Leitsatz (redaktionell)
Zur Frage des Versicherungsschutzes bei Unterbrechung des Weges von der Arbeitsstätte.
Normenkette
RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 7. November 1958 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Klägerinnen sind die Hinterbliebenen des Strohsetzers ... (A.). Dieser war in einer Zellstoff-Fabrik in R... beschäftigt und Mitglied der Betriebsfeuerwehr. Am 30. August 1955 beteiligte er sich nach Schichtschluß an einer Feuerwehrübung mit anschließender Besprechung. Gegen 20 Uhr begab er sich sodann durch den Fabrikausgang auf die am Werksgelände vorbeiführende Bundesstraße 9. Auf dieser Straße wandte er sich nicht nach rechts zu dem Ortsteil, wo er wohnte, sondern ging einige Meter in entgegengesetzter Richtung und überquerte die Straße nach schräg links auf die etwa 60 m vom Fabriktor entfernte Gastwirtschaft ... zu. Bevor er die Gastwirtschaft erreichte, wurde er auf der dem Fabrikgelände gegenüberliegenden Seite der Bundesstraße von einem Kraftwagen erfaßt und so schwer verletzt, daß er am 4. September 1955, ohne inzwischen das Bewußtsein wiedererlangt zu haben, verstarb. Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 5. November 1955 die Rentenansprüche der Hinterbliebenen ab mit der Begründung, wegen der lediglich durch private Interessen bedingten Abweichung habe A. im Unfallzeitpunkt nicht unter dem Versicherungsschutz des § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gestanden.
Das Sozialgericht (SG) hat mehrere Zeugen vernommen, darunter den Arbeitskollegen D.... Dieser hat ausgesagt, A. habe beim Verlassen der Fabrik erklärt, er gehe noch "zur Berta", womit die Wirtin der Gastwirtschaft, ... gemeint gewesen sei; vorher hätte der Zeuge dem A. eine Zigarette geborgt. Aus den Aussagen der übrigen Zeugen ergab sich weiterhin, daß A. keinen dienstlichen Auftrag zum Besuch der Gastwirtschaft hatte und daß es in der Fabrikkantine keine Tabakwaren gab.
Das SG hat die Klage abgewiesen: A. habe im Unfallzeitpunkt seinen versicherten Heimweg unterbrochen. Für die Vermutung der Klägerinnen, A. habe von der gegenüberliegenden Straßenseite aus eine im Werksgelände angelegte Übungsbrandstelle besichtigen wollen, fehle es an der hinreichenden Wahrscheinlichkeit. Vielmehr sei anzunehmen, daß er sich in der Gastwirtschaft ... Zigaretten besorgen wollte; dies habe, da bereits Betriebsschluß gewesen sei, nicht der Erhaltung der Arbeitskraft gedient.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerinnen zurückgewiesen: Das Aufsuchen der Gastwirtschaft habe eine rechtlich erhebliche Unterbrechung des Heimwegs bedeutet. Die von A. beabsichtigte Besorgung von Zigaretten kennzeichne den Weg zur Gastwirtschaft nicht als betriebsbezogen; denn A. habe nach Schichtschluß keine Erfrischung mehr benötigt, um alsbald weiterarbeiten oder den kurzen Heimweg zurücklegen zu können. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 8. Januar 1959 zugestellte Urteil haben die Klägerinnen am 5. Februar 1959 Revision eingelegt und sie am 4. März 1959 wie folgt begründet: Das LSG habe zu Unrecht angenommen, daß der von A. eingeschlagene "Abweg" eine erhebliche Unterbrechung des Heimwegs bedeute. Insbesondere treffe es nicht zu, daß der Abweg bereits unmittelbar nach Verlassen des Fabriktors begonnen habe. Nach den verkehrsrechtlichen Vorschriften sei A. verpflichtet gewesen, beim Nachhauseweg die linke - der Fabrik gegenüberliegende Seite - zu benutzen. Er hätte also vorschriftsmäßig auf jeden Fall die Bundesstraße überqueren müssen. Der Abweg hätte somit erst begonnen, wenn A. nach dem Überqueren der Straße seinen Weg endgültig in Richtung zur Gastwirtschaft fortgesetzt hätte, wenn nicht sogar erst mit dem Betreten der Gastwirtschaft. Die von A. beabsichtigte Zigarettenbesorgung könne nur als geringfügige, keine Unterbrechung des Heimwegs bewirkende Verrichtung angesehen werden. Auch sei die Besorgung von Zigaretten für einen starken Raucher als angemessene Erfrischung zu betrachten, die dem Versicherungsschutz nicht entgegenstehe. Die Klägerinnen beantragen,
unter Aufhebung der angefochtenen Urteile die Beklagte zur Zahlung der Hinterbliebenenrenten zu verurteilen,
hilfsweise,
die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Sie pflichtet der vom LSG vertretenen Ansicht bei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
II
Die Revision ist statthaft durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, daher zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Die Vorinstanzen sind mit Recht davon ausgegangen, daß A. im Unfallzeitpunkt seinen - mit dem Passieren des Fabriktors begonnenen - Heimweg unterbrochen hatte. Die Annahme eines "Umwegs" kam begrifflich nicht in Betracht; denn A. bewegte sich nach dem Verlassen des Fabrikgeländes nicht in - wenn auch veränderter - Richtung auf das Ziel des Heimwegs, seine Wohnung, fort, sondern entfernte sich davon (vgl. SozR RVO § 543 Bl. Aa 2 Nr. 5, Aa 8 Nr. 12). Daran, daß es sich mithin um einen sogenannten Abweg handelte, bestehen umso weniger Zweifel, als auch die Revision nicht geltend macht, A. habe - wie es andere Belegschaftsmitglieder aus Sicherheitsgründen taten - die nach links um das Fabrikgelände herum auf einen Nebenweg führende weitere Strecke benutzt, sondern vorträgt, er habe regelmäßig den näheren Heimweg nach rechts über die Bundesstraße eingeschlagen. Im Augenblick des Unfalls befand A. sich nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG etwa halbwegs zwischen dem Fabriktor und der - nicht genau gegenüber, sondern in der von R... abgewendeten Richtung gelegenen - Gastwirtschaft, auf die er in einer die Bundesstraße schräg überquerenden Linie zuging. Er hätte also nach Erledigung seiner Besorgung in der Gastwirtschaft ... auf der Bundesstraße wieder ein Stück zurückgehen müssen. Hierbei ist es nicht von entscheidender Bedeutung, ob A. - wie das LSG angenommen hat - die Bundesstraße nochmals überquert und seinen Weg auf der Straßenseite fortgesetzt haben würde, wo sich das Fabriktor befand, oder - wie die Revision geltend macht - bei vorschriftsmäßiger Benutzung der Bundestraße auf der in seiner Gehrichtung linken Straßenseite geblieben wäre. Auch bei Berücksichtigung eines solchen Verhaltens, von dem die Revision übrigens nicht vorgetragen hat, daß A. es tatsächlich zu beachten pflegte, verbleibt ein zusätzliches Wegstück von der Unfallstelle zurück bis zu dem Punkt, den A. beim gradlinigen Überqueren der Bundesstraße vom Fabriktor aus erreicht hätte. Darauf, wie groß diese Entfernung gewesen sein mag, kommt es nicht ausschlaggebend an; vielmehr ist in erster Linie der Umstand bedeutsam, daß A. ohne das beabsichtigte Aufsuchen der Gastwirtschaft überhaupt nicht an die Unfallstelle gelangt wäre. Daß jedenfalls A. die Gastwirtschaft zu betreten vorhatte, ist vom LSG auf Grund des Ergebnisses der Beweisaufnahme bedenkenfrei angenommen worden; auch das Revisionsvorbringen zieht dies offensichtlich nicht in Zweifel, so daß also für Erwägungen darüber kein Raum ist, ob A. etwa versehentlich oder wegen des auf der Bundesstraße herrschenden Fahrverkehrs so weit nach links geraten sein könne.
Dem LSG ist auch darin beizupflichten, daß die Abweichung vom Heimweg nicht mehr als so geringfügig angesehen werden kann, daß der Versicherungsschutz während dieser Zeit erhalten blieb. Insoweit ist es von Bedeutung - im Unterschied zu einem anderen vom erkennenden Senat entschiedenen Sachverhalt (SozR RVO § 543 Bl. Aa 21 Nr. 28) -, daß A. die beabsichtigte Besorgung nicht auf der Straße selbst im Vorbeigehen erledigen konnte, sondern sich hierzu in die Gastwirtschaft hineinbegeben mußte. In einem solchen Fall handelt es sich regelmäßig um eine erhebliche Unterbrechung (vgl. SozR RVO § 543 Bl. Aa 2 Nr. 5), wobei der Versicherungsschutz erst wiederhergestellt wird, sobald der übliche Heimweg wieder erreicht worden ist. Der Umstand, daß A. bereits vor dem Erreichen der Gastwirtschaft verunglückt ist, kann - entgegen dem Revisionsvorbringen - nicht dazu führen, den Versicherungsschutz bis zum Augenblick des Unfalls noch als fortbestehend anzusehen.
Auch die Art der von A. beabsichtigten Besorgung ist - wie das LSG mit Recht angenommen hat - nicht geeignet, den Weg zur Gastwirtschaft in einen inneren Zusammenhang mit der versicherten Beschäftigung zu bringen. Dabei kann hier unerörtert bleiben, inwieweit etwa der Weg zum Tabakwarengeschäft deshalb als unfallversichert anzusehen ist, weil der Nikotingenuß dem Beschäftigten das Weiterarbeiten wesentlich erleichtert (vgl. BSG 12, 254). Denn A. hatte am Unfalltag seine Arbeit beendet und wollte sich nach Hause begeben. Er war also weder im Hinblick auf eine noch bevorstehende Weiterarbeit noch für die Zurücklegung des kurzen Heimwegs darauf angewiesen, Zigaretten bei sich zu haben. Das gegen diesen Teil der Gründe des angefochtenen Urteils gerichtete Revisionsvorbringen macht einen Rechtsirrtum des LSG nicht ersichtlich.
Die Revision ist hiernach unbegründet. Sie war daher zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen