Orientierungssatz
Unter "berufliche Beschäftigung" ist nur die Aufgabe einer Tätigkeit zu verstehen, die bestimmte Kenntnisse, Fähigkeiten oder Fertigkeiten verlangt, die durch Ausbildung oder Anlernung erworben worden sind. Eine Lange Beschäftigungsdauer eines ungelernten Arbeiters mit ungelernten Tätigkeiten stellt keine "berufliche Beschäftigung" iS der 7. BKVO Anl 1 Nr 46 dar.
Normenkette
BKVO 7 Anl 1 Nr. 46
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Mai 1971 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt von der beklagten Berufsgenossenschaft die Gewährung einer Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v. H., da sie an einer schweren bzw. wiederholt rückfälligen Hauterkrankung, die zur Aufgabe der beruflichen Beschäftigung geführt habe, leide (Berufskrankheit nach Nr. 46 der 6. Berufskrankheiten-Verordnung - BKVO -).
Die Klägerin ist 1925 geboren. Sie war von 1939 bis 1944 als Hausgehilfin erwerbstätig und arbeitete anschließend im elterlichen bzw. eigenen Haushalt. Im Dezember 1960 nahm sie eine Beschäftigung als Löterin bei der Firma AEG auf. Am 3. Dezember 1962 wurde sie in die Abteilung Kunstharzgießerei versetzt. Hier hatte sie insbesondere die Grundstoffe für die Epoxydharzherstellung (Araldid F, Härter 905, Beschleuniger 905 und Aluminium-oxydpulver) abzuwiegen, zu mischen und in Fernsehgleichrichterröhren abzufüllen.
Am 9. Februar 1963 erkrankte die Klägerin unter dem Verdacht einer Epoxydharzallergie. Sie war bis Mitte April 1963 arbeitsunfähig. Anschließend beschäftigte die Firma AEG sie im Lager bzw. im Zentrallager. Die Klägerin war jedoch zwischenzeitlich wegen allergischer Erscheinungen und ekzematöser Veränderungen wiederholt arbeitsunfähig. Nachdem die Klägerin am 2. Juli 1965 bei der Firma AEG ausgeschieden war, arbeitete sie noch vom 7. Juli bis 6. August 1965 als Raumpflegerin. Seit dieser Zeit ist die Klägerin keiner Erwerbsarbeit mehr nachgegangen.
Wegen der bei der Klägerin im Februar 1963 aufgetretenen Hauterkrankung erstattete Dr. Sch am 3. April 1963 eine Anzeige über eine Berufskrankheit.
Auf Veranlassung der Beklagten erstellte Prof. Dr. Carrie, Städtische Krankenanstalten Dortmund, ein Gutachten, in dem er annahm, daß bei der Klägerin wahrscheinlich eine allgemeine Empfindlichkeitssteigerung bestehe, aber kein Berufsekzem im Sinne der Nr. 46 der 6. BKVO.
Nachdem sich der Staatliche Gewerbearzt in seiner Stellungnahme vom 14. Januar 1964 diesem Gutachten angeschlossen hatte, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27. Oktober 1964 die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab, weil eine entschädigungspflichtige Berufskrankheit nicht vorliege.
Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) hat ein Gutachten von Dr. F, St. J-Hospital B, eingeholt. Dieser kam zu dem Ergebnis, bei der Klägerin liege eine schwere bzw. wiederholt rückfällige Hauterkrankung i. S. der Nr. 46 der Anlage zur BKVO vor. Die Klägerin sei deswegen unfähig, ihre bisherige Arbeit weiter zu verrichten, könne jedoch bei Meidung der in Betracht kommenden Allergene wirtschaftlich gleichwertige Tätigkeiten ausführen. Wenn eine Berufskrankheit anerkannt werden sollte, sei die MdE auf 30 v. H. zu schätzen.
Sodann hat das SG Prof. Dr. S, Universitätshautklinik K, gehört. Dieser hat die MdE ebenfalls auf 30 v. H. geschätzt und außerdem ausgeführt: durch die schwere und wiederholt rückfällige Hauterkrankung sei die Klägerin nicht zur Aufgabe jeder Erwerbsarbeit gezwungen; sie müsse nur solche Tätigkeiten meiden, in denen sie Epoxydharzen und ihren Härtern ausgesetzt sei. Das SG hat daraufhin die Klage abgewiesen.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Berufung eingelegt. Diese hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen: Bei der Klägerin liege zwar eine schwere und auch wiederholt rückfällige Hauterkrankung i. S. der Nr. 46 der 6. BKVO vor, wie sich aus den überzeugenden Ausführungen der gehörten Sachverständigen ergebe. Die Klägerin sei jedoch hierwegen nicht gezwungen, jegliche Erwerbsarbeit aufgeben zu müssen; aber sie sei auch nicht zur Aufgabe einer beruflichen Beschäftigung i. S. von Nr. 46 der Anlage zur 6./7. BKVO gezwungen gewesen. Unter "beruflicher Beschäftigung" sei nicht jede zu Erwerbszwecken nicht nur vorübergehend ausgeübte Tätigkeit zu verstehen. Das ergebe sich schon daraus, daß der Verordnungsgeber eine Alternativregelung getroffen habe, nämlich "Aufgabe der beruflichen Beschäftigung oder jeder Erwerbsarbeit". Dem hätte es nämlich kaum bedurft, wenn unter "berufliche Beschäftigung" jede "ausgeübte Erwerbsarbeit" zu verstehen wäre. Die Klägerin sei als ungelernte Arbeiterin - lediglich Abwiegen, Mischen und Abfüllen von Epoxydharzen und seiner Härter - tätig gewesen. Diese Tätigkeit habe keine besonderen Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten vermittelt, sie setze auch keine längere Anlernzeit voraus.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin die zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt, das LSG habe keine weiteren Ermittlungen darüber angestellt, ob sie in Wahrheit dem gesamten Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehe. Dies sei der Fall. Die behandelnde Ärztin Dr. J habe bei ihr "eine der schwersten allergischen Krankheitsbereitschaften" ihrer 31-jährigen Praxis (am 25. Dezember 1969 z. B. 3 Hausbesuche) festgestellt. Dem Antrag, ein weiteres Gutachten von Prof. Dr. G einzuholen, sei unter Verstoß gegen § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht entsprochen worden.
Die Klägerin beantragt,
die angefochtene Entscheidung, das Urteil des SG Dortmund vom 25. November 1968 sowie den Bescheid der Beklagten vom 27. Oktober 1964 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr vom 7. August 1965 an Entschädigung wegen einer Hauterkrankung zu gewähren bzw. die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Revision ist unbegründet.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Rente wegen einer Berufskrankheit nach § 551 der Reichsversicherungsordnung i. V. m. § 1 der 3. BKVO und Nr. 46 der Anlage zur 3. BKVO idF der 6. BKVO vom 28. April 1961 (BGBl I 505) und § 1 der 7. BKVO vom 20. Juni 1968 (BGBl I 721) i. V. m. Nr. 46 der Anlage zu dieser BKVO. Nach Nr. 46 der Anlage zur 6. BKVO, die der Nr. 46 der Anlage zur 7. BKVO entspricht, hängt die Gewährung von Verletztenrente davon ab, daß bei der Klägerin eine schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankung vorliegt, die zur Aufgabe der beruflichen Beschäftigung oder jeder Erwerbsarbeit gezwungen hat. Daß bei der Klägerin eine schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankung vorliegt, hat das LSG auf Grund der vom SG eingeholten Gutachten festgestellt. Diese Feststellungen sind von der Revision nicht angegriffen worden. Sie sind im übrigen zwischen den Beteiligten auch unstreitig. Die weitere für die Gewährung einer Verletztenrente erforderliche Voraussetzung, daß die Erkrankung zur Aufgabe der beruflichen Beschäftigung oder jeder Erwerbsarbeit gezwungen hat, ist jedoch nicht erfüllt. Unter "beruflicher Beschäftigung" ist, wie das LSG zutreffend erkannt hat, nicht jede zu Erwerbszwecken nur vorübergehend ausgeübte Tätigkeit zu verstehen. Zwar verrichtet auch eine ungelernte Arbeiterin wie die Klägerin eine berufliche Tätigkeit; aber auch nach geltendem Recht ist Voraussetzung, daß der Versicherte infolge der Hauterkrankung in seinem beruflichen Fortkommen dadurch schwer beeinträchtigt ist, daß er durch diese Erkrankung außerstande gesetzt wird, bestimmte Kenntnisse, Fähigkeiten oder Fertigkeiten künftig zu verwenden, die er in seiner bisherigen Tätigkeit erworben hat, sei es durch besondere Ausbildung, besondere Anlernung oder auch durch langdauernde fachliche Arbeit. Allein die lange Beschäftigungsdauer eines ungelernten Arbeiters genügt nicht (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-7. Aufl. 38. Nachtrag Bd. 2 S. 492 q II). Das LSG hat schon zutreffend darauf hingewiesen, daß für diese Auffassung der Wortlaut des Verordnungsgebers spricht, der in Nr. 46 die Alternativregelung "Aufgabe der beruflichen Beschäftigung oder jeder Erwerbstätigkeit" enthält. Dem hätte es kaum bedurft, wenn unter "berufliche Beschäftigung" jede "ausgeübte Erwerbstätigkeit" zu verstehen wäre; denn die Aufgabe jeder Erwerbsarbeit stellt lediglich ein Mehr gegenüber der Aufgabe einer bestimmten Erwerbstätigkeit (beruflichen Beschäftigung), aber keine Alternative dazu dar (vgl. auch BSG 31, 215, 217 f sowie Brackmann aaO S. 492 r mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Letztlich ist dieses zwischen den Beteiligten auch unstreitig.
Die Klägerin rügt nun im wesentlichen, das LSG habe die Frage, ob sie nicht infolge ihrer Erkrankung zur Aufgabe jeder Erwerbsarbeit gezwungen gewesen sei, mangelhaft aufgeklärt. Diese Rüge greift jedoch nicht durch. Es ist der Klägerin zuzugeben, daß die diesbezüglichen Ausführungen auf Seite 7 des Urteils des LSG knapp sind. Sie lassen aber eindeutig erkennen, daß das Berufungsgericht mit Rücksicht auf "alle gehörten Gutachter" diese Frage verneint hat, und dies deswegen, weil die durch die Allergie bedingte MdE von den Sachverständigen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit nicht mehr als 30 v. H. angenommen worden sei.
Darüber hinaus ist die weitere Feststellung des LSG, die Klägerin habe selbst angegeben, infolge der Hauterkrankung "nicht gezwungen gewesen zu sein, jegliche Erwerbstätigkeit aufgeben zu müssen", von der Revision nicht angegriffen. Das LSG mußte sich daher auch mit Rücksicht auf diesen Umstand nicht zu den von der Revision vermißten weiteren Ermittlungen veranlaßt sehen.
Auch ein Verstoß gegen § 109 SGG ist nicht ersichtlich. Das LSG hat diesem Antrag - wie auf S. 7 des Urteils ausgeführt wird - deshalb nicht stattgegeben, weil es auf die begehrte weitere medizinische Abklärung nicht ankomme. Dies ist verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. BSG in SozR Nr. 25 zu § 109 SGG). Nach dem im letzten mündlichen Verhandlungstermin gestellten Antrag der Klägerin sollte sich Dr. Hans G nach § 109 SGG zu folgenden Fragen äußern: Ob 1) heute noch eine Sensibilisierung gegenüber den schädlichen Stoffen bestehe oder 2) gegenüber anderen Stoffen eingetreten sei, 3) ob die aufgetretenen Dermatosen auf die beruflich erworbene Sensibilisierung zurückzuführen sind und 4), wie hoch die durch die Berufskrankheit bedingte MdE ist. Alle diese Fragen konnte das LSG von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus (vgl. SozR Nr. 25 zu § 109 SGG) für nicht rechtserheblich ansehen, da es hiernach nur darauf ankam, ob die Krankheitserscheinungen - gleich welcher Grad der MdE dadurch bedingt wird - die Klägerin zur Aufgabe jeglicher Erwerbstätigkeit gezwungen haben, nachdem die erste Alternative (Aufgabe der beruflichen Beschäftigung) mangels darin erworbener besonderer Kenntnisse, Fähigkeiten oder Fertigkeiten nicht in Betracht kam. Zu der sonach allein etwa noch zu klärenden Frage, ob die Klägerin wegen der Hauterkrankung völlig erwerbsunfähig geworden ist, sollte sich Dr. G aber nicht äußern, zumal die Klägerin nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG dies auch nicht behauptet, sondern das Gegenteil vorgetragen hatte. Die von der Revision erwähnte "Marcumor-Behandlung", die eine Untersuchung durch Dr. R vereitelt haben soll, erfolgte wegen einer Beckenvenenthrombose (vgl. Bericht des Krankenhauses Warstein vom 25.9.1970 Bl. 208 der LSG Akten), eine dadurch etwa bedingte Behinderung der Klägerin auf "dem gesamten Arbeitsmarkt" (vgl. Bl. 2 der Revisionsbegründung) könnte sonach nicht der Hauterkrankung zur Last gelegt werden. In übrigen hat das LSG aus der unterbliebenen Untersuchung keine für die Klägerin ungünstigen Schlüsse gezogen. Ob für die erhobenen Verfahrensrüge etwas anderes gelten könnte, wenn die Bescheinigung der Ärztin Dr. J vom 24. April 1971, deren angeblicher Inhalt nun von der Revision vorgetragen wird, Gegenstand der Verhandlung gewesen wäre, kann dahinstehen. Denn das LSG hat die Existenz einer solchen Bescheinigung - unangegriffen - nicht festgestellt. Sie findet sich auch nicht in den LSG-Akten noch ist sie nach dem Sitzungsprotokoll in der Verhandlung vorgelegt worden, noch war sie nach dem Protokoll oder dem Hinweis auf S. 5 des angefochtenen Urteils Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Deshalb kann auch unerörtert bleiben, ob der angebliche Bericht von Dr. J auf einer dramatischen Spätreaktion im Dezember 1969 beruhte, die nach Auffassung der Fachärztin für Hautkrankheiten Dr. R in keinen ursächlichen Zusammenhang mit den betrieblichen Einwirkungen von 1962/1963 gebracht werden kann.
Nach alledem konnte die Revision keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen