Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. Februar 1990 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger, der von 1974 bis April 1986 Zeitsoldat in der Bundeswehr war, begehrt einen Ausgleich nach § 85 Soldatenversorgungsgesetz (SVG) für die Zeit von Januar 1984 bis April 1986 wegen Querschnittslähmung sowie Beeinträchtigung der Blasen- und Mastdarmfunktion nach Polyradiculomyelitis. Er führt die ab Juli 1983 behandelte Rückenmarkserkrankung auf den dienstlichen Umgang mit CS-Tränengas sowie mit Röhrchen zum Messen von gefährlichen chemischen Stoffen als ABC-Unteroffizier in einem Jagdbombergeschwader zurück. Entgegen einem truppenärztlichen Gutachten von Stabsarzt Dr. S …, aber entsprechend einer Stellungnahme von Dr. M … vom Sanitätsamt der Bundeswehr lehnte die Beklagte einen Ausgleich sowohl aufgrund eines Rechtsanspruches als aufgrund einer Ermessensentscheidung ab (Bescheid vom 21. September 1984, Beschwerdeentscheidung vom 27. März 1985). Das Sozialgericht (SG) folgte einem von dem Internisten und Arbeitsmediziner Prof. Dr. L … am 1. März 1989 erstatteten Gutachten mit neurologischem Zusatzgutachten von Prof. Dr. S … vom 26. August 1988 und wies die Klage ab (Urteil vom 21. Juni 1989). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 22. Februar 1990). Es hält eine Verursachung der wahrscheinlich immunvermittelten Rückenmarks- und Nervenwurzelentzündung durch monatlich einmaliges Einatmen von Gasen oder Dämpfen beim Zerstampfen von Meßröhrchen der Firma D … oder durch den Umgang mit CS-Tränengas an drei Tagen im Jahr für nicht wahrscheinlich. Auch sei die Polyradiculomyelitis nicht im Ermessensweg als Folge einer Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen, weil die Ursache der Krankheit nicht allgemein ungewiß sei.
Der Kläger rügt mit der – vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen – Revision eine unzureichende Sachaufklärung. Das LSG hätte sich nicht mit Prof. Dr. L … arbeitsmedizinischem Gutachten begnügen dürfen, sondern hätte ein toxikologisches Gutachten über die Verursachung des Rückenmarksleidens durch die beträchtliche Einwirkung schädigender Stoffe im Dienst als ABC-Unteroffizier einholen müssen.
Der Kläger beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen und die Entscheidungen der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 1. Januar 1984 Ausgleich nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 80 vH zu gewähren,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist insoweit erfolgreich, als entsprechend seinem Hilfsantrag die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Da beide Instanzen Sachentscheidungen getroffen haben, besteht kein Grund zur beantragten Zurückverweisung an das SG, abweichend von der gesetzlichen Regelung, daß an das Gericht, dessen Urteil angefochten worden ist, zurückzuverweisen ist (vgl dazu BSGE 51, 223, 226 = SozR 1500 § 78 Nr 18; SozR 1500 § 136 Nr 6; vgl auch für die Sprungrevision: § 170 Abs 4 Satz 1 SGG).
Für eine Entscheidung über einen Anspruch auf Ausgleich nach § 85 SVG (hier idF vom 9. Oktober 1980 – BGBl I 1957 –) fehlen die erforderlichen Tatsachenfeststellungen.
Ein Ausgleich in Höhe der Grundrente und der Schwerstbeschädigtenzulage (§ 30 Abs 1, § 31 Abs 1, 2 und 5 Bundesversorgungsgesetz ≪BVG≫) wird für die Dienstzeit wegen der Folgen einer Wehrdienstbeschädigung gewährt (§ 85 Abs 1 und 4 Satz 1 bis 3 SVG). Wehrdienstbeschädigung ist eine gesundheitliche Schädigung durch eine Wehrdienstverrichtung, durch einen Unfall während der Dienstausübung oder durch diensteigentümliche Verhältnisse (§ 81 Abs 1 SVG). Eine Gesundheitsstörung, die den Grund und Umfang des Ausgleichs bestimmt, muß wenigstens wahrscheinlich durch eine Wehrdienstbeschädigung verursacht worden sein (§ 81 Abs 5 Satz 1 SVG). Wahrscheinlich ist ein solcher Ursachenzusammenhang, wenn mehr für als gegen ihn spricht (BSGE 60, 58 f = SozR 3850 § 51 Nr 9). Davon ist auch das LSG im ersten Teil seiner Definition ausgegangen. Unklar ist aber die hinzugefügte Anforderung, auf den Grad der Wahrscheinlichkeit müßte sich vernünftigerweise die Überzeugung vom Kausalzusammenhang gründen können. Es ist nicht auszuschließen, daß das Berufungsgericht einen zu hohen Grad der Gewißheit verlangt und es deshalb für ausgeschlossen gehalten hat, das beantragte toxikologische Gutachten könnte die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhanges zwischen der Krankheit des Klägers und der Einwirkung von Giftstoffen ergeben.
Auch nach anderen Rechtsmaßstäben, die für diesen Fall der Kausalitätsbeurteilung bedeutsam sind, die aber das LSG nicht beachtet hat, enthalten Dr. M … gutachtliche Stellungnahme und Prof. Dr. L … Gutachten mit neurologischem Zusatzgutachten keine zureichende medizinische Erkenntnisgrundlage für die Entscheidung darüber, ob dienstbedingte Einwirkungen schädigender Stoffe das Rückenmarksleiden bei dem Kläger wahrscheinlich verursacht, mindestens verschlimmert haben (vgl zur Verschlimmerung: BSG SozR 3100 § 1 Nr 3; BSGE 60, 215 = SozR 3200 § 81 Nr 26).
Das LSG bei seinen Wahrscheinlichkeitsüberlegungen nicht berücksichtigt, daß diese Streitsache zu der Fallgruppe gehört, bei der sich die Ergebnislosigkeit der einzelfallbezogenen Kausalitätsprüfung nicht in jeder Beziehung zum Nachteil des Antragstellers auswirken darf, weil es nicht ein Unfallgeschehen, dh ein plötzliches schädigendes dienstliches Ereignis, als Ursache angenommen wird. Der Kläger verlangt vielmehr Entschädigung für eine Krankheit als Folge langjähriger schädlicher dienstlicher Einwirkungen der verschiedensten Art, insbesondere der Einwirkung von Gasen und anderen Chemikalien. Es behauptet nicht einmal mehr, diese Einwirkungen hätten das im Vordergrund stehende Krankheitsbild – Nervenentzündung am Rückenmark – unmittelbar herbeigeführt. Entsprechend den eingeholten Gutachten behauptet er jetzt nur noch, der längjährige dienstliche Umgang mit schädlichen Stoffen habe seine Widerstandsfähigkeit gegen die unmittelbaren Ursachen der Krankheit herabgesetzt.
Für die gebotene weitere Aufklärung des Sachverhalts und für die Kausalitätsbeurteilung sind vor allem die Rechtsgrundsätze zu beachten, die sich im Recht der Berufskrankheiten für die Unfallversicherung und die Beamtenversorgung sowie im Umwelthaftungsrecht entwickelt haben.
In diesen Bereichen haben sich in den letzten Jahrzehnten allgemeine Erkenntnisgrenzen herausgestellt. Vielfach läßt sich im Einzelfall praktisch nicht nachweisen, oder auch nur als wahrscheinlich feststellen, daß eine bestimmte Krankheit, die sich langsam entwickelt, zB eine Immunschwäche mit darauf beruhenden Erkrankungen, bei einer bestimmten Person im wesentlichen durch betriebliche oder sonst entschädigungsrechtlich bedeutsame Einwirkungen verursacht wurde. Es kann nur nach statistischen Grundsätzen festgestellt werden, ob die Erkrankungsgefahr erheblich durch solche Einflüsse erhöht worden ist. Ursachen und Mitursachen können im Einzelfall in der entschädigungsrechtlich nicht erheblichen Umwelt des Betroffenen, in seiner persönlichen Lebensführung und in seiner Erbanlage liegen. Der Gesetzgeber hat deshalb durch besondere Regelungen im Unfallversicherungs-, im Beamtenversorgungs- und im Umwelthaftungsrecht deutlich gemacht, daß die Entschädigung bei Erkrankungen nicht immer davon abhängen soll, daß sich die bei Einzelfallsentscheidungen erforderlichen Beweise beibringen lassen.
Im Unfallversicherungsrecht wird durch die Bezeichnung einer Krankheit als Berufskrankheit mit Hilfe einer Rechtsnorm (vgl § 551 Abs 1 Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫ iVm der jeweiligen Berufskrankheiten-Verordnung) nicht nur allgemeingültig entschieden, daß sie entschädigungsfähig ist; es wird damit auch normativ festgelegt, daß besondere Einwirkungen des Arbeitslebens schädigenden Charakter haben und allgemein geeignet sind, diese Krankheit hervorzurufen. Ferner ist damit geklärt, daß die Krankheit im Einzelfall wie eine Unfallfolge zu entschädigen ist, wenn der Betroffene längere Zeit den schädlichen Einwirkungen ausgesetzt war. Schließlich können nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises denkbare Einwirkungen aus dem außerbetrieblichen Bereich außer Betracht bleiben, jedenfalls dann, wenn kein besonderer Anlaß für die Annahme solcher Verursachungen besteht (vgl dazu Lauterbach/Watermann, Unfallversicherung, Stand Juni 1991, § 551 Anm 10c).
Es wird zwar in der unfallversicherungsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur betont, daß durch die Aufnahme einer Krankheit in die Berufskrankheitenliste nicht die Beweislast umgekehrt wird; es wird aber eingeräumt, daß das Listensystem den Anscheinsbeweis ermöglicht und daß Billigkeitsgesichtspunkte – gemeint ist offenbar die Beweisnot – bei der Beweiswürdigung ins Gewicht fallen (vgl zB Gitter in RVO-Gesamtkommentar, Stand: Mai 1983 § 551 Anm 7).
Das Beamtenversorgungsrecht hat daraus schon klare Folgerungen gezogen (zu Folgen für eine Beweiserleichterung in der Unfallversicherung: Battenstein, SGb 1992, 11): Zugunsten der Beamten, die dienstlich der Gefahr der Erkrankung an einer in die Berufskrankheiten-Verordnung aufgenommenen Krankheit ausgesetzt waren, wird die Beweislast umgekehrt (§ 31 Abs 3 Sätze 1 und 3 Beamtenversorgungsgesetz jetzt idF vom 24. Oktober 1990 – BGBl I 2298 –; Verordnung vom 20. Juni 1977 – BGBl I S 1004). Für Beamte, die im Ausland solchen Auswirkungen ausgesetzt sind, gilt sogar eine unwiderlegliche Vermutung (§ 31 Abs 3 Satz 2 BeamtVG).
Im Umwelthaftungsrecht, in dem es keinen abgeschlossenen Katalog nach jenem Vorbild gibt, durch den die Eignung bestimmter Einwirkungen für bestimmte Krankheiten vorgeklärt ist, muß zwangsläufig oft erst anläßlich des Einzelfalls die Eignung nachgewiesen werden. Ist dies gelungen, muß aber nicht weiter die Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, daß die Krankheit des Klägers von der technischen Anlage gerade des Beklagten herrührt. Es genügt für die Ursachenvermutung, daß eine technische Anlage bei den Gegebenheiten des Einzelfalles geeignet ist, den entstandenen Schaden zu verursachen (§ 6 Abs 1 Umwelthaftungsgesetz vom 10. Dezember 1990 – BGBl I S 2634 –).
Ebenso wie im Umwelthaftungsrecht gibt es im Kriegsopfer- und Soldatenversorgungsrecht keinen Katalog typischer Schädigungstatbestände. Darin liegt der Vorteil, daß bei jeder Krankheit die Prüfung im Einzelfall verlangt werden kann, ob sie auf wehrdiensteigentümliche Verhältnisse zurückzuführen ist (vgl zB BSGE 60, 205). Das Fehlen eines Katalogs wirkt aber auch nachteilig. Für jede Krankheit muß zunächst nachgewiesen werden, daß bestimmte dienstliche Einwirkungen in statistisch beachtlichem Umfang allgemein geeignet sind, die bestimmte Krankheit hervorzurufen. Da die allgemeine Eignung nicht allgemein überprüft werden muß, fehlen entsprechende Forschungsergebnisse und Forschungseinrichtungen für ständige Erhebungen, die im Rahmen der Unfallversicherung ermöglichen, die Berufskrankheitenverordnung auf dem neuesten Stand der Wissenschaft zu halten.
Dieser Nachteil wird für Krankheiten, deren Ursache in der medizinischen Wissenschaft allgemein ungewiß ist, dadurch ausgeglichen, daß mit Zustimmung des BMA der Ursachenzusammenhang anerkannt werden kann (§ 1 Abs 3 Satz 2 BVG, § 81 Abs 5 Satz 2 SVG; dazu BSG SozR 3100 § 1 Nrn 13 und 19). Das Gesetz ist in diesem Bereich von der Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs abgerückt; die Möglichkeit reicht aus. Ob für Immunschwäche durch Einwirkungen der Stoffe, mit denen der Kläger dienstlich Umgang hatte, die Zustimmung des BMA vorliegt oder zu erteilen ist, ist im vorliegenden Verfahren noch nicht geprüft worden. Dazu ist kein Anlaß gesehen worden, weil die Prüfung auf die Rückenmarkskrankheit und deren unmittelbare Verursachung durch dienstliche Einflüsse beschränkt worden ist. Je nach dem Verlauf der weiteren Sachaufklärung könnte der Klageanspruch auf diese Grundlage zu stützen sein.
Zunächst ist aber nach dem Vorbild des Berufskrankheitenrechts zu erforschen, ob und in welchem Umfang allgemein CS-Tränengas und die chemischen Bestandteile der verwendeten und sodann zu zerstörenden Prüfröhrchen für chemische Kampfstoffe gefährlich sind. Das Ergebnis kann eine Beweiserleichterung für den Einzelfall verschaffen.
Dabei wird von Erfahrungen mit schädlichen Einwirkungen des CS-Tränengases im Polizei- und im Militärbereich auszugehen sein. Aufschluß darüber gibt vor allen Dingen die veröffentlichte Literatur (Literaturübersicht über die Toxikologie der Tränengase von Albert von Dänike/ Christian Schlatter, herausgegeben von der Giftabteilung des Schweizerischen Bundesamtes für Gesundheitswesen, Bern 1983; Literaturauskunft der Polizei-Führungsakademie). Prof. Dr. L … hat nur Schrifttum bis 1978 berücksichtigt. Darüber hinaus ist in medizinischen Dokumentationen und Bibliotheken aufzuklären, ob es einschlägige Fachliteratur aus neuester Zeit gibt, insbesondere zu der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen CS-Tränengas direkt oder auf dem Umweg über das Immunsystem auf das Nervensystem schädigend einwirken kann. Der Umgang mit CS-Tränengas könnte insbesondere das Immunsystem schwächen und auf diesem Weg die Entstehung einer Nervenkrankheit der Art, wie sie beim Kläger besteht, begünstigen. Gleiches gilt für Erfahrungen über den Umgang mit den Chemikalien, die in den Probeampullen und in den Prüfröhrchen der Firma D … enthalten sind.
Vor einer erneuten Begutachtung müßte außerdem Näheres über Erkrankungen und Todesfälle bei ABC-Offizieren und -Unteroffizieren der Bundeswehr sowie über die Gründe für eine vom Kläger behauptete Verschärfung der Bundeswehr-Sicherheitsvorschriften für ABC-Übungen aufgeklärt werden. Der Bundesminister der Verteidigung hat, ungeachtet der finanziellen Interessen der Bundesrepublik Deutschland am Ausgang dieses Rechtsstreits, erschöpfend und wahrheitsgemäß auf sachdienliche Anfrage zu berichten.
Falls einzelne beweiserhebliche Tatsachen im Staatsinteresse geheimgehalten werden müssen und daran die Möglichkeit scheitert, die Krankheit des Klägers auf dienstliche Einwirkungen ursächlich zurückzuführen, dürfte eine solche planmäßige Unklarheit wie bei einer Beweisvereitelung nicht zu Lasten des Klägers gehen (vgl Schulz-Weidner, SGb 1992, 59, 65 f). Wenn er als ABC-Unteroffizier regelmäßig Dienstverrichtungen vornehmen mußte, bei denen er mit chemischen Stoffen umzugehen hatte, müßte die Beklagte beweisen, daß die verwendeten Stoffe nicht geeignet sind, die Krankheit des Klägers – über eine Immunschwäche – zu verursachen.
Es bleibt dem LSG überlassen, ob es vor einer abschließenden Begutachtung die noch notwendigen Ermittlungen selbst betreibt oder ob es sie einem medizinischen, insbesondere toxikologischen Sachverständigen überläßt. Es könnte nützlich sein, einen von der Bundeswehr unabhängigen Fachmann für das Berufskrankheitenrecht der Unfallversicherung als Berater für den methodischen Weg der notwendigen Ermittlungen hinzuzuziehen.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen