Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallrente für berufstätigen (teilbeschäftigten) Schüler
Leitsatz (redaktionell)
Zu den Voraussetzungen einer Verletztenrente bei einem Schüler, der eine unfallgeschützte Tätigkeit ausübt. (Unterkassierer einer Industriegewerkschaft gegen eine Aufwendungsentschädigung von monatlich 32,00 DM.
Normenkette
RVO § 581 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Sprungrevision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 26. Oktober 1972 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger erlitt am 21. April 1970 - er war damals 16 Jahre alt und besuchte eine Realschule - einen Verkehrsunfall, als er als Unterkassierer einer Industriegewerkschaft (gegen eine Aufwandsentschädigung von monatlich 32,- DM) tätig war. Die Beklagte nahm einen inneren Zusammenhang dieses Unfalls mit einer nach § 539 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) versicherten Tätigkeit an. Sie erkannte den Anspruch des Klägers auf vorläufige Rente von 50 v. H. - später von 60 v. H. - der Vollrente ab 1. November 1970 an. Für die Zeit vor dem 1. November 1970 verneinte sie durch Bescheid vom 1. August 1972 sowohl einen Anspruch auf Verletztenrente als auch auf Verletztengeld.
Das Sozialgericht (SG) Darmstadt hat - entsprechend dem Klagehauptantrag - durch Urteil vom 26. Oktober 1972 dem Kläger für die Zeit vom 22. April bis 31. Oktober 1970 die Verletztenrente in Höhe der Vollrente zugesprochen. Dieser Anspruch gründe sich auf § 580 Abs. 2 RVO, weil keine Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung vorgelegen habe. Als Schüler habe der Kläger vor dem Unfall keine entgeltliche Tätigkeit ausgeübt; er habe auch sonst kein Erwerbseinkommen bezogen. Der Kläger müsse im Ergebnis wie ein nach dem Gesetz vom 18. März 1971 unfallversicherungsrechtlich geschützter Schüler (§ 539 Abs. 1 Nr. 14 RVO) gestellt werden. Daher habe er mangels Arbeitsunfähigkeit keinen Anspruch auf Verletztengeld. Nach dem Gutachten der Chirurgischen Klinik Darmstadt vom 29. März 1971 sei der Kläger bis zum 31. Oktober 1970 völlig erwerbsunfähig (Minderung der Erwerbsfähigkeit - MdE - 100 v. H.) auch im Sinne der Unfallversicherung (UV) gewesen. Der somit nach § 580 Abs. 2 RVO gegebene Anspruch auf Verletztenrente beginne mit dem Tag nach dem Arbeitsunfall.
Das SG hat die Berufung zugelassen.
Mit der - mit Einwilligung des Klägers eingelegten - Sprungrevision bemängelt die Beklagte im wesentlichen, daß das SG zu Unrecht die Voraussetzungen des § 580 Abs. 2 RVO bejaht habe. Der Kläger sei nämlich bis zum 31. Oktober 1970 - zumindestens medizinisch - arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung gewesen. Einen Anspruch auf Verletztengeld habe er jedoch mangels Erwerbseinkommens vor dem Unfall - rechtlich betrachtet: mangels Arbeitsunfähigkeit i. S. der Krankenversicherung - im Hinblick auf die Lohnersatzfunktion dieser Leistung nicht. Nach § 580 Abs. 1 RVO beginne die Verletztenrente erst mit dem Tag nach dem Wegfall der - medizinischen - Arbeitsunfähigkeit, dies sei der 1. November 1970. Das Gesetz vom 18. März 1971 könne ein anderes Ergebnis nicht rechtfertigen. Wolle man dem SG folgen, so wäre der nicht erwerbstätig gewesene Kläger als Schüler durch Gewährung der Vollrente besser gestellt als ein beruflich tätiger Versicherter, der u. U. nur ein niedrigeres Verletztengeld erhalte.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 26. Oktober 1972 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil ist im Ergebnis zutreffend.
Mit Recht weist die Beklagte allerdings darauf hin, daß das SG zu Unrecht die Voraussetzungen des § 580 Abs. 2 RVO bejaht hat. Nach dieser Vorschrift erhält der Verletzte die Rente mit dem Tage nach dem Arbeitsunfall, wenn die zu entschädigende MdE über die 13. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus andauert, Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung jedoch nicht vorgelegen hat. Der Kläger ist indessen arbeitsunfähig in diesem Sinne gewesen. Wie die Vorinstanz unangegriffen festgestellt hat, ist er wegen der Folgen des Unfalls vom 21. April 1970 bis zum 31. Oktober 1970 außerstande gewesen, seine Tätigkeit eines Unterkassierers, welche die Beklagte nach § 539 Abs. 2 RVO als unfallgeschützt angesehen hat, zu verrichten. Da eine solche Tätigkeit auch im allgemeinen Erwerbsleben vorkommt, ist es versicherungsrechtlich ohne Belang, daß der im Zeitpunkt des Unfalls schon 16-jährige, also im Erwerbsalter stehende Kläger damals eine Realschule besucht hat. Ist sonach der Kläger in dem strittigen Zeitraum arbeitsunfähig gewesen, findet § 580 Abs. 2 RVO keine Anwendung. Darauf, ob trotz Arbeitsunfähigkeit mangels eines Erwerbseinkommens vor dem Unfall, also - wie die Beklagte wohl meint - wegen des Fehlens sonstiger versicherungsrechtlicher Voraussetzungen ein Anspruch auf Verletztengeld nicht gegeben ist, stellt diese Vorschrift nicht ab.
Der Kläger hat jedoch nach der 2. Alternative des § 580 Abs. 1 RVO Anspruch auf Verletztenrente. Nach der Auffassung des SG hat seinerzeit bei ihm "eine völlige Erwerbsunfähigkeit auch im Sinne der Unfallversicherung" vorgelegen. Ob die Vorinstanz damit hat zum Ausdruck bringen wollen, der Kläger sei erwerbsunfähig (eu) im Sinne von § 1247 RVO gewesen, mag im Hinblick darauf, daß es nach der Rechtsauffassung des SG hierauf nicht ankam, zweifelhaft sein. Nach den ärztlichen Gutachten, auf die das SG sein Urteil stützt, waren die Unfallfolgen indessen so schwer, daß der Kläger in den ersten 6 Monaten nach dem Unfall und noch 10 Tage danach als eu im Sinne von § 1247 RVO anzusehen ist. Dies hat jedoch, da die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch Unfallfolgen über die 13. Woche nach dem Unfall hinaus in rentenberechtigendem Ausmaß gemindert gewesen ist, zur Folge, daß ihm vom Beginn der Erwerbsunfähigkeit (EU) an eine Verletztenrente zusteht. Auf das heute in der Sache 8/2 RU 157/71 gefällte Urteil des erkennenden Senats wird verwiesen. Da es in § 580 Abs. 1 RVO insoweit auf den Eintritt der EU und nicht auf den Bezug einer Rente wegen dieses Versicherungsfalls ankommt, ist es nicht rechtserheblich, daß der Kläger nicht rentenversichert gewesen ist, somit kein Anspruch auf eine Leistung aus der gesetzlichen Rentenversicherung haben kann (gleicher Ansicht Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl., Kenn-Zahl 480 S. 7; ferner wohl auch: Sienknecht, SozVers. 1967, 219). Ebensowenig wie § 580 Abs. 1 RVO, was die Frage der Arbeitsunfähigkeit anbelangt, auf eine Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung abstellt (s. die heute gefällten Urteile des erkennenden Senats in den Parallelstreitsachen 8/2 RU 177/69 und 8/2 RU 157/71), ist für die Anwendung dieser Vorschrift entscheidend, ob der Verletzte in der gesetzlichen Rentenversicherung versichert ist.
Das SG hat dem Kläger allerdings - entsprechend dessen Prozeßantrag und im Hinblick auf die von ihm als rechtserheblich angesehene Vorschrift des § 580 Abs. 2 RVO - die Verletztenrente erst von dem Tag nach dem Arbeitsunfall an zugesprochen. Hierbei hat es, da allein die Beklagte Revision eingelegt hat, wegen des Verbots der Schlechterstellung sein Bewenden.
Die Revision der Beklagten war deshalb als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen