S. 483 s). Dies hat erst recht für die Unterbrechung des Weges nach und von dem Kindergarten zu gelten. Der bei der Beurteilung des Versicherungsschutzes während einer geringfügigen Unterbrechung des Weges nach oder von dem Kindergarten anzuwendende Begriff der Geringfügigkeit kann ebenfalls nicht nach absoluten Maßstäben beurteilt werden, vielmehr sind die gesamten Umstände des Einzelfalles maßgebend (BSG aaO S. 117). Der Zeitfaktor wird bei dieser Beurteilung zwar als ein besonders wichtiger Umstand anzusehen sein, doch dürfen andere für den Einzelfall bedeutsame Tatsachen von der Gesamtwürdigung nicht ausgeschlossen werden (BSG aaO; Brackmann aaO). Im Rahmen dieser Gesamtwürdigung sind insbesondere die von dem natürlichen Spieltrieb der Kinder und ggf. einem dem Alter entsprechenden Gruppenverhalten ausgehenden Gefahren besonders zu beachten.
Der Kläger hat nach der Gesamtwürdigung aller vom LSG festgestellten Umstände, wie das Berufungsgericht zutreffend entschieden hat, am Unfalltag den Weg von dem Besuch des Kindergartens nach Hause nur geringfügig unterbrochen. Er verunglückte nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG nur wenige Meter von der elterlichen Wohnung und nur ganz kurz nach dem Zeitpunkt, in dem er von der Bushaltestelle kommend an seiner elterlichen Wohnung vorbeiging. Neben dem Zeitfaktor und dem Unfallort spricht auch die Art der Verrichtung während Unterbrechung des Heimweges dafür, diese Unterbrechung nur als geringfügig anzusehen und den Versicherungsschutz des Klägers während dieser Zeit nicht auszuschließen; denn es entspricht dem durch den gemeinsamen Besuch des Kindergartens von Nachbarkindern verstärkten natürlichen Spieltrieb der Kinder, den Weg von dem Kindergarten zu unterbrechen oder einen Umweg einzuschlagen, um ein anderes Kind vom Kindergarten nach Hause zu bringen. Dies gilt vor allem, wenn die Kinder wegen der vorzeitigen Ankunft des Busses nicht rechtzeitig von Erwachsenen abgeholt werden konnten.
Die Entscheidung über den Versicherungsschutz des Klägers im Unfallzeitpunkt ist dabei nicht davon abhängig, ob er sich noch auf der Straßenseite befand, auf der die Wohnung seiner Eltern liegt, oder auf die andere Seite der Straße gegangen war, auf welcher das mit ihm den Kindergarten besuchende Nachbarkind wohnt. Ebenso ist es unerheblich, auf welcher Straßenseite der Bus hielt und ob an anderen Tagen, wenn der Bus planmäßig eintraf, die Mutter des Klägers das Nachbarkind zunächst nach Hause zu bringen pflegte. Deshalb bedarf es keiner Entscheidung, inwieweit in den Ausführungen in der Revisionsbegründung über die Lage der Haltestelle und der Grundstücke M Straße 46 und 45, auf denen sich die Wohnungen der Eltern des Klägers und des Nachbarkindes befinden, substantiierte Verfahrensrügen entnommen werden können. Die tatsächlichen Feststellungen zum Unfallzeitpunkt und zur Unfallstelle hat die Revision jedenfalls nicht mit wirksamen Verfahrensrügen angegriffen. Danach ist aber davon auszugehen, daß der Kläger kurz nach der Ankunft des Busses in der M Straße zwischen seiner elterlichen Wohnung und der nur wenige Meter davon entfernten Wohnung des Nachbarkindes, das mit ihm den Kindergarten besuchte und das er ein Stück des Weges begleitete, verunglückte.
Die Revision ist daher zurückzuweisen, da der Kläger während einer nur geringfügigen Unterbrechung seines Weges von dem Besuch des Kindergartens verunglückte und deshalb im Unfallzeitpunkt unter Versicherungsschutz stand.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, daß nicht ausgeschlossen werden kann, daß dem im Revisionsverfahren nicht vertretenen Kläger z. B. durch das Aufsuchen eines Rechtsanwalts, der jedoch eine Vertretung nicht für erforderlich erachtete, außergerichtliche Kosten entstanden sind.
Fundstellen