Leitsatz (amtlich)

In der Regel ist anzunehmen, daß der mutmaßliche Wille des Versicherten, der Beitragsmarken zur Weiterversicherung verwertet, dahin geht, die versicherungsmäßigen Voraussetzungen zu erfüllen, insbesondere die Anwartschaft zu erhalten. Dies gilt selbst dann, wenn der Versicherte auf der Beitragsmarke einen abweichenden Entwertungstag eingetragen hat.

Allerdings kann Inhalt des mutmaßlichen Willens des Versicherten nur sein, was eine die Verhältnisse überschauende Person im Zeitpunkt der Verwertung der Beitragsmarke erkennen konnte. Spätere Gesetzesänderungen können daher, selbst wenn sie rückwirkend die Rechtslage ändern, insoweit keine Bedeutung haben.

 

Leitsatz (redaktionell)

Eine Beitragsübertragung für das folgende Jahr ist nicht zulässig, wenn nach dem im Jahr der Entrichtung der Beiträge geltenden Recht diese zur Aufrechterhaltung der Anwartschaft erforderlich waren und damals nicht vorauszusehen war, daß infolge einer späteren Änderung der Rechtslage die Beitragsentrichtung für das Vorjahr nicht mehr erforderlich war.

Zur Bedeutung der Jahreszahl auf den Beitragsmarken und des Tages der Entwertung.

 

Normenkette

RVO § 1264 Fassung: 1937-12-21, § 1431 Fassung: 1941-07-01; ArVNG Art. 2 § 42 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 20. Oktober 1960 aufgehoben.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 28./31. Mai 1960 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die im Jahre 1894 geborene Klägerin beantragte im April 1959 die Gewährung des Altersruhegeldes aus der Rentenversicherung der Arbeiter. Die Beklagte bewilligte ihr dieses mit Bescheid vom 8. Juli 1959 in Höhe von 31,10 DM.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Klage, mit der die Klägerin die für sie günstigere Berechnung der Rente gemäß Art. 2 § 42 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) begehrt.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Die Anwartschaft aus den vor dem 1. Januar 1957 entrichteten Beiträgen sei zu diesem Zeitpunkt erloschen gewesen, weil die Klägerin für die Jahre 1955 und 1956 anstelle der erforderlichen 26 Wochenbeiträge nur je 24 Beiträge entrichtet habe. Auch die Halbdeckung sei nicht gegeben.

Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 20. Oktober 1960 das Urteil des SG aufgehoben und den angefochtenen Bescheid dahin abgeändert, daß die Beklagte der Klägerin dem Grunde nach das Altersruhegeld unter Anwendung des Art. 2 § 42 ArVNG zu berechnen und zu zahlen hat. Es hat dazu ausgeführt: Die Voraussetzungen des Art. 2 § 42 ArVNG seien erfüllt. Die Anwartschaft sei aus den bis zum 31. Dezember 1948 entrichteten Beiträgen nach § 4 Abs. 2 des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes (SVAG) erhalten gewesen. Für die Zeit von 1949 bis 1956 habe die Klägerin einschließlich der für das Jahr 1948 geleisteten freiwilligen Beiträge jährlich 26 Wochenbeiträge entrichtet, wie es § 1264 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF erfordert habe. Sie habe auch für die Jahre 1957 und 1958 je 9 Monatsbeiträge geleistet. Für die Frage, für welche Zeiten freiwillige Beiträge gelten sollen, sei mangels einer ausdrücklichen Willenserklärung des Versicherten sein mutmaßlicher Wille maßgebend. Dieser gehe dahin, daß freiwillige Beiträge unabhängig von ihren Entwertungsdaten so angerechnet würden, wie es zur Erhaltung der Anwartschaft erforderlich sei. Dies gelte nicht nur für die Anrechnung freiwilliger Beiträge auf zurückliegende, bereits abgelaufene Anwartschaftszeiträume; auch auf zukünftige nicht ausreichend mit Beiträgen belegte Anwartschaftszeiträume seien freiwillige Beiträge in gleicher Weise zur Erhaltung der Anwartschaft anzurechnen. - Nachdem durch das SVAG die Anwartschaft aus allen vor dem 31. Dezember 1948 entrichteten Beiträgen ohne Rücksicht auf eine fortlaufende Beitragsleistung kraft Gesetzes erhalten und erst von 1949 an das Erfordernis der Entrichtung anwartschaftserhaltender Beiträge wieder eingeführt worden sei, sei die Entrichtung von freiwilligen Beiträgen im Jahre 1948 unter dem Gesichtspunkt der Anwartschaftserhaltung überflüssig geworden. Wenn der Klägerin auch im Zeitpunkt der Markenverwendung in Jahre 1948 die erst im Jahre 1949 durch das SVAG erfolgte Änderung des Anwartschaftsrechts nicht bekannt gewesen sei, so hindere diese Änderung nicht, den mutmaßlichen Willen der Klägerin dahin zu unterstellen, daß die 1948 entrichteten Marken der Erhaltung der gefährdeten Anwartschaft für das Jahr 1949 dienen sollten, soweit sie hierzu erforderlich waren. Zur Erhaltung der Anwartschaft bis zum 31. Dezember 1956 seien daher von den für das Jahr 1948 entrichteten Beiträgen 4 Beiträge für das Jahr 1949 anzurechnen, so daß zusammen mit den 22 im Jahre 1949 geleisteten Wochenbeiträgen die Anwartschaft für 1949 erfüllt sei. Für das Jahr 1951 seien 26 Wochenbeiträge in der Weise nachgewiesen, daß 4 Wochenbeiträge aus dem Jahre 1950 (Quittungskarte Nr. 13) und 22 Wochenbeiträge aus dem Jahre 1952 (Quittungskarte Nr. 14) zu verrechnen seien. Für das Jahr 1952 verblieben dann in der Quittungskarte Nr. 14 noch 14 Beiträge und in der Quittungskarte Nr. 15 weitere 4 Beiträge, d. h. also insgesamt 18 Beiträge, die durch 8 Beiträge aus dem Jahre 1953 (Quittungskarte Nr. 15) auf 26 Wochenbeiträge aufzufüllen seien. In den Jahren 1953/54 und 1955/56 habe die Klägerin je 52 Wochenbeiträge entrichtet und damit die Anwartschaftsvoraussetzungen des § 1264 RVO aF bis zum 31. Dezember 1956 erfüllt. - Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 3. November 1960 zugestellte Urteil des LSG am 29. November 1960 Revision eingelegt und diese am 27. Dezember 1960 begründet.

Sie beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Sie rügt Verletzung des Art. 2 § 42 ArVNG, des § 1442 RVO aF und des § 8 SVAG. Sie meint, der Klägerin sei nach diesen Vorschriften zu Unrecht die Berechnung der Rente nach Art. 2 § 42 ArVNG zuerkannt worden. Ihre Anwartschaft sei am 1. Januar 1957 erloschen gewesen, weil sie bis zu diesem Zeitpunkt für 1955 und 1956 nur je 24 Wochenbeiträge geleistet habe. Die 4 im Jahre 1957 nachentrichteten Beiträge müßten bei der Prüfung der Anwartschaft außer Betracht bleiben, weil hierfür nur die bis zum 1. Januar 1957 tatsächlich geleisteten Beiträge zu berücksichtigen seien. Die vom LSG vorgenommene Verschiebung von 4 für das Jahr 1948 entrichteten Beiträgen in das Jahr 1949 sei rechtlich nicht möglich. Es seien zwar die Entwertungsdaten der freiwilligen Beiträge nicht ausschlaggebend, sondern es komme auf den wirklichen Willen des Versicherten an. Der Wille der Klägerin sei, wie das Gesamtbild ihrer Beitragsleistung ergebe, darauf gerichtet gewesen, auch für das Jahr 1948 26 Wochenbeiträge zu entrichten. Die Klägerin könne im Zeitpunkt der Beitragsentrichtung nicht gewußt haben, daß nach dem SVAG, das erst im Jahre 1949 verkündet worden sei, die Anwartschaftsbeiträge für 1948 überflüssig geworden seien. Es könne ihr aber auch nicht der mutmaßliche Wille unterstellt werden, daß ein Teil der im Jahre 1948 entrichteten Beiträge zum Zwecke der Anwartschaftserhaltung für das Jahr 1949 angerechnet werden sollten, zumal sie sowohl für 1949 als auch für die folgenden Jahre fortlaufend stets 26 Beiträge entrichtet habe. Die Beitragsverschiebung vom Jahre 1948 in das Jahr 1949 sei auch deshalb nicht zulässig, weil durch § 8 SVAG mit Wirkung vom 1. Juni 1949 die Beitragshöhe der Beitragsklassen geändert worden sei. Für den gesamten Beitragszeitraum vom 1. Januar bis 31. Mai 1949, der 22 Beitragswochen umfasse, habe die Klägerin bereits die entsprechende höchstmögliche Anzahl Marken in der alten Beitragshöhe entrichtet. Nur die 4 weiteren zur Erhaltung der Anwartschaft im Jahre 1949 erforderlichen Beitragsmarken habe sie in den nach dem SVAG gültigen Beitragssätzen geleistet.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und ist somit zulässig; sie ist auch begründet.

Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts sind die Voraussetzungen des Art. 2 § 42 ArVNG für die Berechnung des Altersruhegeldes der Klägerin nach altem Recht nicht erfüllt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) setzt die Vorschrift unter anderem voraus, daß beim Eintritt des Versicherungsfalles die Wartezeit erfüllt ist mit denjenigen Beiträgen, die für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 entrichtet worden sind, und solchen Beiträgen, die vor dem 1. Januar 1957 entrichtet worden sind und aus denen die Anwartschaft zum 31. Dezember 1956 erhalten war (BSG 15, 271, 279; Urteile des 4. Senats BSG vom 25. Oktober 1962 - 4 RJ 99/61 - und vom 22. November 1962 - 4 RJ 329/61). Das ist hier nicht der Fall. Da die Klägerin vor dem 1. Januar 1957 nicht die zur Erhaltung der Anwartschaft für das Jahr 1956 erforderlichen 26 Wochenbeiträge, sondern nur 24 Wochenbeiträge geleistet hat, war nach § 1264 Abs. 1 RVO aF die Anwartschaft aus allen für die Zeit bis zum Beginn des Jahres 1957 entrichteten Beiträgen erloschen. Die Anwartschaft war insoweit auch nicht durch Halbdeckung nach § 1265 RVO aF erhalten. Mit den Beiträgen, die die Klägerin im Jahre 1957 für die Jahre 1955 und 1956 nachentrichtet hat, war die Anwartschaft im Sinne des Art. 2 § 42 ArVNG nicht gewahrt; denn für die Prüfung der Anwartschaftserhaltung sind nach dieser Vorschrift nur die bis zum 1. Januar 1957 tatsächlich geleisteten, nicht aber die später für einen vor dem 1. Januar 1957 liegenden Zeitraum nachentrichteten Beiträge zu berücksichtigen (BSG 10, 139; 15, 271; SozR ArVNG Art. 2 § 42 Bl. Aa 13 Nr. 8). Die Anwartschaft war mithin am 1. Januar 1957 nur aus den 24 Wochenbeiträgen erhalten, die im Jahre 1956 für das Jahr 1956 verwendet worden sind. Mit diesen und den für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 entrichteten Beiträgen der Klägerin ist aber die für die Gewährung des Altersruhegeldes erforderliche Wartezeit von 180 Kalendermonaten nicht erfüllt. Daher steht der Klägerin ein Anspruch auf die höhere, nach altem Recht berechnete Rente nach Art. 2 § 42 ArVNG nicht zu.

Der Ansicht des Berufungsgerichts, die Anwartschaft sei aus allen vor dem 1. Januar 1957 entrichteten Beiträgen der Klägerin erhalten gewesen, kann nicht gefolgt werden. Zu Unrecht hat das LSG angenommen, von den 26 für das Jahr 1948 verwendeten Wochenbeiträgen seien dem mutmaßlichen Willen der Klägerin entsprechend 4 Beiträge zur Anwartschaftsdeckung für das Jahr 1949 anzurechnen. Soweit das Berufungsgericht den mutmaßlichen Willen der Klägerin in diesem Sinne ausgelegt hat, handelt es sich nicht um Tatsachenfeststellung, sondern um die Anwendung allgemeiner Erfahrungssätze und Rechtsgrundsätze, also um Rechtsanwendung, die der Überprüfung durch das Revisionsgericht unterliegt. Wie der erkennende Senat in dem Urteil vom 26. April 1963 - 12/3 RJ 64/60 - ausgeführt hat, ist für die Entscheidung der Frage, für welche Zeiten freiwillige Beiträge gelten sollen, nicht allein das Entwertungsdatum der Beiträge, sondern der mutmaßliche Wille des Versicherten zur Zeit der Beitragsentrichtung maßgebend. Wenn auch der mutmaßliche Wille des Versicherten bei der Entrichtung freiwilliger Beiträge dahin geht, daß er in erster Linie die Erhaltung der Anwartschaft erstrebt, so kann doch als Inhalt seines Willens nur das angenommen werden, was eine die Verhältnisse überschauende Person im Zeitpunkt der Beitragsentrichtung erkennen konnte. Eine solche Person konnte aber im Jahre 1948, wenn sie wie die Klägerin im Gebiet der ehemaligen britischen Besatzungszone ansässig war und sich dort weiterversicherte, nur davon ausgehen, daß die Entrichtung von 26 Wochenbeiträgen zur Erhaltung der Anwartschaft für das Jahr 1948 nach dem damals geltenden Recht erforderlich war. Nach Art. 19 der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17. März 1945 - VereinfVO - (RGBl I 41), die jedenfalls in der britischen Besatzungszone schon zur damaligen Zeit in Kraft war (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S. 301, 696 q; Koch/Hartmann/von Altrock/Fürst, § 32 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - aF unter "Ergänzende Vorschriften" und Anm. 1 Abs. 3), galt zwar die Anwartschaft aus denjenigen Beiträgen als erhalten, die bis zum Ablauf des Kalenderjahres entrichtet worden sind, das auf das Ende des zweiten Weltkrieges folgt. Das Ende des zweiten Weltkrieges war aber in der britischen Besatzungszone durch die Sozialversicherungsanordnung (SVA) Nr. 10 Ziff. 1 vom 24. Juni 1947 (ArbBl. brit. Zone 1947, 234) für den Bereich der Sozialversicherung auf den 31. Dezember 1946 festgesetzt worden. Mithin galt die Anwartschaft nach Art. 19 VereinfVO nur bis zum Ende des Jahres 1947 als erhalten. Für das Jahr 1948 waren deshalb = und nur davon konnte ein Versicherter im Jahre 1948 ausgehen - nach § 1264 Abs. 1 RVO aF wieder Beiträge zur Erhaltung der Anwartschaft zu entrichten. Es war im Jahre 1948 noch nicht vorauszusehen, daß im Jahre 1949 das SVAG erlassen werden und die Rechtslage nachträglich mit dem Ergebnis ändern werde, daß die Entrichtung von Beiträgen zur Erhaltung der Anwartschaft für das Jahr 1948 nun nicht mehr erforderlich sei (§ 4 Abs. 2 SVAG). Diese Gesetzesänderung muß daher bei der Auslegung des mutmaßlichen Willens der Klägerin außer Betracht bleiben. Damit entfällt aber auch die Möglichkeit, durch eine andere Verrechnung ihrer für das Jahr 1948 und für die späteren Jahre entrichteten Beiträge zu erreichen, daß zum 1. Januar 1957 aus allen vor diesem Zeitpunkt entrichteten Beiträgen die Anwartschaft erhalten war, wie es im vorliegenden Fall nötig wäre, um die Wartezeit in dem oben dargelegten Sinne als erfüllt ansehen zu können.

Nach alledem war auf die Revision der Beklagten das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2375165

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