Entscheidungsstichwort (Thema)
Vormerkung einer Anschlußersatzzeit
Leitsatz (amtlich)
1. Die Vormerkung von Zeiten der Krankheit und unverschuldeten Arbeitslosigkeit, die iS von § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO an eine - individuell nachgewiesene - Vertreibung anschließen, setzt nicht voraus, daß die Zeit der Vertreibung selbst Ersatzzeit ist.
2. Zeiten ab Vollendung des 14. Lebensjahres können als Ersatzzeiten angerechnet werden (Fortführung und Ergänzung von BSG vom 14.4.1981 4 RJ 27/80 = SozR 2200 § 1251 Nr 83).
Orientierungssatz
Die Vormerkung einer sogenannten Anschlußersatzzeit nach § 1251 RVO setzt nicht voraus, daß Krankheit oder unverschuldete Arbeitslosigkeit an die "Primärersatzzeiten" der Vertreibung, Flucht, Umsiedlung oder Aussiedlung anschließen.
Normenkette
RVO § 1251 Abs 1 Nr 6
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 06.08.1986; Aktenzeichen L 8 J 244/85) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 14.10.1985; Aktenzeichen S 8 J 59/85) |
Tatbestand
Streitig ist die Vormerkung einer Ersatzzeit.
Der am 26. Januar 1933 in W./Pommern geborene Kläger ist Inhaber des Vertriebenenausweises A. Er hält sich seit dem 17. April 1946 ständig im Bundesgebiet auf. Im Mai 1946 wurde bei ihm eine tuberkulöse Hüftgelenksentzündung festgestellt, die zu einer Versteifung der linken Hüfte mit Beinverkürzung führte. Er befand sich in der nachfolgenden Zeit in ärztlicher Behandlung, zuletzt im Krankenhaus M.. In dessen Entlassungsbericht vom 13. September 1949 hieß es ua, nach drei Monaten Schonung werde der Patient arbeitseinsatzfähig für leichteste Arbeiten sein. Eine Bescheinigung entsprechenden Inhalts stellte das Gesundheitsamt S. dem Kläger unter dem 9. November 1949 zur Vorlage beim Arbeitsamt S. aus. Nach Angaben des Klägers meldete er sich beim Arbeitsamt S. arbeitsuchend, sobald er arbeitsfähig geworden war; auch in D., wohin er am 17. März 1953 verzog, suchte er - wie er angibt - beim Arbeitsamt um Arbeit nach und erhielt eine geringe Arbeitslosenunterstützung. Ab 1. Juni 1953 war er versicherungspflichtig beschäftigt.
Im Kontenklärungsverfahren blieb das Begehren des Klägers, die Zeiten seiner Tbc-Erkrankung und nachfolgenden Arbeitslosigkeit als Ersatzzeit anzuerkennen, ohne Erfolg. Mit Bescheid vom 25. Juli 1984 erteilte ihm die Beklagte einen "Versicherungsverlauf" und lehnte es ua ab, die Zeiten vom 26. Januar 1947 bis zum 31. Mai 1953 anzuerkennen: Da der Kläger noch im schulpflichtigen Alter vertrieben worden und bis zur Beendigung der Flucht im April 1946 wegen des zu niedrigen Lebensalters rechtlich gehindert gewesen sei, Rentenversicherungsbeiträge zu entrichten, könnten seine Flucht kein Ersatzzeittatbestand iS des § 1251 Abs 1 Nr 6 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und deswegen die nachfolgenden Zeiträume der Krankheit und Arbeitslosigkeit ebenfalls keine Ersatzzeit sein.
Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte verurteilt, die Zeit vom 26. Januar 1947 bis zum 31. Mai 1953 als Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO vorzumerken (Urteil vom 14. Oktober 1985). Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) im angefochtenen Urteil vom 6. August 1986 zurückgewiesen. Es hat ausgeführt: Beim heimatvertriebenen Kläger lägen die sog Anschlußersatzzeittatbestände der an eine Vertreibung anschließenden Krankheit und Arbeitslosigkeit vor, weil er in zeitlichem Anschluß an das im April 1946 beendete Vertreibungsgeschehen infolge der tuberkulösen Hüftgelenksentzündung arbeitsunfähig erkrankt und darauf unmittelbar folgend bis Ende Mai 1953 unverschuldet arbeitslos gewesen sei, wenn auch der Zeitpunkt des Eintritts der Arbeitsfähigkeit nicht mehr festgestellt werden könne. Die Anerkennung dieser Zeiten setze weder voraus, daß die Krankheit oder Arbeitslosigkeit "nahtlos" an die Vertreibung anschlössen oder auf sie zurückzuführen seien, noch könne sie davon abhängig gemacht werden, daß die Vertreibungszeit selbst als Ersatzzeit anzuerkennen sei. Nach dem Gesetzeswortlaut reiche ein rein tatsächliches Vertreibungsgeschehen aus ohne Rücksicht darauf, ob es aus Rechtsgründen als Ersatzzeit anzuerkennen sei. Das Gesetz bezwecke mit den Ersatzzeitenregelungen des § 1251 Abs 1 RVO, die Nachteile auszugleichen, die durch die primär angeführten "Aufopferungstatbestände" herbeigeführt worden seien. Sie seien vielfach mit nachhaltigen gesundheitlichen Schäden und einer Lösung des Betroffenen von seiner bisherigen Existenzgrundlage verbunden gewesen. Der durch eine anschließende Krankheit oder Arbeitslosigkeit eingetretene Beitragsverlust solle ausgeglichen werden, weil der ursächliche Zusammenhang mit der Primärersatzzeit vermutet werde. Das Gesetz unterstelle dabei die Fortdauer des konkreten Aufopferungstatbestandes während der anschließenden Krankheit oder Arbeitslosigkeit, die ansonsten nur nach § 1251 RVO als Ausfallzeiten berücksichtigt werden könnten. Es sei sachlich nicht gerechtfertigt, darauf abzustellen, ob die Volksschulpflicht bereits zur Zeit der Vertreibung oder erst der anschließenden Krankheit beendet gewesen sei.
Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision trägt die Beklagte dagegen vor: Es sei notwendig und mit der Zielsetzung des § 1251 RVO vereinbar, daß die Anschlußersatzzeit immer das Vorhandensein eines im Einzelfall vormerkungsfähigen Primärersatzzeittatbestandes erfordere. Denn nur dann sei ein "Schadensausgleich" durch Anrechnung der Anschlußtatbestände als Ersatzzeit gerechtfertigt. Hieran fehlt es, wenn die Vertreibung in eine Zeit falle, in welcher der Versicherte das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet gehabt habe. Von einem "Anschluß" an einen Ersatzzeittatbestand könne iS des § 1251 Abs 1 RVO nur gesprochen werden, wenn der Tatbestand auch begrifflich als Ersatzzeit ausgewiesen werde. Den Primärersatzzeiten, die einen aufgrund einer "allgemeinen Opferlage" herbeigeführten Beitragsausfall entschädigen sollten, seien Zeiten der anschließenden Krankheit oder unverschuldeten Arbeitslosigkeit gleichgestellt worden, weil eine Beitragsleistung nicht habe erwartet werden können. Dies sei nur gerechtfertigt, wenn der Versicherte vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit bzw Arbeitslosigkeit der Versichertengemeinschaft als Beitragszahler habe angehören können und die Beitragsleistung nur aus von der Volksgesamtheit zu vertretenden Gründen unterblieben sei. Nach der Gesetzessystematik der §§ 1251 und 1259 RVO sei die Anerkennung von Zeiten der Krankheit und Arbeitslosigkeit als Ausfallzeiten nach § 1259 Abs 1 Nr 1 und 3 RVO von der Unterbrechung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung abhängig; nur der bereits erfolgte Eintritt in das Erwerbsleben rechtfertige es, die Solidargemeinschaft in Modifizierung des Versicherungsprinzips mit dem Ausgleich für diese beitragslosen Zeiten zugunsten des einzelnen Versicherten zu belasten. Es sei nicht einzusehen, warum dieser Bezug zu einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung bei Anschlußersatzzeiten nicht erforderlich sein solle. Die Vermutung des § 1251 Abs 1 RVO, Krankheit oder Arbeitslosigkeit stellten die Fortdauer des konkreten Aufopferungstatbestandes dar, könne nur Platz greifen, wenn der bereits eingetretene Aufopferungstatbestand zu einem rentenversicherungsrechtlichen Schaden geführt habe; anderenfalls bestehe kein Grund, einem Ausfallzeitsachverhalt Ersatzzeitcharakter beizumessen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß, das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. August 1986 und das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 14. Oktober 1985 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 25. Juli 1984 abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint, die Rechtsauffassung der Beklagen gehe am klaren Gesetzeswortlaut vorbei. Der Vergleich mit den Ausfallzeiten treffe nicht: zum einen gebe es Ausfallzeiten, die keine Vorversicherung voraussetzten (Ausbildungszeiten), zum anderen zeige § 1251 Abs 2 RVO, daß Ersatzzeiten typischerweise auch vorliegen könnten, wenn eine versicherungspflichtige Tätigkeit lediglich nachfolge.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet.
Zu Recht haben die Vorinstanzen entschieden, daß dem Kläger der geltend gemachte Vormerkungsanspruch, den er zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage verfolgen kann (BSG SozR 5280 § 17 DEVO Nr 4 mwN), für den Zeitraum ab Vollendung des 14. Lebensjahres, dh ab 26. Januar 1947 bis zum 31. Mai 1953 zusteht.
Gemäß § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO werden für die Erfüllung der Wartezeit als Ersatzzeiten ua angerechnet Zeiten der Vertreibung und einer anschließenden Krankheit oder unverschuldeten Arbeitslosigkeit bei Personen iS der §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG). Nach den mit der Revision nicht angegriffenen und somit für den Senat bindenden (§ 163 SGG) Tatsachenfeststellungen des LSG liegen diese Voraussetzungen vor. Der Kläger, der Inhaber des Vertriebenenausweises A ist, gehört zum Personenkreis der Heimatvertriebenen iS des § 2 BVFG. Die Vertreibungszeit endete mit seiner Wohnsitznahme im Bundesgebiet am 17. April 1946. Schon im folgenden Monat wurde bei ihm eine tuberkulöse Hüftgelenksentzündung erkannt, die Arbeitsunfähigkeit bedingt hat. Darauf folgte unmittelbar eine bis zum 31. Mai 1953 andauernde Zeit unverschuldeter Arbeitslosigkeit. Die Auffassung des LSG, diese Zeiten der Krankheit und Arbeitslosigkeit hätten sich iS des § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO an die Zeiten der Vertreibung angeschlossen, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Denn das Gesetz fordert weder einen zeitlich "nahtlosen" Anschluß der Krankheit oder Arbeitslosigkeit an die Vertreibung noch schließt es die Berücksichtigung einer Zeit unverschuldeter Arbeitslosigkeit als Ersatzzeit aus, die ihrerseits an eine der Vertreibung nachfolgende Krankheitszeit anschließt (vgl BSG SozR 2200 § 1251 Nr 50 und Nr 21 mwN). Im Hinblick auf die Eigenart der beim Kläger im Mai 1946 festgestellten Tbc-Erkrankung und die geringe Zwischenzeit seit dem Ende des Vertreibungsgeschehens bedarf es keiner näheren Darlegung, daß der gesetzlich vorgeschriebene zeitliche Zusammenhang ("Anschluß") zwischen Vertreibung und Krankheit/Arbeitslosigkeit rechtsfehlerfrei festgestellt worden ist. Dem steht auch nicht entgegen, daß das LSG den genauen Zeitpunkt des Endes der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als nicht mehr feststellbar erachtet hat. Denn es hat - auch insoweit bindend (§ 163 SGG) - aufgrund der eigenen Angaben des Klägers und der Bescheinigung des Gesundheitsamtes S. vom 9. November 1949 als gegeben erachtet, daß der Kläger sich arbeitsuchend gemeldet hat, sobald er arbeitsfähig geworden war. Bei dieser Sachlage schließt aber auch die Arbeitslosigkeit an die vorangegangene krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit an.
Der Vormerkungsanspruch des Klägers scheitert entgegen der Ansicht der Beklagten nicht daran, daß - worüber die Beteiligten nicht streiten - die vor dem 26. Januar 1947 liegenden Zeiten der Vertreibung und anschließenden Krankheit nicht als Ersatzzeit angerechnet werden können. Zutreffend weist die Revision darauf hin, daß im Regelfall Zeiten vor der Vollendung des 14. Lebensjahres nicht als Ersatzzeiten anrechenbar sind (BSGE 51, 272 = SozR 2200 § 1251 RVO Nr 83 mwN; SozR RVO § 1251 Nr 44). Denn aus Wesen und Zweck der Ersatzzeiten, Beitragszeiten zu ersetzen, ist zu folgern, daß sie nur angerechnet werden können, wenn zumindest die rechtliche Möglichkeit bestanden hat, gültige Beiträge zu entrichten. Dabei steht der rechtlichen Unmöglichkeit einer wirksamen Beitragsentrichtung aufgrund versicherungspflichtiger Beschäftigung die bloß theoretische Möglichkeit gleich. Der Senat hat in den beiden letztgenannten Entscheidungen herausgestellt, für Kinder habe vor Vollendung des 14. Lebensjahres regelmäßig lediglich eine theoretische Möglichkeit einer versicherungs- und beitragspflichtigen Beschäftigung bestanden, so daß ein Schaden durch Verlust von Beitragszeiten allenfalls denkmöglich, aber äußerst unwahrscheinlich und deswegen durch die Anrechnung von Ersatzzeiten im Regelfall nicht auszugleichen sei. Es braucht hier nicht abschließend entschieden zu werden, ob die vorgenannten Grundsätze, auf die noch zurückzukommen sein wird, bereits im Kontenklärungsverfahren der Feststellung für Ersatzzeiten rechtserheblicher Tatbestände (§ 17 Abs 1 DEVO) entgegensteht, oder ob in dieser Verfahrensart die Erfüllung der mit dem Gesetzeswortlaut vorgegebenen Tatbestandsmerkmale des § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO zur Vormerkung ausreicht. Dies könnte deswegen fraglich sein, weil sich die genannte Rechtsprechung des Senats zur Anrechenbarkeit von Ersatzzeiten ausspricht, während - worauf der Senat ebenfalls schon hingewiesen hat (BSG SozR 5280 § 17 DEVO Nr 4) - ein Versicherungsverlauf und die bei seiner Erteilung getroffenen Feststellungen nur dem Nachweis der gespeicherten Daten dienen und erst im potentiellen Leistungsfall über eine mögliche Anrechenbarkeit zu entscheiden ist. Dies ist aber im vorliegenden Fall nicht weiter zu erörtern, weil die Beklagte die im Streit befindlichen Zeiträume auch dann als für Ersatzzeiten rechtserhebliche Tatbestände vorzumerken hat, wenn davon auszugehen wäre, daß die vom Kläger vor dem 26. Januar 1947 zurückgelegten Zeiten der Vertreibung und anschließenden Krankheit aus weiteren rechtlichen Gründen nicht als Ersatzzeiten anzurechnen sind. Denn die Vormerkung einer sog Anschlußersatzzeit nach § 1251 RVO setzt nicht voraus, daß Krankheit oder unverschuldete Arbeitslosigkeit an die "Primärersatzzeiten" der Vertreibung, Flucht, Umsiedlung oder Aussiedlung anschließen.
Der Wortlaut des § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO deutet nicht an, der Gesetzgeber habe in dem von der Beklagten intendierten Sinn den an eine Vertreibung anschließenden Zeiten der Krankheit/Arbeitslosigkeit nur dann die Qualität von Ersatzzeiten zuerkennen wollen, wenn die - individuell nachgewiesenen (zu diesem Erfordernis BSG SozR 2200 § 1251 RVO Nr 4; BSG SozR RVO § 1251 Nr 48) - Zeiten der Vertreibung usw selbst im jeweiligen Einzelfall versicherungsrechtlich bedeutsame Ersatzzeiten sind. Dafür spricht insbesondere nicht der gesetzlich geforderte "Anschluß" der Krankheit/Arbeitslosigkeit an Zeiten der Vertreibung usw, der rein sprachlich allein einen zeitlichen Zusammenhang herstellt (vgl BSG SozR 2200 § 1251 Nr 21), welcher bereits zwischen tatsächlich zurückgelegten Zeiträumen - ganz unabhängig von ihrer rechtlichen Einordnung - bestehen kann. Insbesondere verwendet das Gesetz den in Rechtsprechung und Schrifttum in abkürzender Redeweise gebräuchlichen Begriff der "Anschlußersatzzeit" nicht, der - wie die Beklagte meint - auf das Erfordernis hinweisen könnte, die Zeiten der Krankheit/Arbeitslosigkeit müßten sich an einen rechtlich als Ersatzzeit anzuerkennenden Tatbestand anschließen.
Auch der Normzweck gebietet diese Eingrenzung des durch den Gesetzestext umschriebenen Anwendungsbereichs der Vorschrift nicht. Wie die anderen in § 1251 Abs 1 RVO aufgezählten Ersatzzeittatbestände soll auch dessen Nr 6 den Versicherten für Zeiten entschädigen, in denen er aufgrund der im Gesetz genannten außergewöhnlichen Umstände einen rentenversicherungsrechtlich bedeutsamen Schaden in seinem Beitragsbild erlitten hat. Dazu wird - unabhängig vom Einzelfall - unterstellt, allein der Ersatzzeittatbestand habe eine Beitragsleistung verhindert (BSG SozR RVO § 1251 Nr 44). Die infolge der "Opferlage" oder eines "Eingriffs von hoher Hand" typischerweise verhinderten Beitragsleistungen sollen "ersetzt" werden (BSG SozR 2200 § 1251 RVO Nr 102). Dementsprechend hat der Gesetzgeber in § 1251 Abs 1 Nr 1 bis 6 RVO diejenigen Lebenssachverhalte erschöpfend aufgezählt, bei deren Vorliegen er eine Verhinderung der Pflichtbeitragsentrichtung aus vom Versicherten nicht zu vertretenden außergewöhnlichen Umständen, für die die staatliche Gemeinschaft eintritt, als typischen Geschehensablauf unterstellt. Schon dieser allgemeine Plan des Gesetzes spricht für die rechtliche Gleichwertigkeit aller im Gesetz als "Aufopferungslagen" gekennzeichneten wirklichen Lebensvorgänge (vgl BSG SozR Nr 39 zu § 1251 RVO) mit der Folge, daß für jede der in § 1251 RVO unter Nr 1 bis 6 genannten Gruppen grundsätzlich die Erfüllung des im Gesetz genannten Tatbestandes genügt (vgl BSGE 43, 41 = SozR 2200 § 1251 RVO Nr 27). In diesem Rahmen zielt § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO darauf, den Versicherten aus den Vertreibungsgebieten die beitragsrechtlichen Nachteile zu ersetzen, die sie - nach dem gesetzlich unterstellten typischen Ablauf der Ereignisse - ua dadurch erlitten haben, daß sie infolge des Vertreibungsgeschehens gehindert waren, sich nach dem Krieg eine neue Existenz aufzubauen (BSGE 19, 109 = SozR Nr 5 zu § 1251 RVO) und Rentenanwartschaften begründende Versicherungszeiten zurückzulegen (BSG SozR 2200 § 1251 RVO Nr 102). Gemäß dieser Absicht der Entschädigung und Eingliederung der Vertriebenen hat der Gesetzgeber in den die Vertriebenen usw begünstigenden "Sonderopfer"-Tatbestand des § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO außer der Vertreibung usw selbst auch solche Zeiten aufgenommen, die bei engem zeitlichen Zusammenhang typischerweise Folge des konkreten Vertreibungsgeschehens sind und sich dann als Fortsetzung des "Aufopferungstatbestandes" darstellen (vgl BSG SozR Nr 48 zu § 1251 RVO). Der sachliche Grund hierfür liegt darin, daß das den einzelnen in seinem persönlichen Lebensbereich schwerwiegend betreffende Vertreibungsgeschehen vielfach mit nachhaltigen gesundheitlichen Schäden, damit also zu besonderen Schwierigkeiten beim Aufbau einer Existenzgrundlage der Vertriebenen usw nach dem Krieg geführt haben (BSGE 26, 274 = SozR Nr 28 zu § 1251 RVO; BSGE 19, 109 = SozR Nr 5 zu § 1251 RVO). Es stünde nicht im Einklang mit dieser Sicht des Gesetzgebers, die von ihm als - in einer typischen Kausalkette - fortwirkendes Vertreibungsgeschehen angesehenen Zeiten der anschließenden Krankheit oder Arbeitslosigkeit aus dem Tatbestand des § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO zu lösen und sie nur dann als entschädigungspflichtig zu qualifizieren, wenn zuvor die Zeiten der Vertreibung usw selbst als Ersatzzeit anzuerkennen sind. Erst recht bei Personen, die - wie der Kläger - im Kindesalter das Vertreibungsschicksal erlitten haben, ist ernsthaft in Rechnung zu stellen, daß nicht selten gerade die Beschwernisse der Vertreibung oder Flucht zu Krankheiten geführt haben, die der Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung, sobald sie dem Lebensalter nach möglich wurde, entgegenstanden und so eine Beitragsentrichtung verhinderten. Daß sich Krankheit oder unverschuldete Arbeitslosigkeit bei Qualifizierung als Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO an Vertreibung oder Flucht "anschließen", kennzeichnet hiernach nicht nur eine zeitliche Abfolge, sondern einen generalisierten Kausalverlauf.
Die Bedenken der Beklagten, die sie unter Hinweis auf die Gesetzessystematik vorbringt, greifen demgegenüber nicht durch. Zwar weist die Revision zutreffend darauf hin, daß Zeiten der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit und unverschuldeten Arbeitslosigkeit im Rentenversicherungsrecht nur unter besonderen Voraussetzungen beachtet und dann regelmäßig bloß als Ausfallzeiten iS des § 1259 RVO gewertet werden. In Abhängigkeit vom sog Primärersatzzeittatbestand sind sie aber in § 1251 Abs 1 RVO als - gleichwertige - Ersatzzeittatbestände gesetzlich ausgestaltet worden, weil der Gesetzgeber wegen des von ihm generalisierend angenommenen ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem primären Ersatzzeittatbestand und der Krankheit/Arbeitslosigkeit auch diese sog Anschlußersatzzeiten als zu entschädigende "Aufopferungslagen" angesehen hat. Anders als bei Krankheits- und Arbeitslosigkeitszeiten im allgemeinen beruhen die in § 1251 Abs 1 RVO geregelten "Anschluß-Ersatzzeiten" nach der gesetzlichen Wertung maßgeblich nicht auf den in der Person des Versicherten oder der Arbeitsmarktlage gegebenen Bedingungen, sondern auf den außergewöhnlichen Umständen, die mit den beiden Weltkriegen und - in der Fallgruppe der Nr 6 - mit dem Folgegeschehen der Vertreibung verbunden waren. Dieses kausale Moment (BSG SozR Nr 48 zu § 1251 RVO) rechtfertigt bei den sog Anschlußersatzzeiten die abschließende Sonderregelung des § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO. Sie läßt es nicht zu, aus § 1259 Abs 1 RVO rechtliche Schranken zu übertragen, die dort in den Nrn 1 und 3 den Grund und die Grenzen der Berücksichtigungsfähigkeit von Zeiten der Krankheit oder Arbeitslosigkeit festlegen, die im Rahmen des allgemeinen Lebensrisikos aufgetreten sind.
Dem Kläger ist es in dem Zeitraum seit dem 26. Januar 1947, dh ab Vollendung des 14. Lebensjahres, bis zum 31. Mai 1953 schließlich im bereits dargelegten Sinne rechtlich oder praktisch nicht unmöglich gewesen, wirksam Versicherungsbeiträge zu leisten. Wie der Senat bereits anderweitig im einzelnen dargelegt hat (BSGE 51, 272 = SozR 2200 § 1251 RVO Nr 83 mwN), kann ein Schaden in der Rentenversicherung, eine Lücke im Versicherungsverlauf in aller Regel erst nach Vollendung des 14. Lebensjahres auftreten. Denn zumeist erfüllten Kinder in der damaligen Zeit etwa bis zum 14. Lebensjahr ihre Schulpflicht und nahmen danach eine Beschäftigung auf. Dementsprechend stellt § 8 Abs 2 der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) die Vermutung auf, bei Versicherten der Geburtsjahrgänge 1908 und später habe die Versicherung mit der Vollendung des 14. Lebensjahres begonnen. Im Rahmen der Regelung des § 1251 Abs 1 RVO entspricht es der gesetzlichen Absicht, auf solche typischen, rentenrechtlich relevanten Lebensverläufe abzustellen. Die Sachgründe, auf denen die Rechtsprechung zur Begrenzung der Anerkennung von Ersatzzeiten im Kindesalter beruht, rechtfertigen es nicht, Zeiten nach Vollendung des 14. Lebensjahres aus dem Anwendungsbereich des § 1251 Abs 1 RVO auszuschließen. Denn von diesem Lebensalter ab war es nicht mehr eine bloß theoretische, praktisch nicht in Betracht kommende Möglichkeit, die der rechtlichen Unmöglichkeit gleichzustellen wäre, daß der Versicherte Beiträge wirksam entrichten konnte. Vielmehr traten Vierzehnjährige regelmäßig als Lehrlinge oder Arbeiter in das Erwerbsleben ein und entrichteten vielfach - insbesondere nach Eintritt in ein Arbeitsverhältnis - Pflichtbeiträge. Es entspräche nicht dem Sinn der Regelung in § 1251 Abs 1 RVO, unter normalen Verhältnissen üblicherweise zurückgelegte Beitragszeiten unberücksichtigt zu lassen (Maier, Anmerkung zum Urteil des Senats vom 13. Mai 1970, SozR Nr 44 zu § 1251 RVO in: SGb 1971, 453 f mwN).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen