Orientierungssatz
Arbeitsunfall während der Ausbildung - Neuberechnung des Jahresarbeitsverdienstes - Berufsziel nur durch Qualifikation zu anderem Beruf erreichbar - Berufsausbildung über die Qualifikation als Hauswirtschaftsleiterin zum angestrebten Berufsziel einer Fachlehrerin für Handarbeit und Hauswirtschaft (vgl BSG 25.1.1983 2 RU 54/81 = HVGBG RdSchr VB 39/83).
Normenkette
RVO § 573 Abs 1 S 1
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 27.03.1984; Aktenzeichen L 3 U 257/83) |
SG Augsburg (Entscheidung vom 26.07.1983; Aktenzeichen S 3 U 197/79) |
Tatbestand
Die im Mai 1957 geborene Klägerin erlitt am 26. September 1975 auf dem Heimweg von der Fachakademie für Hauswirtschaft K , A, die sie seit etwa zwei Wochen besuchte, einen Verkehrsunfall. Dabei zog sie sich ua eine Luxationsfraktur des linken Hüftgelenks und eine Unterarmschaftfraktur links zu. Wegen der Unfallfolgen gewährte ihr die Beklagte eine Verletztenrente vom 27. September 1975 an nach einer MdE um zunächst 100 vH, sodann abgestuft nach einer MdE um zuletzt 25 vH bis zum 31. Januar 1979 (Bescheide vom 19. Januar 1978, 20. Dezember 1978 und Widerspruchsbescheid vom 21. Mai 1979). Aufgrund eines vor dem Sozialgericht (SG) Augsburg am 26. Juli 1983 geschlossenen Vergleichs gewährte die Beklagte vom 1. Mai 1982 an wiederum eine Verletztenrente nach einer MdE um 25 vH. Der Rentenberechnung legte die Beklagte im Bescheid vom 19. Januar 1978 einen JAV von 8.700DM gemäß § 575 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zugrunde. Durch den gleichzeitig mit dem Rentenentziehungsbescheid ergangenen Bescheid vom 20. Dezember 1978 stellte die Beklagte für die Zeit nach der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung vom 28. Juli 1977 an den JAV einer staatlich geprüften Hauswirtschaftsleiterin in Höhe von 16.250DM fest (§ 573 Abs 1 RVO). Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend - und nur dies ist unter den Beteiligten noch streitig -, sie habe sich in der Ausbildung zur Hauswirtschaftslehrerin befunden, die Ausbildung zur Hauswirtschaftsleiterin sei dafür eine notwendige Voraussetzung gewesen; deshalb müsse der Rentenberechnung ein höherer JAV zugrunde gelegt werden. Die Beklagte lehnte dies durch den Widerspruchsbescheid vom 21. Mai 1979 ab, da die Ausbildung zur Hauswirtschaftslehrerin über die Ausbildung zur Hauswirtschaftsleiterin hinaus eine nach § 573 RVO nicht zu berücksichtigende Weiterbildung bedeute.
Das SG hat die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20. Dezember 1978 über die Erhöhung des JAV idF des Widerspruchsbescheides vom 21. Mai 1979 verpflichtet, den JAV nach dem Entgelt einer Fachlehrerin für Handarbeit und Hauswirtschaft vom 1. August 1978 an unter Berücksichtigung des Entgelts festzusetzen, das die Klägerin im Rahmen des zweijährigen Vorbereitungsdienstes und anschließend als ausgebildete Fachlehrerin erzielt hätte (Urteil vom 26. Juli 1983). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 27. März 1984). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Das SG habe zutreffend entschieden, daß der Feststellung des JAV gemäß § 573 Abs 1 RVO das Entgelt zugrunde zu legen sei, das die Klägerin als ausgebildete Fachlehrerin erzielt hätte, allerdings - abweichend von der Meinung des SG - erst für die Zeit nach voraussichtlicher Beendigung des noch zur Ausbildung gehörenden zweijährigen Vorbereitungsdienstes. Die Klägerin habe sich im Unfallzeitpunkt in der Ausbildung zur Fachlehrerin für Handarbeit und Hauswirtschaft befunden. Dieses Berufsziel habe sie von Anfang an erstrebt, jedoch nur über die notwendige Zwischenstufe einer Ausbildung zur Hauswirtschaftsleiterin erreichen können (s § 3 Abs 2 der Bay. VO über die Zulassung und Ausbildung der Fachlehrer vom 29. Januar 1975 - GVBl Nr 2 1975 S 20). Es sei unerheblich, daß die Klägerin durch den erfolgreichen Abschluß der Akademie als Hauswirtschaftsleiterin in das praktische Berufsleben hätte eintreten können. Die Berufe einer Hauswirtschaftsleiterin und einer Fachlehrerin für Handarbeit und Hauswirtschaft seien voneinander völlig verschieden, und der Beruf einer Fachlehrerin sei nicht lediglich eine Qualifikation des Berufs Hauswirtschaftsleiterin. Die Klägerin hätte nach Absolvierung der Fachakademie für Hauswirtschaft bis zur Beendigung der Ausbildung als Fachlehrerin nicht bereits den Beruf einer Hauswirtschaftsleiterin ausgeübt und sich zur Lehrerin nur weitergebildet, sondern hätte lediglich den Kenntnisstand einer solchen als erforderliches Grundwissen für das Berufsziel der Fachlehrerin innegehabt. Vom Berufsziel der Klägerin her gesehen habe es sich bei der weiteren Ausbildungsstufe von der Hauswirtschaftsleiterin zur Hauswirtschaftslehrerin um eine planmäßig auf der Stufe der Hauswirtschaftsleiterin aufbauende weitere Ausbildung gehandelt. Daß die Klägerin nach dem Unfall die Ausbildung zur Fachlehrerin nicht wieder aufgenommen habe, liege darin begründet, daß sie zum Zeitpunkt der Umschulung zur Damenschneiderin einen sitzenden Beruf habe ergreifen wollen, weil ihr die Ärzte ua erklärt hätten, sie werde im Alter von 30 Jahren ein künstliches Hüftgelenk benötigen.
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und trägt zur Begründung ua vor: Es werde nicht bezweifelt, daß die Klägerin nicht lediglich Hauswirtschaftsleiterin habe werden wollen, sondern sich nach Erreichen dieses Berufsziels zur Hauswirtschaftslehrerin habe ausbilden lassen wollen. Für die Feststellung des JAV nach § 573 Abs 1 RVO sei jedoch auf den ersten, eigenständigen Beruf abzustellen. Entscheidend sei die Verschiedenheit der beiden Berufe. Die Zäsur zwischen dem ersten Ausbildungsgang und der beabsichtigten Weiterbildung verbiete eine einheitliche Betrachtung der beiden Ausbildungsstufen. Darüber hinaus bestünden Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Entschlusses der Klägerin, Fachlehrerin zu werden, da sie sich nach dem Unfall zur Schneiderin habe umschulen lassen. Jedenfalls komme eine Erhöhung des JAV nicht bereits vom 1. August 1978 an, wie das SG entschieden habe, sondern erst vom 1. August 1980 an in Betracht. Dies habe das LSG in den Gründen des Urteils auch erkannt, jedoch die Folgerung daraus offenbar versehentlich nicht gezogen.
Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung bzw Abänderung der vorinstanzlichen Entscheidungen die Klage abzuweisen, hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im Ergebnis nicht begründet. Zur Klarstellung der vom LSG lediglich in den Urteilsgründen zutreffend als richtig erkannten Entscheidung hat der Senat jedoch den Urteilsausspruch neu gefaßt. Danach hat die Beklagte den JAV nach dem Entgelt festzustellen, das am 1. August 1980 eine Fachlehrerin für Handarbeit und Hauswirtschaft erzielt hätte.
Das LSG hat zu Recht die Berufung der Beklagten als zulässig angesehen. Der zuletzt allein noch im Klageverfahren angefochtene Bescheid der Beklagten vom 20. Dezember 1978 enthielt zwar eine Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse (s § 145 Nr 4 SGG), indem er den der Rentenberechnung zugrunde gelegten JAV für die Zeit nach der - von der Beklagten zum 27. Juli 1977 angenommenen - voraussichtlichen Beendigung der Berufsausbildung (als staatlich geprüfte Hauswirtschaftsleiterin) auf 16.250,- DM (statt, wie zuvor, 8.700,- DM) neu feststellte. Die Berufung ist gleichwohl nicht nach § 145 Nr 4 SGG ausgeschlossen, weil das Klagebegehren und der ihm entgegengestellte Berufungsantrag nicht auf eine Änderung der Verhältnisse gestützt ist, sondern lediglich aus Anlaß einer unstreitig vorzunehmenden Neufeststellung darüber gestritten wird, welche Vergleichsperson für die Ermittlung des JAV maßgebend ist (s BSGE 10, 282, 284; BSG SozR Nr 14 zu § 145 SGG).
Das LSG ist auch zu Recht davon ausgegangen, ohne dies allerdings durch eine entsprechende Klarstellung des Urteilsausspruchs des SG zum Ausdruck zu bringen, daß die Beklagte den JAV nach dem Entgelt festzustellen hat, das am 1. August 1980 (nicht schon vom 1. August 1978 an, wie die Klägerin vor dem SG beantragt hat), für eine Fachlehrerin für Handarbeit und Hauswirtschaft und nicht, wie die Beklagte im angefochtenen Bescheid und weiterhin annimmt, für eine Hauswirtschaftsleiterin durch Tarifvertrag festgesetzt oder sonst ortsüblich war.
Nach § 573 Abs 1 Satz 1 RVO wird, wenn es für den Berechtigten günstiger ist, der JAV eines zur Zeit des Arbeitsunfalls noch in Schul- oder Berufsausbildung befindlichen Verletzten für die Zeit nach der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung neu berechnet. Der neuen Berechnung ist das Entgelt zugrunde zu legen, das in diesem Zeitpunkt für Personen gleicher Ausbildung und gleichen Alters durch Tarif festgesetzt oder sonst ortsüblich ist (§ 573 Abs 1 Satz 2 RVO). § 573 Abs 1 RVO bildet somit eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß für die Berechnung der Geldleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung die Verhältnisse vor dem Arbeitsunfall maßgebend sind, indem die zur Zeit des Arbeitsunfalls in einer Schul- oder Berufsausbildung Stehenden vom Zeitpunkt der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung an hinsichtlich der Berechnung des JAV so zu stellen sind, als ob sie den Unfall erst in diesem Zeitpunkt erlitten hätten (s ua BSGE 31, 38, 40; 38, 216, 218; 47, 137, 140; BSG SozR Nr 7 zu § 565 RVO aF).
Die Berechnung des JAV nach § 573 Abs 1 RVO ist schon aufgrund des von der Beklagten im angefochtenen Bescheid angenommenen voraussichtlichen Abschlusses der Ausbildung als Hauswirtschaftsleiterin mit 16.250,- DM für die Klägerin günstiger als die Berechnung, die für die zurückliegende Zeit eines Jahres vor dem Arbeitsunfall (§ 571 Abs 1 RVO) lediglich von einem Mindest-JAV gemäß § 575 Abs 1 RVO in Höhe von 8.700,- DM ausgegangen ist. Streitig ist allein, ob bei der Neuberechnung des JAV nach § 573 Abs 1 RVO für die Zeit der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung der Klägerin das Entgelt einer Hauswirtschaftsleiterin oder dasjenige einer Fachlehrerin für Handarbeit und Hauswirtschaft zugrunde zu legen ist.
Nach den mit der Revision nicht wirksam angegriffenen und deshalb für das BSG bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) hatte die Klägerin im Unfallzeitpunkt mit der Ausbildung begonnen, mit der sie letztlich den Beruf einer Hauswirtschaftslehrerin anstrebte. Dieses von Anfang an angestrebte Berufsziel konnte die Klägerin nach dem maßgebenden Recht des Freistaates Bayern, dessen Auslegung durch das LSG im Revisionsverfahren nicht nachgeprüft werden kann (s § 162 SGG), erst dadurch erreichen, daß sie zunächst die Qualifikation einer Hauswirtschaftsleiterin erwarb. Im Anschluß daran hätte sie - ohne eine praktische Erwerbstätigkeit - eine einjährige pädagogische Ausbildung am Staatsinstitut für die Ausbildung von Fachlehrern durchlaufen und danach als letzten Abschnitt der Ausbildung zur Fachlehrerin einen zweijährigen Vorbereitungsdienst geleistet. Ohne den Unfall wäre die Ausbildung der Klägerin zur Fachlehrerin somit nach Abschluß des Vorbereitungsdienstes am 1. August 1980 beendet gewesen. Daß sich die Klägerin zur Hauswirtschaftslehrerin ausbilden lassen wollte, zieht auch die Revision nicht in Zweifel, sie meint aber andererseits, die Klägerin sei sich, da sie ihre Ausbildung nicht weiter verfolgt habe, im Unfallzeitpunkt wohl noch nicht ernstlich und abschließend über ihr endgültiges Berufsziel klar gewesen. Demgegenüber hat jedoch das LSG festgestellt, daß der Klägerin von Ärzten erklärt worden ist, sie werde - wegen der Unfallfolgen - im Alter von 30 Jahren ein künstliches Hüftgelenk benötigen, deshalb habe die Klägerin im Zeitpunkt ihrer Umschulung zur Damenschneiderin einen im Sitzen ausübbaren Beruf ergreifen wollen. Diese Feststellung des LSG wird im übrigen auch dadurch erhärtet, daß die Beklagte in ihrem Bescheid vom 14. September 1978 die Gewährung einer Umschulung der Klägerin zur Damenschneiderin vom 1. September 1978 an ausdrücklich ua damit begründet hat, die Folgen des Arbeitsunfalls vom 26. September 1975 ließen eine weitere Ausübung der bisherigen beruflichen Tätigkeit nicht zu. Das LSG konnte somit, ohne die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung zu verletzen (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG), davon ausgehen, daß die Klägerin ihr Berufsziel als Fachlehrerin für Handarbeit und Hauswirtschaft wegen der Unfallfolgen nicht erreicht hat.
Als eine Person gleicher Ausbildung, nach deren Entgelt die Beklagte den JAV gemäß § 573 Abs 1 RVO für die Zeit nach der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung neu zu berechnen hat, ist nach der mit dem SG und dem LSG übereinstimmenden Auffassung des Senats eine Fachlehrerin für Hauswirtschaft und Handarbeit anzusehen. Die Besonderheiten des angestrebten Ausbildungsganges, dem sich nach den Feststellungen des LSG zur Zeit, als die Klägerin ihr Berufsziel anstrebte, nahezu alle Absolventen der Fachakademie für Hauswirtschaft zuwandten, rechtfertigt es, die von der Klägerin angestrebte Ausbildung zur Fachlehrerin nicht lediglich als Weiterbildung nach dem Erwerb der Qualifikation als Hauswirtschaftsleiterin, sondern durchgehend als Berufsausbildung iS des § 573 Abs 1 RVO anzusehen (s auch BSG Urteil vom 25. Januar 1983 - 2 RU 54/81 -; LSG für das Saarland, Breithaupt 1969, 661).
Die Revision der Beklagten ist danach - mit der einleitend aufgezeigten Klarstellung des Urteilsausspruchs - zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen