Entscheidungsstichwort (Thema)

Versicherungsschutz bei der Tätigkeit im Wohlfahrts- (Fürsorge-, Sozial-)amt

 

Leitsatz (amtlich)

Das Wohlfahrtsamt (Fürsorgeamt, Sozialamt) einer Gemeindeverwaltung ist eine Einrichtung der öffentlichen Wohlfahrtspflege iS der 3. BKVO Anl Nr 39 Fassung: 1952-07-26 (5. BKVO § 1).

 

Leitsatz (redaktionell)

Eine Tuberkuloseerkrankung, die sich ein Angestellter des Sozialamtes bei seiner beruflichen Tätigkeit zuzieht, ist eine Berufskrankheit. Von dem Versicherungsschutz ist hierbei ein Angestellter nicht deswegen generell ausgenommen, weil er nur Verwaltungsarbeit geleistet hat und dabei nicht mit unmittelbaren Hilfeleistungen an den gefährdeten Personen befaßt war.

 

Normenkette

BKVO 5 § 1; BKVO 3 Anl 1 Nr. 39 Fassung: 1952-07-26

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 25. Juli 1958 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger war vom 1. September 1951 bis zum 11. März 1955 im Wohlfahrtsamt der Stadt Bad Kreuznach beschäftigt. Während dieser Zeit war er als Sachbearbeiter in der offenen Fürsorge tätig. Zu seinen Aufgaben gehörte auch die Vertretung des Sachbearbeiters der Tuberkulose (Tbc)-Fürsorgestelle. Im Frühjahr 1955 wurde bei ihm nach einer Grippeerkrankung eine frische Lungentuberkulose (L-Tbc) erkannt. Der Kläger begehrt die Anerkennung dieser Erkrankung als Berufskrankheit (BK); er behauptet, daß er sich die Tbc-Infektion durch seine berufliche Tätigkeit als Angestellter des Wohlfahrtsamts zugezogen habe.

Durch Bescheid vom 24. November 1955 lehnte der Beklagte den Entschädigungsanspruch des Klägers ab, weil dieser als Angestellter des Wohlfahrtsamtes in Bad Kreuznach nicht einer besonderen Gefahr der Tbc-Infektion ausgesetzt gewesen sei.

Mit der hiergegen erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, er sei bei seiner Fürsorgearbeit täglich mit 30 bis 40 Tbc-Kranken in Berührung gekommen und habe zur Feststellung der Hilfsbedürftigkeit auch Hausbesuche gemacht; außerdem habe er sich um die Sicherung des Nachlasses verstorbener Tbc-Kranker kümmern müssen.

Der Beklagte stützt die Ablehnung des Entschädigungsanspruchs nunmehr zusätzlich darauf, daß der Kläger als Verwaltungsangestellter nicht zum Kreis der nach Nr. 39 der Anlage zur 5. Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) versicherten Personen gehört habe.

Zur Frage, ob die Tbc-Erkrankung des Klägers eine BK ist, haben die Beteiligten im Klageverfahren ärztliche Gutachten beigebracht. Das Sozialgericht (SG) Koblenz hat hierzu den Sitzungsarzt Dr. L als Sachverständigen gehört. Durch Urteil vom 26. September 1957 hat das SG die Klage abgewiesen. Es ist zwar davon ausgegangen, daß das Wohlfahrtsamt einer Stadtverwaltung zu den Einrichtungen der Wohlfahrtspflege gehöre, hält aber den Kläger nicht für geschützt nach Nr. 39 aaO, weil er reine Verwaltungsarbeit geleistet und daher keine unmittelbare Hilfeleistung an einer Person ausgeübt habe.

Im Berufungsverfahren hat sich der Kläger auf ein Auskunftsschreiben der Stadtverwaltung Bad Kreuznach vom 14. Mai 1958 bezogen. In diesem zur Vorlage beim Landessozialgericht (LSG) ausdrücklich bestimmten Schreiben wird bestätigt, daß zum Aufgabenkreis des Klägers als Sachbearbeiter in der offenen Fürsorge die wirtschaftliche Betreuung hilfsbedürftiger Personen aus der Stadt Bad Kreuznach gehört habe, unter denen Personen gewesen seien, die an offener Tbc erkrankt und wegen ihres uneinsichtigen Verhaltens nach den Vorschriften der Arbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung der Tbc im Lande Rheinland-Pfalz von den Leistungen der Tbc-Fürsorge ausgeschlossen waren; außerdem sei es nicht ausgeschlossen, daß der Kläger bei vorübergehender Abwesenheit des Sachbearbeiters der Tbc-Fürsorge mit Offentuberkulösen in Berührung kam; während des Urlaubs oder einer Erkrankung des Tbc-Sachbearbeiters habe dem Kläger als dessen Vertreter auch die Betreuung der an Tbc erkrankten Hilfsbedürftigen obgelegen. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen. Es hat hierzu in seinem Urteil vom 25. Juli 1958 im wesentlichen ausgeführt: Die Tätigkeit des Klägers als Verwaltungsangestellter beim Wohlfahrtsamt falle nicht unter die nach Nr. 39 der Anlage zur 5. BKVO geschützten Tätigkeiten, da sie keine Wohlfahrtspflege darstelle. Darunter sei nur die planmäßige, zum Wohle der Allgemeinheit und nicht des Erwerbs wegen ausgeübte vorbeugende oder abhelfende unmittelbare Hilfeleistung für gesundheitlich, sittlich oder wirtschaftlich gefährdete Menschen zu verstehen. Die rein büromäßige Tätigkeit erfülle diese Merkmale nicht. Die bloße Verwaltungsarbeit in der Fürsorge, wie sie der Kläger ausgeübt habe, reiche nicht für die Anerkennung einer BK nach Nr. 39 der Anlage zur 5. BKVO aus. Dies habe in Übereinstimmung mit dem Reichsversicherungsamt (RVA) in EuM 36, 145 auch das Bundessozialgericht (BSG) in BSG 6, 74 ff ausgesprochen. Daß der Kläger bei seiner beruflichen Tätigkeit auch gelegentlich tuberkulosekranke Personen in deren Wohnung habe aufsuchen müssen, sei unerheblich; auch hierbei habe es sich um Verwaltungstätigkeit gehandelt, nicht aber um unmittelbare Hilfeleistung. Nichts anderes ergäbe die Auskunft der Stadtverwaltung Bad Kreuznach vom 14. Mai 1958. Eine ausdehnende Auslegung des Begriffs Wohlfahrtspflege sei auch auf Grund der 5. BKVO nicht geboten. Da der Kläger nicht zu dem Kreis der versicherten Personen gehört habe, die nach Nr. 39 aaO geschützt sind, sei es für die Entscheidung unerheblich, ob die Lungenerkrankung des Klägers auf einer beruflich bedingten Infektion beruht.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Das Urteil ist dem Kläger am 14. November 1958 zugestellt worden. Er hat am 26. November 1958 Revision eingelegt und sie am 28. November 1958 begründet. Die Revision führt aus: Das LSG habe insofern das Gesetz verletzt, als es den Kläger zu Unrecht nicht dem geschützten Personenkreis der Nr. 39 der Anlage zur 5. BKVO zugerechnet habe. Es sei verkannt worden, daß der Kläger als Angestellter des Wohlfahrtsamtes kraft dienstlichen Auftrags mit tuberkulosekrankem Publikum unmittelbar in Berührung gekommen sei. Das ergebe sich aus dem Inhalt der Bescheinigung der Stadtverwaltung Bad Kreuznach vom 14. Mai 1958. Die darin bestätigten Tatsachen hätte das LSG nicht als rechtsunerheblich bezeichnen dürfen, mindestens nicht insoweit, als der Kläger den Tbc-Sachbearbeiter vertreten habe. Nach dem Aufgabenbereich, der aus der Bescheinigung ersichtlich sei, müsse das Merkmal der Unmittelbarkeit der Hilfeleistung im Sinne der Nr. 39 aaO für die berufliche Tätigkeit des Klägers bejaht werden.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und des Bescheides des Beklagten vom 24. November 1955 den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger Entschädigungsleistungen nach Maßgabe eines noch zu erteilenden Bescheides zu gewähren,

hilfsweise,

die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Er führt aus: Das LSG habe die Bescheinigung der Stadtverwaltung vom 14. Mai 1958 richtig gewertet. Aus ihr gehe hervor, daß der Kläger die hilfsbedürftigen Personen zwar wirtschaftlich betreut habe; eine unmittelbare Betreuung von gesundheitlich gefährdeten Personen sei darin jedoch nicht bestätigt worden, auch nicht durch den Hinweis auf die Pflicht des Klägers, den Tbc-Sachbearbeiter gelegentlich zu vertreten.

II

Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, also zulässig. Das Rechtsmittel hatte auch Erfolg.

Die Auffassung des LSG, die L-Tbc des Klägers, an der er seit dem Frühjahr 1955 leidet, sei keine BK im Sinne der Nr. 39 der Anlage zur 5. BKVO, weil der Kläger nicht zu dem geschützten Personenkreis der Spalte III dieser Vorschrift gehöre, ist nicht frei von Rechtsirrtum. Nach Nr. 39 aaO sind Infektionskrankheiten Berufskrankheiten im Sinne der Unfallversicherung, wenn sie durch die berufliche Beschäftigung in einem der Spalte III der Anlage aufgeführten Tätigkeitsbereiche (Einrichtungen und Tätigkeiten) verursacht worden sind. Als solche Bereiche, die den nach der BKVO geschützten Personenkreis abgrenzen, kommen im vorliegenden Streitfalle "Einrichtungen und Tätigkeiten in der öffentlichen Wohlfahrtspflege" in Betracht. Die Merkmale "Einrichtungen" und "Tätigkeiten" sind wahlweise aufgeführt (vgl. BSG 6, 74). Da sich der Kläger die Tbc-Erkrankung als Angestellter des Wohlfahrtsamtes der Stadt Bad Kreuznach bei seiner beruflichen Tätigkeit zugezogen haben will und nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht von vornherein ausgeschlossen ist, daß der zur Begründung des Entschädigungsanspruchs erforderliche ursächliche Zusammenhang zwischen der dienstlichen Tätigkeit des Klägers und seiner Erkrankung besteht, hatte der erkennende Senat zunächst zu prüfen, ob die Dienststelle des Klägers als eine Einrichtung der Wohlfahrtspflege anzusehen ist. Diese Frage, zu der das angefochtene Urteil nicht Stellung genommen hat, ist in Übereinstimmung mit dem SG zu bejahen. Unter Wohlfahrtspflege ist, wie das BSG wiederholt entschieden hat (BSG 6, 74; 15, 113 u. 116), die planmäßige, zum Wohle der Allgemeinheit und nicht des Erwerbs wegen ausgeübte vorbeugende oder abhelfende unmittelbare Betreuung von gesundheitlich, sittlich oder wirtschaftlich gefährdeten Menschen zu verstehen; eine Einrichtung ist eine solche der Wohlfahrtspflege, wenn sie den angeführten Zwecken hauptsächlich dient. Bei dem Wohlfahrts- (Fürsorge-, Sozial-)amt einer Stadtgemeinde sind diese Voraussetzungen gegeben. Einer solchen Dienststelle sind Aufgaben gestellt, die hauptsächlich auf die vorbeugende und abhelfende Betreuung von wirtschaftlich, gesundheitlich und sittlich gefährdeten Menschen gerichtet sind. Ihre Erfüllung erfordert Maßnahmen der öffentlichen Fürsorge, die der individuellen gezielten Hilfe von Staat und Gesellschaft zur Beseitigung oder Verhütung derartiger Notstände bei den bedürftigen Personen dienen. Dieses Ziel der öffentlichen Fürsorge (Sozialhilfe) kann naturgemäß in der Regel nur durch unmittelbare Betreuung der Hilfsbedürftigen erreicht werden. Hierzu genügt es, daß, wie in BSG 15, 117 bereits ausgeführt ist, eine persönliche Anhörung und Beratung des zu Betreuenden in der "Einrichtung" selbst oder an einem anderen Ort stattfindet oder daß jener im Wege der persönlichen Kontaktaufnahme einer durch seine Hilfsbedürftigkeit erforderlich gewordenen Betreuung zugeführt wird (vgl. Peters, Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, 1957, 2. Bd., Kommunale Verwaltung, S. 286, 287). Betreuungsmaßnahmen der angeführten Art kennzeichnen jedenfalls naturgemäß das Aufgabengebiet eines städtischen Wohlfahrts- (Fürsorge-, Sozial-)amts , als das sich die Dienststelle des Klägers darstellt. Es ist deshalb eine Einrichtung der öffentlichen Wohlfahrtspflege im Sinne der Nr. 39 der Anlage zur 5. BKVO.

Von dem für das Wohlfahrtsamt bestehenden Versicherungsschutz ist der Kläger entgegen der Auffassung des LSG nicht deshalb ausgenommen, weil er in der offenen Fürsorge nur Verwaltungsarbeit geleistet habe und dabei nicht mit unmittelbaren Hilfeleistungen an den gefährdeten Personen befaßt gewesen sei. Der gegenteiligen Auffassung, welche das RVA in EuM 36, 145 vertreten hat und auf die sich das LSG stützt, ist der erkennende Senat nicht gefolgt. Wie das BSG in der Entscheidung vom 26. September 1961 (BSG 15, 116) bereits ausgesprochen hat, ist für eine unmittelbare Betreuung der Hilfsbedürftigen nicht zu fordern, daß die Betreuungsmaßnahmen an - in des Wortes engster Bedeutung - ihnen durchgeführt werden. Der vorliegende Streitfall bietet keine Veranlassung, von diesem Rechtsstandpunkt abzuweichen. Zu Unrecht glaubt das LSG, seine Auffassung sei ebenso wie in der angeführten Entscheidung des RVA auch vom BSG in dem Urteil vom 25. Oktober 1957 (BSG 6, 74) vertreten worden. Dort ging es um die Frage, ob ein Kreiswohnungsamt zu den Einrichtungen in der öffentlichen Wohlfahrtspflege gehört; dagegen war nicht Gegenstand der Entscheidung die Frage der Abgrenzung "reiner Verwaltungstätigkeit" von der "unmittelbaren" Betreuungstätigkeit.

Unter Zugrundelegung dieser Rechtsauffassung reichen nach Ansicht des erkennenden Senats die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils aus, um die Tätigkeit des Klägers, die er als Sachbearbeiter im Wohlfahrtsamt ausgeübt hat, als nach Nr. 39 aaO versichert anzusehen. Die Ausführungen des angefochtenen Urteils, in denen eindeutig zum Ausdruck kommt, daß der Kläger hilfsbedürftige Personen, für die das Wohlfahrtsamt zuständig war, je nach der Art der Hilfsmaßnahmen an Amtsstelle oder auch in ihrer Wohnung betreut hat, lassen erkennen, daß das LSG der Urteilsfindung den gesamten Inhalt des als "Bestätigung" bezeichneten Schreibens der Stadtverwaltung Bad Kreuznach vom 14. Mai 1958 zugrunde gelegt hat. Aus dieser Urkunde, die dem Kläger von der Stadtverwaltung zum Zwecke der Vorlage im Berufungsverfahren ausgehändigt worden war, ergibt sich, daß ihm als Sachbearbeiter des Wohlfahrtsamtes die wirtschaftliche Betreuung der hilfsbedürftigen Personen oblag, daß sich unter diesen auch Kranke befanden, die an offener L-Tbc litten, und daß er den Sachbearbeiter der Tbc-Fürsorgestelle abwesenheitshalber vertreten hat. Bei dieser Tätigkeit, die ihrer Art nach nicht isoliert vom persönlichen Umgang mit den zu betreuenden Menschen ausgeübt werden kann, kam der Kläger in Erfüllung seiner dienstlichen Obliegenheiten unmittelbar mit diesen Menschen in Berührung. Er hat somit im Rahmen seiner Dienstgeschäfte wohlfahrtspflegerische Tätigkeiten im Sinne der Nr. 39 aaO ausgeübt. Hiernach konnte es unerörtert bleiben, ob der Kläger auch deshalb zu dem geschützten Personenkreis gehörte, weil er eine "Tätigkeit" im Sinne dieser Vorschrift in der öffentlichen Wohlfahrtspflege ausgeübt hat.

Der Entschädigungsanspruch des Klägers hängt sonach nur noch davon ab, ob sich der Kläger die L-Tbc, an der er im Frühjahr 1955 erkrankte, bei der Ausübung seines Berufs als Sachbearbeiter im Wohlfahrtsamt Bad Kreuznach zugezogen hat. Hierüber enthält das angefochtene Urteil keine tatsächlichen Feststellungen. Sie müssen zunächst vom LSG nachgeholt werden. Das BSG konnte daher in der Sache nicht abschließend entscheiden. Deshalb mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 133

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