Leitsatz (amtlich)
Die Tuberkulosenfürsorgestelle eines großstädtischen Sozialamts ist eine Einrichtung der öffentlichen Wohlfahrtspflege iS der 3. BKVO Anl Nr 26 Fassung: 1943-01-29 (4. BKVO § 2).
Normenkette
BKVO 3 Anl 1 Nr. 26 Fassung: 1943-01-29; BKVO 4 § 2 Fassung: 1943-01-29
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 10. Dezember 1959 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger war vom 1. August 1947 bis zum 30. Juni 1949 in der Fürsorgeabteilung des Sozialamts der Stadt H... beschäftigt. Während dieser Zeit war er drei Monate lang vertretungsweise in der Registratur der Stelle für Tuberkulosehilfe (Tuberkulosefürsorgestelle) tätig, und zwar während der Monate Mai und Juni 1949 sowie in den vorangegangenen Monaten mit Unterbrechungen weitere vier Wochen lang. Bei dieser Tätigkeit gehörte es zu seinen Aufgaben, den Sachbearbeitern die Akten über die jeweiligen Besucher vorzulegen. In Vertretung des Registraturleiters hatte er vereinzelt auch Besucher - meist Tuberkulosekranke - zu empfangen und den zuständigen Sachbearbeitern vorzuführen. Der Umgang mit solchen Personen beschränkte sich immer nur auf eine kurze Zeitspanne. Röntgen-Reihenuntersuchungen in den Jahren 1951 und 1953 ergaben bei dem Kläger tuberkulöse Befunde in der Lunge. Die Erkrankung ist die Folge einer Infektion, die der Kläger sich in der ersten Hälfte des Jahres 1949 zugezogen hat. Seit einer stationären Behandlung in der Heilstätte D. ist die Tuberkulose geschlossen.
Durch Bescheid vom 27. April 1955 lehnte der Beklagte den Entschädigungsanspruch des Klägers ab, weil er Kranke nur verwaltungsmäßig, nicht aber an ihrer Person oder in ihrer Wohnung betreut habe und deshalb nicht zu dem durch Nr. 26 der Anlage zur 4. Berufskrankheitenverordnung (BKVO) geschützten Personenkreis gehöre.
Auf die Klage hin hat das Sozialgericht (SG) Hannover durch Urteil vom 19. November 1956 den Bescheid des Beklagten aufgehoben und diesen verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Mai 1951 bis zum 31. Oktober 1953 eine Rente in Höhe von 20 v.H., vom 1. November 1953 bis zum 31. Juli 1954 eine Rente in Höhe von 70 v.H. und vom 1. August 1954 an eine Dauerrente in Höhe von 40 v.H. der Vollrente zu gewähren.
Die Berufung des Beklagten ist insofern ohne Erfolg geblieben, als auch das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen die Entschädigungspflicht des Beklagten dem Grunde nach bejaht hat. Es hat hierzu in seinem Urteil vom 10. Dezember 1959 im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe sich die Infektion durch seinen beruflichen Umgang mit Tuberkulosekranken in der Tuberkulosefürsorgestelle des Sozialamts der Stadt Hannover zugezogen. Diese Stelle sei eine Einrichtung der öffentlichen Wohlfahrtspflege im Sinne der Nr. 26 der Anlage zur 4. BKVO. Ob dies für alle Dienststellen des Amtes gelte, könne dahingestellt bleiben. Jedenfalls treffe es auf die Tuberkulosefürsorgestelle zu. Alleiniger Zweck dieser Sonderabteilung sei die Betreuung tuberkulosekranker Personen, also solcher Menschen, die stets gesundheitlich und überwiegend auch wirtschaftlich gefährdet seien. Die Durchführung der Aufgaben durch das Personal dieser Abteilung erfolge überwiegend im direkten Publikumsverkehr, also unmittelbar. Der Kläger sei während dreier Monate der ersten Hälfte des Jahres 1949 ausschließlich mit der Ausführung solcher Betreuungsaufgaben beschäftigt gewesen. Demnach erfüllten sowohl das Amt als Einrichtung als auch die Tätigkeit des Klägers in diesem Amt die gesetzlichen Voraussetzungen der Nr. 26 der Anlage zur 4. BKVO. - Hinsichtlich der Höhe der dem Kläger zu gewährenden Entschädigung hat das LSG den Rechtsstreit noch nicht als entscheidungsreif angesehen. Es hat deshalb unter Zurückweisung der Berufung im übrigen das erstinstanzliche Urteil insoweit aufgehoben, als über die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) entschieden worden ist.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist dem Beklagten am 11. Januar 1960 zugestellt worden. Er hat hiergegen am 6. Februar 1960 Revision eingelegt und diese am 3. März 1960 begründet. Die Revision führt aus: Das LSG habe insofern das Gesetz verletzt, als es den Kläger zu Unrecht dem geschützten Personenkreis der Nr. 26 der Anlage zur 4. BKVO zugerechnet habe. Verwaltungsstellen wie das Sozialamt seien in ständiger Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA) und auch der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht als Einrichtungen der Wohlfahrtspflege angesehen worden. Außerdem müsse die Hilfe unmittelbar geleistet werden; dies treffe auf eine büromäßige Tätigkeit, wie sie der Kläger ausgeübt habe, nicht zu. Der Kläger sei nicht Sachbearbeiter gewesen, sondern Registrator und Fahrstuhlführer. Seine Tätigkeit unterscheide sich also in nichts von derjenigen eines Angestellten einer - nicht zu den geschützten Einrichtungen zu zählenden - Landesversicherungsanstalt, einer Krankenkasse oder eines Arbeitsamts. Eine unmittelbare Betreuung werde beispielsweise von einer Fürsorgerin, einem Arzt, einer Krankenschwester oder einer Pflegerin ausgeübt. Selbst wenn man Nr. 26 der 4. BKVO grundsätzlich auf eine Tuberkulosefürsorgestelle anwenden wolle, so müsse doch das Büropersonal einer solchen Stelle von dem Versicherungsschutz ausgenommen werden. Zwar habe das Bundessozialgericht (BSG) das gesamte Personal eines Krankenhauses zu dem versicherungsrechtlich geschützten Personenkreis gerechnet (BSG 6, 186); dies könne jedoch angesichts der entgegenstehenden ständigen Rechtsprechung des RVA nicht für alle Behörden der Wohlfahrtspflege und des Gesundheitsdienstes gelten.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er tritt den Ausführungen des angefochtenen Urteils bei.
II
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-), auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, also zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.
Das LSG hat als erwiesen angesehen, daß der Kläger sich die bei ihm bestehende Lungentuberkulose durch seine berufliche Beschäftigung in der Tuberkulosefürsorgestelle des Sozialamts Hannover zugezogen hat. Diese tatsächliche Feststellung hat die Revision nicht angegriffen; das BSG ist daher an sie gebunden (§ 163 SGG). Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt also allein von der Rechtsfrage ab, ob der Kläger zu dem geschützten Personenkreis der Nr. 26 der Anlage zur 4. BKVO gehört. Diese Frage hat der erkennende Senat in Übereinstimmung mit dem LSG bejaht.
Das LSG hat die Tuberkulosefürsorgestelle des Sozialamts Hannover mit Recht als eine "Einrichtung der öffentlichen Wohlfahrtspflege" angesehen. Unter Wohlfahrtspflege ist, wie der Senat in BSG 6, 74 ausgeführt hat, die planmäßige, zum Wohle der Allgemeinheit und nicht des Erwerbs wegen ausgeübte vorbeugende oder abhelfende unmittelbare Betreuung von gesundheitlich, sittlich oder wirtschaftlich gefährdeten Menschen zu verstehen; eine Einrichtung ist eine solche der Wohlfahrtspflege, wenn sie den angeführten Zwecken hauptsächlich dient. Die Tuberkulosefürsorgestelle eines großstädtischen Sozialamts erfüllt diese Voraussetzungen. Sie dient hauptsächlich der vorbeugenden und abhelfenden Betreuung von Menschen, die auf einem bestimmten Gebiet gesundheitlich gefährdet sind. Diese Betreuung trägt auch das Merkmal der Unmittelbarkeit. Dazu bedarf es weder - wie das RVA in einer Entscheidung vom 20. Juli 1934 (EuM 36, 145) gefordert hat (vgl. demgegenüber aber RVA vom 14. November 1935, Breith. 1936, 123) - der Betreuung in der Wohnung des Bedürftigen noch der Betreuung "an seiner Person" (im Sinne von "an seinem Körper"); im letzteren Falle wird in der Regel eine Tätigkeit im Gesundheitsdienst vorliegen. Nach der Auffassung des Senats genügt es zur unmittelbaren Betreuung, daß eine persönliche Anhörung und Beratung des zu Betreuenden in der "Einrichtung" oder an einem anderen Ort stattfindet oder daß jener im Wege der persönlichen Kontaktaufnahme einer gesundheitsfördernden Behandlung oder einer sonstigen, durch seine Hilfsbedürftigkeit erforderlich gewordenen Betreuung zugeführt wird. Alles dies geschieht bei einer öffentlich eingerichteten Tuberkulosefürsorgestelle, wie sie die Dienststelle des Klägers darstellt. Sie ist deshalb eine Einrichtung der öffentlichen Wohlfahrtspflege im Sinne der Nr. 26 der Anlage zur 4. BKVO. Ihr sind die von der Revision angeführten Behörden, wie Landesversicherungsanstalten, Krankenkassen oder Arbeitsämter nicht gleichzuerachten, weil diese den oben genannten Zwecken nicht hauptsächlich dienen, sondern in erster Linie andere Aufgaben zu erfüllen haben.
Von dem für die Tuberkulosefürsorgestelle des Sozialamts bestehenden Versicherungsschutz ist der Kläger nicht - wie die Revision meint - deshalb ausgenommen, weil er zum "Büropersonal" gehört. Hinsichtlich des Personals eines Krankenhauses hat der Senat am 11. Dezember 1957 entschieden, daß der Schutz der BKVO sich nicht auf die im unmittelbaren Gesundheitsdienst Tätigen beschränke, vielmehr das gesamte Krankenhauspersonal erfasse (BSG 6, 186). Welche Folgerungen sich aus diesem Grundsatz für die in einer Einrichtung der Wohlfahrtspflege oder zumindest in einer Tuberkulosefürsorgestelle eines großstädtischen Sozialamts Beschäftigten ergeben, konnte der Senat unentschieden lassen. Nach seiner Auffassung ist das Personal einer Tuberkulosefürsorgestelle jedenfalls insoweit geschützt, als es in Erfüllung seiner dienstlichen Obliegenheiten mit den von der Fürsorgestelle betreuten Tuberkulosekranken unmittelbar in Berührung zu kommen pflegt. Dies war nach den vom LSG getroffenen Feststellungen bei dem Kläger der Fall; denn er hatte unmittelbaren Umgang mit Tuberkulosekranken, indem er sie empfing und den zuständigen Sachbearbeitern zuführte. Hiernach konnte es dahinstehen, ob der Kläger auch deshalb zu dem geschützten Personenkreis der Nr. 26 der Anlage zur 4. BKVO gehörte, weil er eine "Tätigkeit" in der öffentlichen Wohlfahrtspflege ausgeübt hat.
Somit hat das LSG den Entschädigungsanspruch des Klägers mit Recht dem Grunde nach bejaht. Die Revision des Beklagten war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten ergeht in Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen