Entscheidungsstichwort (Thema)
Hinterbliebenenrente aus der Unfallversicherung. Berufskrankheit und anderes Leiden als Todesursache
Orientierungssatz
Für den Fall, daß eine Berufskrankheit und ein anderes Leiden den Tod des Versicherten gemeinsam verursacht haben, ohne daß es darauf ankommt, ob und gegebenenfalls zu welchem Zeitpunkt die Berufskrankheit oder das andere Leiden für sich allein den Tod herbeigeführt hätte; in solchen Fällen ist die Berufskrankheit als rechtlich wesentliche Teilursache anzusehen (vgl BSG 1965-01-14 5 RKn 57/60 = BSGE 22, 200).
Normenkette
RVO § 590 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 18.02.1960) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 29.05.1957) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. Februar 1960 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der am 9. Januar 1955 verstorbene Ehemann der Klägerin war bis 1944 als Hauer im Steinkohlenbergbau tätig. Er bezog von der Beklagten eine Unfallrente wegen Silikose, und zwar seit Mai 1953 nach einer Erwerbsminderung von 60 v. H. Im April 1954 stellte er einen Erhöhungsantrag. Bei einer Untersuchung wurde festgestellt, daß neben der Silikose ein Herzklappenfehler mit Verengung der zweizipfeligen Klappe vorhanden sei, wobei der Herzklappenfehler im Vordergrund des Krankheitsgeschehens stehe; die Minderung der Erwerbsfähigkeit infolge der Silikose betrage jetzt 70 v. H. Nachträglich erhöhte die Beklagte die Rente von März 1954 an auf 70 v. H.
Den Antrag der Klägerin auf Witwenrente lehnte die Beklagte ab, weil der Versicherte nicht an der Berufskrankheit, sondern an seinem schweren Herzleiden verstorben sei. Das Sozialgericht verurteilte die Beklagte, der Klägerin vom 9. Januar 1955 an Witwenrente zu zahlen. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Beklagten zurück. Zur Begründung führte es aus: Der Ehemann der Klägerin sei an einer Berufskrankheit, einer Silikose, verstorben; diese sei ursächlich für den Tod gewesen. Ursache im Rechtssinne sei allerdings nicht jede Bedingung des Erfolges, sondern nur diejenige, die wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt habe. Diese wesentliche Mitwirkung setze zunächst voraus, daß es sich überhaupt um eine Ursache im naturwissenschaftlichen Sinne, d. h. um eine Bedingung gehandelt habe. In diesem Sinne sei die Silikose hier als Ursache anzusehen. Hätten mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, so seien sie rechtlich nur dann nebeneinander stehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges annähernd gleichwertig seien; komme einem der Umstände gegenüber dem anderen eine überragende Bedeutung zu, so sei der betreffende Umstand allein Ursache im Rechtssinne. Wenn auch die von der Silikose unabhängige Mitralstenose nach den Äußerungen von Dr. H und Prof. Dr. di B, die darin mit dem Gutachten von Prof. Dr. M übereinstimmen, die überwiegende Todesursache gewesen sei, so könne daraus doch nicht gefolgert werden, daß sie allein die wesentliche Ursache gewesen sei, da der Begriff der wesentlichen Verursachung nicht mit dem der überwiegenden Verursachung identisch sei. Die Silikose scheide als wesentliche Ursache nur dann aus, wenn der Mitralstenose eine "überragende" Bedeutung zukäme, wenn also die Silikose ganz erheblich in den Hintergrund träte und für den Eintritt des Todes von sehr viel geringerer Bedeutung gewesen wäre. Dies sei aber nicht der Fall. Beide Erkrankungen hatten vielmehr gemeinsam im wesentlichen Maße das zum Tode führende Herzversagen Verursacht; keiner von ihnen komme eine überragende Bedeutung zu, die die andere als unwesentlich erscheinen lassen könnte. Beide Krankheiten seien deshalb wesentliche Mitursachen. Revision wurde zugelassen.
Die Beklagte legte gegen das Urteil Revision ein.
Sie trägt vor, das LSG haben den Begriff des ursächlichen Zusammenhangs in der Unfallversicherung verkannt. Es vermenge die Frage des ursächlichen Zusammenhangs im naturwissenschaftlichen Sinne mit der Ursache im Rechtssinne. Bei rein naturwissenschaftlicher Betrachtungsweise sei eine Unterscheidung zwischen wesentlichen und unwesentlichen Kausalfaktoren nicht möglich. Bei der Ursache im Rechtssinne seien gewisse Kausalfaktoren als wesentlich und andere als nicht wesentlich zu beurteilen. Wesentliche Ursache in diesem Sinne sei ein Kausalfaktor, der für die rechtliche Beurteilung der Kausalitätsfrage nicht nur rechtserheblich, sondern auch materiell entscheidend sei. Für die Beurteilung der Wesentlichkeit eines der Kausalfaktoren als rechtserhebliche Teilursache unter verschiedenen konkurrierenden Faktoren habe das Reichsversicherungsamt in jahrzehntelanger Rechtsprechung als maßgeblich den Grundsatz herausgestellt, es komme entscheidend darauf an, ob der Tod durch Unfallfolgen um mindestens ein Jahr beschleunigt worden sei. Diesen Gesichtspunkt habe aber das LSG verkannt. Es spreche zwar von der überragenden Bedeutung der in Betracht kommenden Leiden, schweige sich jedoch darüber aus, welches die Maßstäbe für die von ihm verlangte überragende Bedeutung seien und greife stattdessen zumeist wieder auf die naturwissenschaftlichen Maßstäbe zurück.
Das LSG habe auch gegen Verfahrensvorschriften verstoßen, wenn es dem Gutachten von Dr. H gegenüber der abweichenden Meinung anderer erfahrener Pathologen, u. a. der Professoren Dr. M und Dr. di B, den Vorzug gegeben habe. Dr. M habe die Obduktion des Versicherten vorgenommen. Ihm habe deshalb nicht nur unmittelbares, sondern auch ein besseres Anschauungsmaterial als Dr. H zur Verfügung gestanden.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen vom 18. Februar 1960 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 29. Mai 1957 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Revision ist zulässig, konnte aber keinen Erfolg haben.
Das LSG hat festgestellt, sowohl die Silikose als auch die Mitralstenose hätten im wesentlichen Maße das zum Tode führende Herzversagen verursacht. Zwar habe die Mitralstenose noch stärker schädigend auf das rechte Herz eingewirkt, jedoch sei dadurch die schädigende Wirkung der Silikose nicht geringer und damit unerheblich geworden. Vielmehr hätten beide Erkrankungen gemeinsam im wesentlichen Maße das zum Tode führende Herzversagen verursacht. Dabei hat das LSG sich auf das Gutachten Dr. H gestützt und weiter ausgeführt, auch die Professoren Dr. M und Dr. di B, die einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Silikose und Tod verneint haben, hätten ausgesprochen, daß die Silikose das rechte Herz in nicht unerheblichem Maße belastet habe. Die Revision meint zwar, das LSG habe sich zu Unrecht auf Dr. H und nicht auf die Professoren Dr. M und Dr. di B gestützt, weil insbesondere Dr. M als Obduzent ein wesentlich besseres Anschauungsmaterial zur Verfügung gestanden habe. - Damit sind jedoch keine wirksamen Verfahrensrügen erhoben. Denn es ist nach § 128 SGG Aufgabe des LSG als Tatsachengericht, bei sich widersprechenden Gutachten sich dem einen oder dem anderen anzuschließen. Das LSG konnte daher bei Abwägung der Gutachten dasjenige von Dr. H als zutreffend ansehen, auch wenn dieser Gutachter nicht selbst die Obduktion vorgenommen hat. Die Schlußfolgerungen des LSG könnten daher nur beanstandet werden, wenn sie willkürlich wären oder gegen Denkgesetze verstießen. Dies ist aber nicht der Fall. Der Senat ist daher nach § 163 SGG an diese tatsächlichen Feststellungen des LSG gebunden.
Wenn nun das LSG weiter zu dem Ergebnis gekommen ist, beide Erkrankungen seien wesentliche Mitursachen, von denen keiner eine überragende Bedeutung zukomme, so ist diese Schlußfolgerung nicht zu beanstanden. Sie steht mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Frage des ursächlichen Zusammenhangs im Rechtssinne bei Vorliegen mehrerer Ursachen im Einklang. Insbesondere hat der erkennende Senat in seinem Urteil vom 14. Januar 1965 - 5 RKn 57/60 - für den Fall, daß eine Berufskrankheit und ein anderes Leiden den Tod des Versicherten gemeinsam verursacht haben, ausgeführt, es bestehe Anspruch auf Hinterbliebenenrente, wenn die Berufskrankheit den Tod in einem zumindest nicht unerheblichen Maße mitverursacht habe, ohne daß es darauf ankomme, ob und gegebenenfalls zu welchem Zeitpunkt die Berufskrankheit oder das andere Leiden für sich allein den Tod herbeigeführt hätte; in solchen Fällen sei die Berufskrankheit als rechtlich wesentliche Teilursache anzusehen. Es sei dann ohne Bedeutung, ob die Berufskrankheit für sich allein das Leben des Versicherten wenigstens um ein Jahr verkürzt habe. In der gleichen Richtung liegen die Schlußfolgerungen des LSG. Sie beruhen ihrerseits wieder auf den nach § 163 SGG für den erkennenden Senat bindenden Feststellungen über die Auswirkungen beider Erkrankungen auf den Tod. Dieser ist daher als Folge der Silikose anzusehen; damit ist der Anspruch auf Hinterbliebenenrente begründet.
Unter diesen Umständen kommt es nicht mehr darauf an, ob der Anspruch auf Witwenrente auch auf § 589 Abs. 2 Satz 1 RVO nF gestützt werden kann, ob also diese Vorschrift nach Art. 4 § 2 Abs. 1 des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 (BGBl I S. 241) auch auf vor dem Inkrafttreten dieser Neuregelung (1. Juli 1963) eingetretene Versicherungsfälle anzuwenden ist.
Die Revision muß daher zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.
Fundstellen