Entscheidungsstichwort (Thema)
Vor dem 1957-01-01 über 50 Jahre alte rentenbeziehende Handwerker
Leitsatz (amtlich)
Handwerker bleiben nach HwVG § 7 Abs 1 von der Versicherungspflicht auch dann befreit, wenn sie einen Befreiungsantrag nach HwVGÄndG Art 1 Abs 2 Nr 3 bis zum 1956-12-31 deshalb nicht gestellt haben, weil sie bereits wegen des Bezuges einer Berufsunfähigkeitsrente versicherungsfrei gewesen sind.
Leitsatz (redaktionell)
Die Interessenlage dieses Personenkreises erfordert, daß sie den in HwVG § 7 Abs 1 genannten Personen gegenüber nicht schlechter gestellt werden dürfen.
Normenkette
HwVG § 7 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1960-09-08; HwAVGÄndG Art. 1 Abs. 2 Nr. 3 Fassung: 1956-08-27; HwVG § 7 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1960-09-08
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. Oktober 1965 und des Sozialgerichts Speyer vom 26. August 1963 sowie der Bescheid der Beklagten vom 24. Juli 1962 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. März 1963 aufgehoben.
Es wird festgestellt, daß der Kläger von der Versicherungspflicht nach dem Handwerkerversicherungsgesetz in der Zeit vom 1. Januar 1962 bis 30. September 1963 befreit war.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der im Jahre 1898 geborene Kläger in der Zeit vom 1. Januar 1962 bis 30. September 1963 nach dem Handwerkerversicherungsgesetz (HwVG) versicherungspflichtig war.
Der Kläger ist seit 1937 in der Handwerksrolle eingetragen. Bis zur Währungsreform war er nach den §§ 3 und 4 des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk (HVG) versicherungsfrei, weil er eine Lebensversicherung abgeschlossen und dafür Beiträge in ausreichender Höhe geleistet hatte. Von 1948 bis 1955 übte er eine Angestelltentätigkeit aus. Aufgrund der deswegen geleisteten 79 Pflichtbeiträge zur Angestelltenversicherung bewilligte ihm die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) vom 1. Februar 1955 an das Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit. Diese Rente gilt seit 1. Oktober 1963 als Altersruhegeld.
Die Beklagte zog den Kläger zur Beitragsleistung an die Handwerkerversicherung für die Zeit vom 1. Januar 1962 bis 30. September 1963 heran.
Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers waren ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz wies die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) Speyer vom 26. August 1963 mit der Begründung zurück, die Voraussetzungen der Versicherungsfreiheit nach § 7 Abs. 1 HwVG seien im streitigen Zeitraum nicht gegeben, weil der Kläger es unterlassen habe, bis zum 31. Dezember 1956 bei der BfA die Befreiung von der Handwerkerversicherungspflicht nach Art. 1 Abs. 2 Nr. 3 des Gesetzes zur vorläufigen Änderung des Gesetzes über die Altersversorgung für das Deutsche Handwerk vom 27. August 1956 - BGBl I 755 - ( HVÄndG ) zu beantragen. Der Kläger könne auch nicht so gestellt werden, wie wenn er den Antrag gestellt hätte, weil nicht zu erkennen sei, ob der Gesetzgeber bei der Rentenreform die Gruppe der Handwerker, die bis 31. Dezember 1956 infolge Rentenbezugs auch ohne Antragstellung versicherungsfrei waren, übersehen habe oder ob er sie vom 1. Januar 1957 an bewußt wieder versicherungspflichtig gemacht habe (Urteil vom 13. Oktober 1965).
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger die unrichtige Anwendung des § 7 Abs. 1 HwVG und des Art. 1 Abs. 2 Nr. 3 HVÄndG durch das Berufungsgericht. Für ihn sei ein Antrag nach dieser Vorschrift nicht in Betracht gekommen, weil er schon wegen des Bezuges einer Berufsunfähigkeitsrente während der Antragsfrist versicherungsfrei gewesen sei. Der Gesetzgeber habe keinesfalls beabsichtigt, die am 1. Januar 1957 bereits über 50 Jahre alten, rentenbeziehenden Handwerker hinsichtlich der Befreiung von der Versicherungspflicht schlechter zu stellen als diejenigen Handwerker der gleichen Altersklasse, die bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Rente bezogen. Desgleichen könne es nicht Sinn des Gesetzes sein, schon vor 1957 invalide gewordene Handwerker, die seitdem Rente beziehen, erstmalig ab 1. Januar 1962 versicherungspflichtig zu machen. Die Beklagte habe im Berufungsverfahren selbst eingeräumt, daß es sich hier um einen Fall handele, der vom Gesetzgeber übersehen worden sei.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 13. Oktober 1965 und des SG Speyer vom 26. August 1963 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. Juli 1962 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. März 1963 aufzuheben und festzustellen, daß er vom 1. Januar 1962 bis 30. September 1963 nicht der Versicherungspflicht nach dem Handwerkerversicherungsgesetz unterlegen habe.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie macht sich die Ausführungen des Berufungsgerichts zu eigen.
II
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist begründet.
Der Kläger ist entsprechend § 7 Abs. 1 Satz 1 und 2 HwVG, obwohl er nicht die Befreiung nach Art. 1 Abs. 2 Nr. 3 HVÄndG beantragt hat, wie ein von der Versicherungspflicht befreiter Handwerker anzusehen.
Nach den für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) ist davon auszugehen, daß der Kläger für seine Lebensversicherungen bis zur Währungsumstellung am 21. Juni 1948 ebensoviel aufgewendet hatte wie er zur Rentenversicherung der Angestellten hätte zahlen müssen. Die bis dahin somit bestehende Versicherungsfreiheit nach § 3 HVG blieb dem Kläger gem. Art. 1 Abs. 1 HVÄndG bis zum 31. Dezember 1956 erhalten. Für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 sah Art. 1 Abs. 2 Nr. 3 HVÄndG für alle bereits beim Inkrafttreten des Gesetzes über 50 Jahre alten Handwerker - unter den im vorliegenden Fall erfüllten Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 1 HVÄndG - eine Befreiungsmöglichkeit bei entsprechender Antragstellung vor. Mit der Möglichkeit der Antragstellung war der Handwerker vor die Wahl gestellt, ob er künftig den Schutz der gesetzlichen Rentenversicherung in Anspruch nehmen oder auf ihn verzichten wollte. Diese Regelung beruhte auf der Erwägung, daß eine ausreichende Altersversorgung für die älteren Handwerker, welche durch die Währungsreform und die unsichere Rechtslage bis zum Erlaß des Änderungsgesetzes im Hinblick auf ihre Alterssicherung stark betroffen waren, auch durch eine Pflichtversicherung ab 1. Januar 1957 nicht mehr sicher verwirklicht werden konnte; vor allem erschien es fraglich, ob es den über 50 Jahre alten Handwerkern noch gelingen konnte, die große Wartezeit für das Altersruhegeld zu erfüllen.
Diesem gesetzgeberischen Zweck - Freistellung der über 50-jährigen Handwerker von der Versicherungspflicht - würde es aber widersprechen, wenn man von der sich in der Zukunft auswirkenden Befreiung diejenigen über 50 Jahre alten Handwerker ausnehmen wollte, die - wie der Kläger - während der bis zum 31. Dezember 1956 laufenden Antragsfrist des Art. 1 Abs. 2 Nr. 3 HVÄndG bereits ein Ruhegeld wegen dauernder Berufsunfähigkeit i.S. der §§ 26, 27 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aF bezogen. Die Interessenlage dieses Personenkreises erfordert, daß sie den in § 7 Abs. 1 HwVG genannten Personen gegenüber nicht schlechter gestellt werden dürfen.
Beim Erlaß des HVÄndG vom 27. August 1956 bestand kein Anlaß, eine besondere Regelung für über 50 Jahre alte Rentenbezieher in Art. 1 Abs. 2 Nr. 3 HVÄndG zu treffen, weil diese Personen - wovon auch das LSG zutreffend ausgeht - bereits kraft Gesetzes versicherungsfrei waren (§ 13 AVG aF bzw. § 172 Ziff. 7 der Reichsversicherungsordnung - RVO - idF der VO vom 17. März 1945; über deren räumlichen und zeitlichen Geltungsbereich vgl. BSG 3, 161 ff). Diese gesetzliche Versicherungsfreiheit stand aber als allgemeine Regelung der Beanspruchung einer Befreiung entgegen. Von jemandem, der schon kraft Gesetzes versicherungsfrei war, konnte nicht erwartet werden, daß er sich noch zusätzlich von der Versicherungspflicht befreien ließ, wobei es offen bleiben kann, ob eine solche Befreiung, die dann vorsorglich für den Fall eines künftigen Wegfalls der Rente hätte erfolgen müssen, rechtlich überhaupt möglich gewesen wäre (vgl. BSG 26, 282 und BSG-Urteil vom 17.2.1970 - Az.: 1 RA 187/69 -). Daraus, daß in Art. 1 Abs. 2 Nr. 3 HVÄndG solche über 50-jährige Handwerker, die bereits ein Ruhegeld wegen dauernder Berufsunfähigkeit empfangen, nicht besonders erwähnt sind, kann daher nicht gefolgert werden, es habe der Absicht des Gesetzgebers entsprochen, diesen Personenkreis von einer in die Zukunft wirkenden Beitragsbefreiung auszuschließen.
Nun enthält zwar das Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) in Art. 2 § 52 keinen Hinweis auf den in Art. 1 Abs. 2 Nr. 3 HVÄndG angesprochenen Personenkreis, obwohl die bisherige gesetzliche Versicherungsfreiheit für Bezieher von Versichertenrenten wegen Berufsunfähigkeit - im Falle einer Weiterbeschäftigung - durch die Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze weggefallen ist. Dadurch ist für den vorliegenden Fall der über 50 Jahre alten und bereits vor dem 1. Januar 1957 rentenbeziehenden Handwerker, die keinen Befreiungsantrag gestellt haben, eine Gesetzeslücke entstanden, die es auszufüllen gilt. Der Senat vermag der Auffassung des LSG nicht zu folgen, es sei nicht zu erkennen, ob der Gesetzgeber diesen Sonderfall bei der Rentenreform im Jahre 1957 übersehen oder ob er bewußt diesen Personenkreis ebenso wie die jüngeren Rentner gleicher Art wieder in die Versicherungspflicht einbezogen hat. Der entscheidende Unterschied zu den übrigen rentenbeziehenden Versicherten liegt darin, daß diesen vom Gesetz - im Gegensatz zu den bei Inkrafttreten des HVÄndG über 50 Jahre alten Handwerkern - gerade nicht in einer vor Erlaß der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze bereits abgelaufenen Antragsfrist die Möglichkeit eingeräumt worden war, für alle Zukunft die Versicherungsfreiheit zu erreichen.
Da aber davon ausgegangen werden kann, daß den infolge Rentenbezugs bis zum 31. Dezember 1956 versicherungsfreien über 50 Jahre alten Handwerkern für die Zukunft die Wirkungen erhalten bleiben sollten, die sie sonst aus der für sie nicht notwendigen Antragstellung nach Art. 1 Abs. 2 Nr. 3 HVÄndG erlangt hätten, ist der Senat davon überzeugt, daß dem Gesetzgeber die durch bloße Bezugnahme auf diese Antragstellung in § 7 Abs. 1 HwVG eingetretene ungünstigere Rechtsposition für die genannten Rentenbezieher nicht bewußt geworden ist und er die Notwendigkeit ergänzender Regelungen nicht erkannt hat. Die daher insoweit "planwidrige Unvollständigkeit" der im HwVG getroffenen Übergangsregelungen (vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 4. Aufl., S. 138) führt dazu, daß der Gesetzgeber, wenn er einen Fall wie den vorliegenden bedacht hätte, eine zusätzliche Ausnahmeregelung getroffen hätte.
Der Senat kommt daher zu dem Ergebnis, daß die bloß versehentlich unterbliebene Einbeziehung der bereits vor dem 1. Januar 1957 über 50 Jahre alten rentenbeziehenden Handwerker in die Ausnahmeregelung des § 7 Abs. 1 HwVG nicht zu Lasten des Klägers gehen darf, es vielmehr - über eine nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes gerechtfertigte ergänzende Rechtsfindung (vgl. hierzu auch BSG 20, 282) - geboten ist, die gesetzliche Versicherungsfreiheit infolge Rentenbezugs mit einer Antragstellung i.S. des Art. 1 Abs. 2 Nr. 3 HVÄndG bei der Prüfung der weiteren Versicherungsbefreiung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 und 2 HwVG gleichzusetzen.
Danach blieb der Kläger auch ohne Antrag gem. § 7 Abs. 1 HwVG von der Versicherungspflicht nach dem Handwerkerversicherungsgesetz in der Zeit vom 1. Januar 1962 bis 30. September 1963 befreit. Dies war auf die Revision des Klägers unter Aufhebung der Urteile des LSG und des SG sowie des mit der Klage angefochtenen Bescheides der Beklagten festzustellen (§§ 54 Abs. 1, 55 Abs. 1 Nr. 1, 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen