Leitsatz (amtlich)
Die Berufung ist nicht nach SGG § 145 Nr 1 ausgeschlossen, wenn das SG den vom Versicherungsträger erhobenen Einwand der Fristversäumnis (RVO § 1546 aF) als rechtsmißbräuchlich erachtet und Unfallentschädigung zugesprochen hat, weil die geltend gemachten Gesundheitsstörungen die Folge eines Arbeitsunfalls seien.
Normenkette
RVO § 1546 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1924-12-15; SGG § 145 Nr. 1 Fassung: 1958-06-25
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 8. Oktober 1970 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin erlitt im Oktober 1959 einen Arbeitsunfall. Im Dezember 1963 meldete die Arbeitgeberin der Klägerin diesen Unfall der Beklagten mit dem Bemerken, eine rechtzeitige Meldung sei seinerzeit infolge eines Versehens unterblieben, die Klägerin leide jedoch in letzter Zeit unter zunehmenden Beschwerden. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 26. Juni 1964 die Gewährung von Entschädigungsleistungen mit der Begründung ab, daß die Klägerin die Fristen der §§ 1546, 1547 der Reichsversicherungsordnung (RVO) alter Fassung (aF) versäumt habe und daß im übrigen nach den eingeholten fachärztlichen Gutachten die bestehenden Veränderungen nicht ursächlich auf den Arbeitsunfall zurückzuführen seien.
Auf die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Hamburg die Beklagte verurteilt, der Klägerin unter Anerkennung einer "wesentlichen, richtunggebenden Verschlimmerung einer chronisch deformierenden Hüftgelenksveränderung" als Folge des geltend gemachten Arbeitsunfalls ab 1. Oktober 1962 eine Rente zu gewähren (Urteil vom 1. Juli 1969). Das SG hat seine Entscheidung damit begründet, daß bei einem zweifelsfrei bestehenden Anspruch eine Berufung des Versicherungsträgers auf § 1546 RVO aF nicht zulässig sei. Ein solcher Fall liege hier vor. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei hinreichend wahrscheinlich, daß der Arbeitsunfall eine chronisch deformierende Hüftgelenksveränderung verschlimmert habe.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt und unter Vorlage eines Sachverständigengutachtens in Abrede gestellt, daß die vom SG angenommenen Unfallfolgen zweifelsfrei vorlägen.
Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat die Berufung als unzulässig verworfen (Urteil vom 8. Oktober 1970). Zur Begründung hat es ausgeführt, das Rechtsmittel sei nach § 145 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen. Der angefochtene Bescheid sei eindeutig auf die Vorschriften der §§ 1546, 1547 RVO aF gestützt. Dem stehe nicht entgegen, daß die Beklagte auch die Frage des Kausalzusammenhangs zwischen dem Arbeitsunfall und der Hüftgelenkserkrankung geprüft habe; die Beklagte habe eine solche Prüfung vornehmen müssen, um von den vorgenannten Vorschriften einen fehlerfreien Gebrauch machen zu können. Es komme hier allein auf den angefochtenen Bescheid an, nicht aber darauf, welchen Standpunkt das SG zur Frage der Fristversäumnis eingenommen habe; eine andere Auffassung in diesem Punkt würde - wie das LSG meint - zu einer nicht vertretbaren Bevorzugung eines Prozeßbeteiligten führen, weil die Berufung nur dann zulässig wäre, wenn die Klage Erfolg gehabt habe. Die Berufung sei auch nicht nach § 145 Nr. 1 Halbsatz 2 SGG zulässig, weil die Klägerin die Feststellung der Beklagten, die Frist des § 1547 Abs. 1 Nr. 1 RVO aF sei versäumt, nicht angegriffen habe.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen. Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel gleichwohl eingelegt und gerügt, daß das LSG zu Unrecht die Berufung verworfen habe, anstatt ein Sachurteil zu erlassen. Das Urteil des SG enthalte auf der Rückseite des ersten Blattes zwischen dem Tenor und dem Tatbestand eine vorgedruckte Rechtsmittelbelehrung, wonach die Berufung nach § 143 SGG zulässig sei. Damit habe das SG zum Ausdruck gebracht, daß es die Berufung für zulässig halte und sie für den Fall, daß ein Berufungsausschließungsgrund vorliege, für zulässig erklären wolle. Im übrigen sei die Berufung auch nach § 150 Nr. 3 SGG - den das LSG nicht einmal erwähnt habe - statthaft. Das SG habe seine Entscheidung auf das Vorliegen eines Ursachenzusammenhangs gestützt, und gerade dagegen habe sich die Berufung gerichtet; die Beklagte habe das Fehlen eines solchen Zusammenhangs nicht nur als einen die Anwendung von § 1546 RVO aF rechtfertigenden Umstand ins Feld geführt, sondern als einen Sachverhalt, der bereits für sich allein den angefochtenen Bescheid als rechtmäßig erscheinen lasse. Im übrigen habe sich die Klägerin im ersten Rechtszug sinngemäß darauf berufen, daß sie die Drei-Monats-Frist des § 1547 RVO aF eingehalten habe, womit ein Ausnahmefall i. S. des § 145 Nr. 1 letzter Halbsatz SGG geltend gemacht worden sei.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt Zurückweisung der Revision. Die Berufung sei weder zugelassen noch nach § 150 Nr. 3 oder § 145 Nr. 1 Halbsatz 2 SGG statthaft.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG zulässig und begründet. Es stellt, wie die Beklagte mit Recht rügt, einen wesentlichen Mangel des Verfahrens dar, daß das LSG die Berufung verworfen hat, statt zur Sache zu entscheiden (vgl. BSG 1, 283 (286 f); SozR Nr. 191 zu § 162 SGG).
Soweit die Beklagte meint, die Berufung sei statthaft, weil das SG sie im Urteil zugelassen habe (§ 150 Nr. 1 SGG), kann ihr allerdings nicht gefolgt werden. In der vom SG erteilten Rechtsmittelbelehrung wird nur allgemein auf die Vorschriften hingewiesen, aus denen sich die Statthaftigkeit der Berufung ergeben kann. Ihr mag allenfalls zu entnehmen sein, daß das SG der Ansicht war, die Berufung sei auch ohne Zulassung statthaft; dadurch wird jedoch eine förmliche Zulassung der Berufung nicht ersetzt (vgl. SozR Nr. 10 zu § 150 SGG). Ob eine Rechtsmittelbelehrung, die zu den aufgetretenen Zweifeln Anlaß zu geben vermag, noch den an ihre Bestimmtheit zu stellenden Anforderungen genügt, war hier nicht zu entscheiden, da der Fall der Versäumung einer Verfahrensfrist nicht gegeben ist.
Hingegen ist - was das LSG verkannt hat - die Berufung nach § 143 SGG statthaft. Es kann dahinstehen, ob bei Annahme eines Berufungsausschlusses nach § 145 Nr. 1 SGG die Berufung nicht wenigstens deshalb zulässig wäre, weil einer der Ausnahmefälle des § 1547 RVO aF schlüssig geltend gemacht worden ist (vgl. Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, 3. Aufl., Anm. 2 e zu § 145 SGG, S. III/26 - 1/2 -). Denn selbst wenn das nicht der Fall wäre, würde dies nichts daran ändern, daß nach dem Inhalt des Urteils des SG (vgl. BSG 3, 271 (273) der geltend gemachte Anspruch nicht wegen einer Versäumung der Ausschlußfrist des § 1546 RVO aF verneint worden ist und demgemäß die Vorschrift des § 145 Nr. 1 SGG hier nicht zum Zuge kommt.
Die Ansicht des LSG, die Berufung sei ohne Rücksicht darauf, welchen Standpunkt das SG eingenommen habe, stets dann nach § 145 Nr. 1 SGG unzulässig, wenn streitig sei, ob sich der Versicherungsträger zu Recht auf die Versäumung der Anmeldefrist berufen habe, hält einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Es mag zwar richtig sein, daß im strengen Wortsinne ein Antrag nur vom Versicherungsträger, nicht aber vom SG i. S. von § 145 Nr. 1 SGG "abgelehnt" werden kann. Das Bundessozialgericht (BSG) hat freilich entschieden (vgl. Urteil vom 24. August 1966 - Az.: 2 RU 199/65 - in SozR Nr. 16 zu § 145 SGG), daß eine Ablehnung i. S. der genannten Vorschrift auch dann vorliegt, wenn das SG die Klage ausschließlich wegen Versäumung der Anmeldefrist des § 1546 RVO aF abgewiesen hat, ohne daß der Versicherungsträger sich auf diesen Ablehnungsgrund berufen hatte. Diese Frage kann indessen hier dahingestellt bleiben. Denn ein Fall des § 145 Nr. 1 SGG ist nur dann gegeben, wenn die Entscheidung des SG allein davon abgehangen hat, ob die Frist des § 1546 RVO aF versäumt worden ist oder nicht. Daß allein eine solche Auslegung dem Sinn des Gesetzes entspricht, ergibt sich bereits daraus, daß nach dem Wortlaut des § 145 Nr. 1 SGG die Berufung dann nicht ausgeschlossen ist, wenn einer der Ausnahmefälle des § 1547 RVO aF geltend gemacht wurde. Demgemäß haben auch der 2. und der 9. Senat des BSG entschieden, daß die Berufung ausgeschlossen ist, wenn das SG die Klage (ausschließlich) wegen einer Versäumung der Anmeldefrist abgewiesen hat (vgl. SozR Nr. 16 zu § 145 SGG und Nr. 24 zu § 150 SGG). Das gilt für alle Prozeßbeteiligten gleichermaßen. Auf der anderen Seite ist die Berufung für alle Prozeßbeteiligten - bei vorhandener Beschwer - dann nicht nach § 145 Nr. 1 SGG ausgeschlossen, wenn das SG die Frage der Fristversäumnis offengelassen und die Klage des Versicherten wegen Nichterweislichkeit des Arbeitsunfalls abgewiesen (SozR Nr. 11 zu § 145 SGG) oder wenn es ihr in der Annahme, § 1546 RVO komme nicht zum Zuge, weil die Anspruchsvoraussetzungen unzweifelhaft gegeben seien oder weil einer der Ausnahmefälle des § 1547 RVO geltend gemacht sei, stattgegeben hat. Im vorliegenden Fall ist zwar die Vorschrift des § 1546 RVO für das SG nicht ohne jede Bedeutung gewesen, es hat die Berufung auf diese Vorschrift aber als unzulässig angesehen und der Klage stattgegeben, weil mit Wahrscheinlichkeit Folgen eines Arbeitsunfalls vorlägen. Damit hängt die Entscheidung nicht allein davon ab, ob die Frist des § 1546 RVO aF versäumt worden ist. Von einer Verletzung des Grundsatzes der prozessualen Gleichbehandlung kann bei alledem nicht gesprochen werden. Ob die Vorschrift des § 150 Nr. 3 SGG die Berufung möglicherweise dann zulässig machen kann, wenn das SG die Klage ausschließlich wegen Fristversäumnis abgewiesen hat (SozR Nr. 16 zu § 145 SGG), bedarf hier keiner Entscheidung.
Die hier gefundene Auslegung steht auch im Einklang mit dem Grundgedanken des Gesetzes. Durch § 145 Nr. 1 SGG soll der Instanzenzug im Interesse einer Entlastung der Gerichte auf Sachen beschränkt werden, in denen über verhältnismäßig einfache Rechtsfragen - wie bei Fristversäumnis - zu entscheiden ist (SozR Nr. 10 zu § 145 SGG), während für andere Fragen ein umfassender Rechtsschutz gewährleistet sein soll, und zwar insbesondere auch dann, wenn die für schwieriger erachteten Fragen erst im Verfahren vor dem SG entschieden worden sind. Dieser Zielsetzung entspricht es, wenn bei der Beantwortung der Frage, ob die Berufung nach § 145 Nr. 1 SGG ausgeschlossen oder statthaft ist, auf den Inhalt des sozialgerichtlichen Urteils und damit auf den Kern des vor dem SG streitig gewesenen Sachverhalts abgestellt wird.
Mit der hier vertretenen Auffassung setzt sich der Senat nicht in Widerspruch zu dem Urteil des 9. Senats vom 11. April 1957 (SozR Nr. 24 zu § 150 SGG). Dort ist zum Ausdruck gebracht, daß gegen ein Urteil des SG, durch das eine Klage wegen Fristversäumnis abgewiesen worden ist, die Berufung nicht stattfindet, wenn zwar unter den Beteiligten die Zusammenhangsfrage streitig gewesen ist, es jedoch bei der Entscheidung des SG darauf nicht ankam. Im vorliegenden Fall hat hingegen das SG der Klage stattgegeben, weil es den unter den Beteiligten streitigen Kausalzusammenhang für gegeben erachtet hat; daß die Frist des § 1546 RVO verstrichen war, als der Anspruch angemeldet wurde, war im übrigen unstreitig.
Nach alledem war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen, damit dieses die bisher unterbliebene Entscheidung zur Hauptsache nachholt. Dabei wird auch über die Kosten zu befinden sein.
Fundstellen