Leitsatz (redaktionell)
Ein Beweisnotstand, in dem sich eine die Witwenrente aus der Unfallversicherung begehrende Klägerin befindet, weil ohne ihr oder des Versicherungsträgers Verschulden früher möglicherweise vorhandene Unterlagen nicht mehr erreichbar und nachträgliche Ermittlungen erschwert sind, führt nicht zu einer Umkehrung der objektiven Beweislast. - Zur Frage der Beweisanforderungen bei Beweisnotstand.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30; SGG § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 23. Februar 1966 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Da das Landessozialgericht (LSG) die Revision nicht zugelassen hat, wäre sie nach § 162 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nur statthaft, wenn ein vom Kläger gerügter Mangel des Verfahrens des LSG vorläge oder wenn das LSG bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs des Todes mit einem Arbeitsunfall das Gesetz verletzt hätte. Keine dieser Voraussetzungen ist hier gegeben.
Mit der Revision macht die Beklagte zunächst geltend, ihre schwierige Beweissituation sei nicht hinreichend berücksichtigt worden. Daß es heute nicht mehr möglich sei, die Vorgänge, die vom Arbeitsunfall ihres Ehemannes am 4. Mai 1944 zu seinem Tode am 1. Februar 1947 geführt hätten, näher aufzuklären, dürfe nicht zu ihren Lasten gehen. Sie hätte nicht damit zu rechnen brauchen, die Voraussetzungen für die Unfallwitwenrente noch einmal nachweisen zu müssen, nachdem ihr damals bereits eine solche Rente von der Sozialversicherungsanstalt für das Land Sachsen-Anhalt zuerkannt worden war. Bei dieser Bewilligung handele es sich nicht um eine politische Entscheidung und man müsse auch davon ausgehen, daß der Anspruch damals sorgfältig geprüft worden sei. Ein solcher Rentenbescheid könne nicht ohne Bindungswirkung sein, er begründe zumindest den Beweis des ersten Anscheins.
Das LSG ist indessen mit Recht davon ausgegangen, daß die Frage, ob der Klägerin ein Hinterbliebenenanspruch aus der gesetzlichen Unfallversicherung gegen die beklagte Berufsgenossenschaft zusteht, selbständig neu zu prüfen war. Es besteht auch inhaltlich keine Bindung an die durch den mitteldeutschen Versicherungsträger getroffene Feststellung, daß der Tod des Ehemannes auf dessen Betriebsunfall in einem mitteldeutschen Bergbaubetrieb zurückzuführen sei. Denn dieser Bescheid richtet sich nicht gegen die Beklagte, sondern gegen den zuständigen Versicherungsträger der sowjetisch besetzten Zone. Ebensowenig begründet der Rentenbescheid der o.a. Sozialversicherungsanstalt, wie die Klägerin meint einen Beweis des ersten Anscheins für den streitigen Kausalzusammenhang. Die Voraussetzungen für die Anwendung dieses Grundsatzes liegen nicht vor (vgl. dazu Baumbach-Lauterbach, ZPO, 26. Aufl., Anm. 3 B Anhang zu § 282).
Auch der Beweisnotstand, in dem sich die Klägerin befindet, weil - ohne ihr oder der Beklagten Verschulden - früher möglicherweise vorhandene weitere Unterlagen nicht mehr erreichbar und nachträgliche Ermittlungen durch den zeitlichen Abstand und die Teilung Deutschlands erschwert oder unmöglich sind, kann nicht etwa zu einer Umkehrung der auch für das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden objektiven Beweislast führen. Es bleibt vielmehr dabei, daß die Klägerin, die ihren Rentenanspruch aus dem Zusammenhang zwischen dem Betriebsunfall und dem Tod ihres Ehemannes herleitet, die Beweislast dafür trägt, daß ein solcher Kausalzusammenhang festgestellt werden kann.
Das bedeutet allerdings nicht, daß bei der hierzu erforderlichen Prüfung das frühere Anerkenntnis eines Versicherungsträgers und die jetzigen Beweisschwierigkeiten völlig unberücksichtigt bleiben müßten. Vielmehr gestattet es der Umstand, daß nach der damaligen Sachlage offenbar ein Kausalzusammenhang angenommen worden ist, Lücken in der Beweiskette, die mutmaßlich auf den unverschuldeten Beweisnotstand der Klägerin zurückzuführen sind, zu ihren Gunsten zu überbrücken; d.h., daß man sich praktisch im Rahmen der Gesamtbeweiswürdigung mit einem geringeren Grad von Wahrscheinlichkeit zu begnügen hat, als normalerweise für die Feststellung eines solchen Zusammenhangs zu fordern ist. Dies gilt umso mehr, je sorgfältiger die frühere Feststellung getroffen worden ist. Nach Auskunft des zuständigen mitteldeutschen Versicherungsträgers wurde der Anspruch damals auf Grund eines Schreibens der ehemaligen Sozialversicherungskasse Bergbau in Halle (Saale) vom 5. Mai 1947 anerkannt. Dieses Schreiben enthält sachlich aber nur den Hinweis, daß nach der Unfallanzeige zweifellos ein Betriebsunfall vorliege. Wenn hierdurch auch noch nicht ausgeschlossen wird, daß darüber hinaus irgendwelche inzwischen in Verlust geratene Unterlagen über die Todesursache vorgelegen haben, so spricht doch alles dagegen, daß bei der allgemeinen Situation des Jahres 1947 in einer neu errichteten Sozialversicherungsanstalt wegen einer ohnehin kärglichen und nur "für die Dauer der Bedürftigkeit" gewährten Witwenrente auf die Prüfung der in dieser Sache sicherlich schwierigen Kausalitätsfrage das Maß von Sorgfalt verwandt werden konnte, wie es zu normalen Zeiten bei einem Träger der Unfallversicherung üblich ist. Der Indizienwert der damaligen Feststellung darf hier also nicht zu hoch veranschlagt werden.
Es kommt im vorliegenden Fall entscheidend darauf an, ob die Lungentuberkulose, an der der Ehemann der Klägerin am 1. Februar 1947 gestorben ist, mit seinem Arbeitsunfall vom 4. Mai 1944 in einem ursächlichen Zusammenhang steht. Wenn das LSG die Klage mit der Begründung abgewiesen hat, ein solcher Zusammenhang sei wenig wahrscheinlich oder sogar - wie es am Anfang der Entscheidungsgründe heißt - unwahrscheinlich, so ist das nach dem oben Gesagten nicht zu beanstanden; die bloße Möglichkeit eines Zusammenhangs kann auch bei der besonderen Situation der Klägerin nicht ausreichen, ihren Rentenanspruch zu begründen. Es läßt sich auch nicht erkennen, daß dem LSG bei der Feststellung, ein ursächlicher Zusammenhang sei wenig wahrscheinlich, ein wesentlicher Mangel des Verfahrens unterlaufen ist. Die Revision rügt zu Unrecht, das LSG hätte den Eintritt einer Wirbelsäulenverletzung bei dem Unfall ohne stichhaltige Begründung zu Lasten der Klägerin verneint; das LSG hat es vielmehr unter Aufführung der sich aus den vorhandenen Unterlagen sowie den medizinischen Gutachten ergebenden Zweifelsgründe als nicht gesichert angesehen, jedoch zu Gunsten der Klägerin unterstellt, daß es zu einer solchen Verletzung gekommen sei.
Die Revision rügt auch zu Unrecht, das LSG habe der Klägerin eine "Beweispflicht" auferlegt, wo ein Beweis überhaupt nicht möglich sei. Es hat vielmehr die Frage, ob bei dem Versicherten eine Wirbelsäulentuberkulose schon vorgelegen hatte und durch die Unfallfolgen verschlimmert worden ist, eingehend geprüft und ist unter Würdigung der vorliegenden ärztlichen Beurteilungen denk- und erfahrungsfehlerfrei zu dem Ergebnis gekommen, es sei unwahrscheinlich, daß zwischen der - ohnehin nur zugunsten der Klägerin unterstellten - Wirbelsäulenverletzung und einer möglichen Wirbelsäulentuberkulose ein Zusammenhang bestehe. Das Fehlen eines exakten Beweises kann nach dem weiter oben Gesagten nicht etwa dazu führen, von einem zwar möglichen, aber nach ärztlichen Kenntnissen und Erfahrungen unwahrscheinlichen Geschehensablauf auszugehen. Wenn die Revision rügt, man bewege sich mit diesen Erwägungen offenbar im Bereich der Spekulation, so übersieht sie, daß es ohne solche Erwägungen überhaupt unmöglich wäre, einen Anspruch der Klägerin zu begründen, eben weil exakte Beweise fehlen. Davon abgesehen hat das LSG aber sogar zugunsten der Klägerin weiter unterstellt, es habe eine tuberkulöse Erkrankung der Wirbelsäule vorgelegen. Wenn es bei dieser Unterstellung dann aber nicht für hinreichend wahrscheinlich ansieht, daß eine solche Erkrankung zu der tödlichen Lungentuberkulose geführt hat, so ist dabei kein Verstoß gegen die Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze - wie ihn die Revision rügt - zu erkennen.
Das LSG hat auch seine Pflicht zur Sachaufklärung nicht verletzt. Es ist nicht ersichtlich, welche Ermittlungen es zur weiteren Aufklärung der hier wesentlichen Umstände noch hätte treffen können. Der in dem angefochtenen Urteil angezogene Hinweis des Gutachters Prof. R es sei nur die eine Lungenseite in Form einer hirsekorngroßen Aussaat befallen worden, beruht auf dem zu Lebzeiten des Versicherten erstellten Gutachten des Oberarztes Dr. L (Krankenhaus Q) vom 22. Juli 1946; die dort erwähnten geringen Verschattungen über der rechten Lunge sind dabei von Prof. R keineswegs übersehen worden.
Da somit weder ein gerügter wesentlicher Verfahrensmangel noch eine Verletzung der für das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsnorm festzustellen ist, ist die Revision nicht statthaft; sie muß daher nach § 169 SGG als unzulässig verworfen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen