Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz auf den Wegen zum und vom Mittagstisch
Leitsatz (amtlich)
Auch ein Weg, der während einer Arbeitspause zwecks Besorgung von Nahrungsmitteln zum alsbaldigen Verzehr unternommen wird, ist nach RVO § 550 Abs 1 unfallversichert, sofern er nicht unverhältnismäßig weit ist, insbesondere der Zeitaufwand für den Weg nicht in einem unangemessenen Verhältnis zur Dauer der Arbeitspause steht (hier: Fahrten mit einem Pkw von je 4 Minuten bis zum Einkaufsziel und zurück während einer halbstündigen Pause). Auf das Angebot einer Werkskantine können die Versicherten für die Besorgung von Nahrungsmitteln nicht verwiesen werden.
Leitsatz (redaktionell)
Für den Unfallversicherungsschutz auf Wegen zum und vom Mittagstisch ist die kilometermäßige Entfernung dann von untergeordneter Bedeutung, wenn der Versicherte den Weg mit einem Motorfahrzeug zurücklegt.
Normenkette
RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. Juni 1976 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung aus Anlaß eines Unfalls, den er am 13. März 1972 während einer Arbeitspause auf einem Weg außerhalb seiner Arbeitsstätte erlitt.
Der als Bandarbeiter beim VW-Werk in Emden beschäftigte Kläger hatte am genannten Tag Spätschicht. Zu Beginn der von 18 bis 18,30 Uhr dauernden sog. Mittagspause fuhr er als Beifahrer im Pkw eines anderen VW-Arbeiters zusammen mit zwei weiteren Kollegen vom Werkstor aus in nordöstlicher Richtung auf dem sog. Alten 3. Polderweg. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) wollte er zu dem etwa 3 1/2 km vom Werkstor entfernten und in ca. vier Autominuten zu erreichenden alten Außenhafen (Gebiet "Nesserland") fahren, um dort Eßwaren wie Würstchen, Koteletts, Wurst oder Ölsardinen zu kaufen. Solche sowie eine Reihe weiterer Eßwaren wurden auch in der Werkskantine angeboten. Etwa 800 m vom Werkstor entfernt, hinter einem an einer Kreuzung befindlichen Kiosk, kam es zu einem Verkehrsunfall, bei dem der Kläger erheblich verletzt wurde.
Das Sozialgericht (SG) Aurich hat die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 22. Februar 1973 verurteilt, dem Kläger aus Anlaß des Unfalls vom 13. März 1972 Entschädigungsleistungen zu gewähren (Urteil vom 19. November 1974). Während des Berufungsverfahrens hat der Kläger sein Klagebegehren auf die Gewährung von Verletztenrente seit dem 22. September 1972 beschränkt. Das LSG Niedersachsen hat mit Urteil vom 22. Juni 1976 die Entscheidung des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt: Grundsätzlich sei zwar der Weg vom Ort der Tätigkeit zu der Stelle, an der während der Arbeitszeit das Essen eingenommen werde oder Lebensmittel zum alsbaldigen Verbrauch eingekauft würden, unfallversicherungsrechtlich geschützt.
Jedoch sei der Versicherungsschutz dann zu verneinen, wenn der Weg zur Einnahme oder Besorgung von Eßwaren unangemessen weit sei. Das hänge nicht allein von der zurückzulegenden Wegstrecke ab, sondern werde auch wesentlich davon beeinflußt, welche Essens- oder Einkaufsmöglichkeiten im Unternehmen selbst oder in seiner näheren Umgebung bestünden. Hier sei der Weg, auf dem der Kläger den Unfall erlitten habe, deshalb unangemessen weit und damit unfallversicherungsrechtlich nicht geschützt gewesen, weil im VW-Werk eine Werkskantine mit einem sehr reichhaltigen Programm bestanden habe, in der der Kläger die Eßwaren, die er im Gebiet Nesserland habe kaufen wollen, ebenfalls hätte erhalten können. Zu dem näher gelegenen Kiosk habe er - gegebenenfalls unter Änderung seiner ursprünglichen Absicht - nicht fahren wollen.
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er meint, die Entscheidung über die Angemessenheit des Weges könne nicht davon beeinflußt werden, welche Essens- und Einkaufsmöglichkeiten an der Arbeitsstelle oder ihrer näheren Umgebung vorhanden seien. Es müsse dem Versicherten frei stehen zu wählen, wo er essen und den - etwa preisgünstigeren - Einkauf von Lebensmitteln tätigen wolle. Eigenwirtschaftliche Zwecke habe der Kläger nicht verfolgt. Der Weg zum Gebiet Nesserland sei hinsichtlich der räumlichen Entfernung - 2,5 km anstatt der vom LSG festgestellten 3,5 km - nicht unverhältnismäßig weit.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Aurich vom 19. November 1974 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend. Der Kläger habe "Lebensmittel" einkaufen wollen; es sei nicht dargetan, daß diese dem Zweck hätten dienen sollen, ihm die zur Weiterarbeit erforderliche Erholung und Stärkung zu verschaffen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers hat im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG Erfolg. Die vom LSG gegebene Begründung trägt seine Entscheidung nicht.
Nach § 550 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der zur Zeit des hier streitigen Unfalls geltenden Fassung - jetzt § 550 Abs. 1 RVO - gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit einer der in § 539 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Wie das LSG richtig ausgeführt hat, gehören hierzu nicht nur die Wege, die vor Beginn und nach Ende der Arbeit zur Arbeitsstätte und zurück unternommen werden, sondern auch Wege, die der Versicherte in den Pausen außerhalb der Arbeitsstätte zurücklegt, um sich die zur Weiterarbeit erforderliche Erholung und Stärkung zu verschaffen, insbesondere um sich Nahrungsmittel zum alsbaldigen Verzehr zu besorgen (BSG 12, 254, 255; SozR Nr. 47 zu § 543 aF RVO und Nr. 15 zu § 550 RVO; vgl. ferner Urteile des 2. Senats vom 25. Januar 1977, 2 RU 57/75, S. 6 und 2 RU 99/75, S. 7). Nicht folgen kann der erkennende Senat dagegen der Ansicht des LSG, im vorliegenden Fall sei der Weg des Klägers außerhalb des VW-Werkes deshalb nicht versichert gewesen, weil im Werk eine Kantine vorhanden gewesen sei, in der der Kläger die gleichen oder ähnliche Artikel habe kaufen können, die er im Gebiet "Nesserland" habe besorgen wollen.
Ob ein Versicherter von dem Angebot einer Werkskantine Gebrauch machen will oder ob er seine Mahlzeiten an anderer, ihm genehmerer Stelle einzunehmen wünscht, ist grundsätzlich seiner Entscheidung überlassen (vgl, Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand Dezember 1976, S. 486 o I, II). Dabei ist ihm, wenn er sich für die Einnahme der Mahlzeiten außerhalb des Betriebes entscheidet, hinsichtlich der Wahl der in Betracht kommenden Örtlichkeiten, insbesondere Gaststätten, ein nicht zu geringer Spielraum einzuräumen (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, Stand Oktober 1976, Anm. 8 zu § 550 RVO S. 265 und Vollmar in WzS 1976, 79, 80 unter Nr. 3, beide unter Hinweis auf ein Urteil des BSG vom 18. Dezember 1969, 2 RU 252/67, z.T. abgedruckt in WzS 1970, 81). Dasselbe muß gelten, wenn der Versicherte außerhalb seiner Arbeitsstätte nicht essen, sondern sich Nahrungsmittel zum Verzehr in der Pause oder in der sich daran anschließenden Arbeitszeit besorgen will. Würde man - wie das LSG - die Angemessenheit eines zu diesem Zweck unternommenen Weges davon abhängig machen, ob an der Arbeitsstätte eine Kantine vorhanden und wie deren Angebot beschaffen ist, so wäre die dem Versicherten einzuräumende Wahlmöglichkeit über Gebühr eingeengt oder praktisch aufgehoben; zum anderen müßten zur Beurteilung der Angemessenheit des Weges u.a. Vergleiche hinsichtlich des Umfangs, der Qualität und der Preise der in der Kantine angebotenen Waren mit den Angeboten anderer Gast- oder Verkaufsstätten angestellt werden. Der objektiven Feststellung der hierfür notwendigen Tatsachen würden - insbesondere zur Frage der Qualität - erhebliche, u.U. kaum zu überwindende Schwierigkeiten entgegenstehen.
Allerdings kann nicht jeder noch so weite Weg in der Arbeitspause unter Unfallversicherungsschutz stehen, wenn der Bezug des Weges zur versicherten Tätigkeit erhalten bleiben soll. Ob insoweit - im Sinne einer "Verhältnismäßigkeitsprüfung" - darauf abzustellen ist, ob das Ziel des Weges nicht wesentlich weiter von der Arbeitsstelle entfernt ist als die Wohnung des Versicherten (so Brackmann aaO S. 486 o I), oder ob es noch im "Stadtbereich" liegt (so BSG in SozR Nr. 47 zu § 543 aF RVO), kann dahinstehen; diese Abgrenzungsmerkmale sind nach Ansicht des Senats jedenfalls nicht erschöpfend. Insbesondere ist die kilometermäßige Entfernung, die das LSG hier mit 3,5 km und die Revision mit 2,5 km angegeben hat, dann von untergeordneter Bedeutung, wenn der Versicherte sie, was ihm freigestellt ist, nicht zu Fuß, sondern mit einem Motorfahrzeug zurücklegen will (BSG 20, 219, 221), er dann also auch ein entfernteres Ziel in relativ kurzer Zeit erreichen kann. Nach Auffassung des Senats ist aber gerade die zeitliche Dauer des beabsichtigten Weges von entscheidender Bedeutung. Die Arbeitspause soll in erster Linie der Erholung des Versicherten und der Regenerierung seiner Kräfte für die noch bevorstehende Tätigkeit dienen. Diesem Zweck würde es widersprechen, wenn die zurückgelegten Wege den überwiegenden Teil der Pause in Anspruch nähmen, so daß zur Erholung - einschließlich der Nahrungsaufnahme - nur noch der geringere Teil der Pause zur Verfügung stände. Für solche - im Verhältnis zur Dauer der Arbeitspause unangemessen weiten - Wege könnte der Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit nicht mehr als wesentlich erachtet werden, so daß sie schon aus diesem Grunde unversichert wären.
Im vorliegenden Fall hat das LSG festgestellt, die Mittagspause habe 30 Minuten betragen, das Gebiet "Nesserland" habe ein Kraftfahrer vom Werkstor aus in ca. vier Minuten erreichen können. Der Kläger hätte hiernach für die Hin- und Rückfahrt acht bis höchstens zehn Minuten benötigt, der gesamte Weg hätte ca. 1/3 der Pausenzeit in Anspruch genommen. Einen solchen Weg hält der Senat noch nicht für unverhältnismäßig weit.
Der Kläger hätte auf dem fraglichen Wege allerdings nur dann unter Versicherungsschutz gestanden, wenn die zu beschaffenden Nahrungsmittel zum Verzehr in der Pause oder in der anschließenden Arbeitszeit bestimmt waren, also nicht etwa als Vorrat dienen oder erst während späterer Arbeitsschichten verzehrt werden sollten. Auch das Besorgen von Lebensmitteln zum späteren Verzehr zu Hause wäre als eigenwirtschaftliche Tätigkeit unversichert gewesen (vgl. Brackmann aaO S. 486 o II). Hierzu hat das LSG - weil von seinem Rechtsstandpunkt nicht erforderlich - bisher keine Feststellungen getroffen. Seine Feststellung, der Kläger habe zusammen mit den anderen Arbeitskollegen Einkaufsmöglichkeiten im Gebiet "Nesserland" aufsuchen wollen, er habe Eßwaren (Würstchen, Koteletts, Mettwurst, Ölsardinen oder ähnliche Lebensmittel) außerhalb des Werkes einkaufen wollen, läßt es sowohl als möglich erscheinen, daß der Kläger Besorgungen zum alsbaldigen Verzehr machen wollte, als auch, daß er sich Vorräte besorgen oder Einkäufe für seinen privaten Bereich zu Hause tätigen wollte. Zur Nachholung der erforderlichen Feststellungen war der Rechtsstreit daher an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Wenn sich der Zweck der Unfallfahrt trotz Erschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht hinreichend sicher klären lassen sollte, würde der Kläger nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast für die anspruchsbegründenden Tatsachen, zu denen der ursächliche Zusammenhang des Unfalls mit der versicherten Tätigkeit gehört, die Beweislast zu tragen haben.
Die Entscheidung über die Kosten - auch des Revisionsverfahrens - bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen