Entscheidungsstichwort (Thema)

Bauarbeiten für den Wirtschaftsbetrieb iS von § 777 Nr 3 RVO

 

Orientierungssatz

1. Die von dem landwirtschaftlichen Unternehmer vorbehaltenen Arbeiten sind bei der Anwendung von § 777 Nr 3 RVO nicht in einzelne Teilverrichtungen zu zerlegen, sondern als Einheit anzusehen, weil andernfalls das auf die landwirtschaftliche Unfallversicherung übertragene Unfallrisiko entgegen der Tendenz des Gesetzes ungebührlich ausgedehnt wird (vgl BSG 1974-05-15 8 RU 118/73).

2. Für die Frage, ob die Vorbehaltsarbeiten noch im Rahmen des Wirtschaftsbetriebes liegen, kommt es auf das Verhältnis der Gesamtheit der vorbehaltenen Bauarbeiten zur Betriebsgröße an. Dabei ist vor allem nach dem Ausmaß der vorbehaltenen Bauarbeiten im Verhältnis zu den in dem Wirtschaftsbetrieb anfallenden landwirtschaftlichen Tätigkeiten zu fragen, also die Arbeitskapazität nach Zeitbedarf und Arbeitswert zu überprüfen (vgl BSG 1978-04-20 2 RU 69/77 = BSGE 30, 295).

3. § 777 Nr 3 RVO unterscheidet "laufende Ausbesserungen an Gebäuden" von "anderen Bauarbeiten" und gebraucht damit die Begriffe in dem üblichen Sinne, wonach bauliche Reparaturen bzw die ordnungsgemäße Instandhaltung von sonstigen Bauarbeiten wie der Errichtung oder Erweiterung von Gebäuden unterschieden werden.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs 1 Nr 5 Fassung: 1963-04-30, § 777 Nr 3 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 17.09.1980; Aktenzeichen L 2 U 214/79)

SG Landshut (Entscheidung vom 12.06.1979; Aktenzeichen S 3 U 74/78 UL)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Unfall der Klägerin am 4. Mai 1977 dem gemeinsam mit ihrem Ehemann bewirtschafteten landwirtschaftlichen Unternehmen zuzurechnen ist, oder ob er sich bei Bauarbeiten ereignete, die den Rahmen dieses Wirtschaftsbetriebes überschritten.

Das Unternehmen in einer vom Landessozialgericht (LSG) festgestellten Größe von 15,67 ha wurde von der Klägerin und ihrem Ehemann ohne Mithilfe anderer ständig tätiger Personen bewirtschaftet. Beim Maissilieren und in der Rübenernte half jeweils ein Verwandter aus.

In den Jahren 1975/1977 errichteten die Eheleute anstelle eines abgebrochenen Stalles ein neues Wirtschaftsgebäude mit einer Nutzfläche von 204,38 qm als Bullenstall mit Güllegrube, Maschinenhalle und Garage. Der Kostenvoranschlag belief sich auf 118.000,-- DM. Die Bauarbeiten wurden teilweise gewerblichen Unternehmen übertragen, wobei die Eheleute sich wiederum ihre Mithilfe und den Einsatz selbst gestellter Hilfskräfte vorbehielten. Bei den Rohbauarbeiten half ein Verwandter, bei den Zimmerarbeiten waren neben den Eheleuten drei weitere Helfer tätig, beim Eindecken des Daches fünf Helfer und bei Bedarf die Eheleute. Beim Innenausbau des Stalles half eine familienfremde Person. Den weiteren Innenausbau - Betonieren der Fußböden in Garage und Maschinenhalle, Verlegen des Bodens über der Maschinenhalle - führten die Eheleute aus. Der Ehemann der Klägerin half auch bei den Außenputzarbeiten. Der Unfall ereignete sich beim Reinigen und Streichen der Holzuntersicht des Dachvorsprunges. Diese Tätigkeit erledigte die Klägerin auf dem noch bereiten Baugerüst.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 16. August 1977 die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung ab, die vorbehaltenen Bauarbeiten hätten sich nicht im Rahmen des Wirtschaftsbetriebes gehalten.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 12. Juni 1979). Es hat ausgeführt, daß die Tätigkeit im Unfallzeitpunkt nicht für sich betrachtet werden dürfe. Vielmehr sei der Umfang sämtlicher Eigenleistungen für die Beantwortung der Frage maßgebend, ob die unfallbringende Bauarbeit sich im Rahmen des Betriebes gehalten habe. Dieser Rahmen sei hier gesprengt. Das LSG hat die Beklagte zur Entschädigung des Unfalles am 4. Mai 1977 verurteilt (Urteil vom 17. September 1980). Nach seiner Rechtsauffassung sind die Eigenarbeiten nicht in ihrer Gesamtheit zu berücksichtigen; es komme vielmehr auf den Umfang der im Unfallzeitpunkt verrichteten Tätigkeit an. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Nach ihrer Rechtsauffassung ist der Umfang aller vorbehaltenen Bauarbeiten maßgebend. Diese hätten im vorliegenden Fall die Arbeitskapazität des Unternehmens überschritten und seien daher keine "Bauarbeiten für den Wirtschaftsbetrieb" iS von § 777 Nr 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) gewesen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. September 1980 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 12. Juni 1979 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Rechtsauffassung des LSG für richtig und meint außerdem, die Unfalltätigkeit sei eine laufende Ausbesserung und Instandhaltung an dem Wirtschaftsgebäude gewesen, weil diese Arbeiten immer wieder anfielen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Die nach § 539 Abs 1 Nr 5 RVO gegen Unfall versicherte Klägerin hat am 4. Mai 1977 keinen Arbeitsunfall im Sinne des § 548 Abs 1 Satz 1 iVm § 777 Nr 3 RVO erlitten; denn sie ist bei der Ausführung von Bauarbeiten verunglückt, die den Rahmen des Wirtschaftsbetriebes überschritten.

Nach § 777 Nr 3 RVO gelten als Teil des landwirtschaftlichen Unternehmens ua "Bauarbeiten für den Wirtschaftsbetrieb", wenn ein landwirtschaftlicher Unternehmer die Arbeiten auf seinem Grundstück ausführt, ohne sie anderen Unternehmern zu übertragen. Zu diesen Bauarbeiten zählen auch Hilfeleistungen, die sich ein Landwirt vorbehält, wenn er die Ausführung von Bauarbeiten im ganzen oder zum Teil einem oder mehreren gewerblichen Unternehmen übertragen hat - sog Vorbehaltsleistungen (vgl zuletzt BSG SozSich 1978, 217). Der erkennende Senat hat von Anfang an bei der Auslegung der insoweit gleichlautenden Vorschrift des § 916 Abs 2 RVO aF aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte sowie dem Sinn und Zweck der Norm abgeleitet, daß nur solche Bauarbeiten als Teil des landwirtschaftlichen Unternehmens anzusehen sind, welche im Rahmen dieses Wirtschaftsbetriebes liegen (BSGE 17, 148, 149 mwN). Auch das LSG geht von diesem Grundsatz aus; die Beteiligten zweifeln seine Richtigkeit ebenfalls nicht an. Danach ist für die Abgrenzung von Bauarbeiten iS von § 777 Nr 3 RVO zu solchen Bauarbeiten, welche dem Schutz der landwirtschaftlichen Unfallversicherung nicht unterfallen, maßgebend, ob der Umfang der vorbehaltenen Bauarbeiten angesichts der Größe des Wirtschaftsbetriebes dessen Rahmen sprengt (BSGE 35, 144, 146; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S 496 e, f; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 777 Anm 13 Buchst b). Der zuständigen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft soll nach Sinn und Zweck des Gesetzes das dem landwirtschaftlichen Unternehmen an sich fremde Unfallrisiko für Bauarbeiten nur aufgebürdet werden, wenn es sich um die Ausführung von Bauarbeiten von verhältnismäßig geringem Umfang handelt (BSGE 35, 144, 146). Dies bleibt bei der vom LSG getroffenen Entscheidung weitgehend unberücksichtigt. Zerlegt man die von dem landwirtschaftlichen Unternehmer vorbehaltenen Arbeiten in einzelne Teilverrichtungen und prüft, ob der jeweilige Teil der Bauarbeiten sich im Rahmen des Betriebes hält, so sind die Arbeiten nahezu stets verhältnismäßig geringfügig. Die Betrachtungsweise des LSG führt vielfach zu dem mit Sinn und Zweck des Gesetzes nicht zu vereinbarenden Ergebnis, daß auch umfangreiche vorbehaltene Bauarbeiten, welche den betrieblichen Rahmen sprengen, wie etwa die Errichtung größerer Gebäude oder Gebäudeteile, nur deshalb vom Schutz der landwirtschaftlichen Unfallversicherung umfaßt werden, weil sie aus historischen Gründen in unterschiedliche Gewerke zerlegt werden können. Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits für Bauarbeiten, die sich über eine lange Zeit erstrecken, entschieden, daß sie bei der Anwendung von § 777 Nr 3 RVO als Einheit anzusehen sind, weil andernfalls das auf die landwirtschaftliche Unfallversicherung übertragene Unfallrisiko entgegen der Tendenz des Gesetzes ungebührlich ausgedehnt wird (Urteil vom 15. Mai 1974 - 8 RU 118/73). Das gilt erst recht für Vorbehaltsarbeiten, welche sich nicht über längere Zeit hinziehen. Hieran ändert nichts, daß in der Landwirtschaft heute möglicherweise Maschinen und Geräte zur Verfügung stehen, die bei der Erledigung oder beim Vorbereiten von Bauarbeiten eingesetzt werden können. Halten sich diese Arbeiten nicht mehr in dem beschriebenen Verhältnis zur Betriebsgröße - wogegen allerdings das Vorhandensein derartiger Betriebsmittel sprechen könnte -, so ist der Rahmen der "Bauarbeiten für den Wirtschaftsbetrieb" iS von § 777 Nr 3 RVO überschritten. Dem LSG ist demgemäß insofern zuzustimmen, daß die Errichtung von größeren landwirtschaftlichen Bauvorhaben in der Regel als berufsfremde Tätigkeit nicht zum Risiko der landwirtschaftlichen Unfallversicherung zählen wird.

Soweit das LSG seine Entscheidung auf das Urteil des BSG vom 15. Mai 1974 aaO stützt, liegt erkennbar ein Mißverständnis vor. Das BSG hat in diesem Urteil Vorbehaltsarbeiten auch innerhalb abgegrenzter Tätigkeiten (zB Einschalen) nicht ausgeschlossen. Für die weitere Frage, ob die Vorbehaltsarbeiten noch im Rahmen des Wirtschaftsbetriebes liegen, kommt es auch nach diesem Urteil auf das Verhältnis der Gesamtheit der vorbehaltenen Bauarbeiten zur Betriebsgröße an. Daß bei größeren Bauvorhaben und entsprechend umfangreichen Vorbehaltsarbeiten der Versicherungsschutz seltener sein wird, entspricht dem aufgezeigten Sinn und Zweck des § 777 Nr 3 RVO. In diesem Zusammenhang hat das BSG stets vor allem nach dem Ausmaß der vorbehaltenen Bauarbeiten im Verhältnis zu den in dem Wirtschaftsbetrieb anfallenden landwirtschaftlichen Tätigkeiten gefragt, also die Arbeitskapazität nach Zeitbedarf und Arbeitswert überprüft (BSGE 30, 295, 298 = Sgb 1971, 484, 486 mit zustim. Anmerkung von Hinz; Urteil vom 20. April 1978 - 2 RU 69/77). Es hat ferner zum Ausdruck gebracht, daß die Arbeitskapazität eines Wirtschaftsbetriebes in der Regel überschritten ist, wenn Arbeitskräfte nur zur Bewältigung der vorbehaltenen Bauarbeiten ausnahmsweise in das landwirtschaftliche Unternehmen einbezogen werden und der Einsatz einer solchen Anzahl von Arbeitskräften sonst zu keinem Zeitpunkt in einem Wirtschaftsjahr, also auch nicht in Zeiten des Spitzenbedarfs, in den landwirtschaftlichen Bereichen des Unternehmens notwendig ist (BSG Urteil vom 20. April 1978 aaO).

Bereits unter diesem Gesichtspunkt wurde nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG im vorliegenden Falle die Arbeitskapazität des Unternehmens der Klägerin überschritten. Während in dem landwirtschaftlichen Bereich jährlich nur kurzfristig jeweils eine zusätzliche Hilfskraft zum Einsatz kam, wurden zu den vorbehaltenen Bauarbeiten bis zu fünf familienfremde Hilfskräfte und diese für einen weitaus längeren Zeitraum als die zusätzlichen Hilfskräfte während der Erntezeit eingesetzt. Somit sprengte das Ausmaß der vorbehaltenen Bauarbeiten den Betriebsrahmen insoweit bei weitem. Diese Bauarbeiten wurden daher nicht mehr als "Teil des landwirtschaftlichen Unternehmens", wie dies in § 777 RVO verlangt wird, verrichtet. Versicherungsschutz in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung bestand nicht.

Unter den dargelegten Umständen war nicht mehr zu überprüfen, ob die Vorbehaltsarbeiten auch bereits nach ihrem Ausmaß den betrieblichen Rahmen selbst dann überschritten hätten, wenn Vorbehaltsarbeiten nur von der Klägerin und ihrem Ehemann verrichtet worden wären, so daß ua der Frage nicht weiter nachgegangen zu werden brauchte, ob auch die dem Neubau vorangegangenen Abbrucharbeiten von den landwirtschaftlichen Unternehmern durchgeführt wurden und damit den vorbehaltenen Bauarbeiten als vorbereitende Tätigkeiten zuzurechnen sind.

Soweit die Klägerin meint, sie sei bei einer "laufenden Ausbesserung an Gebäuden" verunglückt, weil das Wirtschaftsgebäude im Unfallzeitpunkt bereits einschließlich Außenputz fertiggestellt war, verwendet sie den Begriff der Fertigstellung unrichtig. Das Gesetz unterscheidet "laufende Ausbesserungen an Gebäuden" von "anderen Bauarbeiten" und gebraucht damit die Begriffe in dem üblichen Sinne, wonach bauliche Reparaturen bzw die ordnungsgemäße Instandhaltung von sonstigen Bauarbeiten wie der Errichtung oder Erweiterung von Gebäuden unterschieden werden (vgl Brackmann aaO S 496 d, e; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Unfallversicherung, 4. Aufl, § 777 Anm 4 Buchst a). Die Klägerin säuberte die Holzuntersicht von Verunreinigungen, die mit der Errichtung des Wirtschaftsgebäudes zusammenhingen, und versah sie dann erstmals mit einem Schutz. Sie führte also Arbeiten aus, welche die Herstellung des Gebäudes ordnungsgemäß abschlossen; um Reparatur- oder Instandsetzungsarbeiten handelte es sich nicht. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661824

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