Leitsatz (amtlich)
1. Die in SGG § 42 vorgesehene Entscheidung des GrS des BSG ist nicht erforderlich, wenn ein Senat sich - abweichend von der Entscheidung eines anderen Senats dieses Gerichts - in einer Rechtsfrage der Entscheidung des GmS OGB anschließen will.
2. Der Begriff "Härtefall" in RVO § 602 bestimmt Inhalt und Grenzen des der BG zustehenden Ermessens.
3. Die BG handelt ermessensfehlerhaft, wenn sie einen Härtefall nur deshalb verneint, weil die Witwe ein ausreichendes Einkommen hat. Auch bei höherem Einkommen der Witwe kann ein Härtefall vorliegen, wenn ein durch den Unfall bedingter erheblicher Einkommensverlust die Witwe hart trifft.
Leitsatz (redaktionell)
RVO § 602 dient dem Ausgleich eines durch den Unfall mittelbar verursachten Schadens. Der "Härtefall" bezieht sich daher auf den unfallbedingten Schaden und muß durch ihn verursacht sein. Gegenstand des Ausgleichs durch die laufende Witwenbeihilfe ist jener unfallbedingte Einkommensverlust der Witwe, der erheblich ist und sie hart trifft; hierzu ist das tatsächliche Einkommen der Witwe mit dem Einkommen zu vergleichen, das sie gehabt hätte, wenn ihr Ehemann keinen Unfall gehabt hätte und bis zu seinem Tode arbeitsfähig geblieben wäre.
Normenkette
SGG § 42 Fassung: 1953-09-03; RVO § 602 Fassung: 1963-04-30; RsprEinhG § 2 Abs. 1 Fassung: 1968-06-19
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 11. Juni 1970 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 24. September 1969 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten der Berufungs- und Revisionsinstanz zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte es zu Unrecht abgelehnt hat, der Klägerin eine laufende Witwenbeihilfe aus der Unfallversicherung zu gewähren.
Der am 1. April 1904 geborene Ehemann der Klägerin erlitt am 15. September 1951 als Maler in einem knappschaftlichen Betrieb einen Arbeitsunfall. Er bezog von der Beklagten die Vollrente und daneben ein Pflegegeld. Außerdem erhielt er von der H Knappschaft die Gesamtleistung wegen Erwerbsunfähigkeit. Sein Gesamteinkommen. betrug zuletzt monatlich 796,30 DM. Der Ehemann der Klägerin starb am 17. Februar 1965 an einer unfallunabhängigen Krankheit. Die Beklagte gewährte der Klägerin eine einmalige Witwenbeihilfe von 2.227,70 DM und lehnte den Anspruch auf Witwenrente ab. Die gegen die Ablehnung der Witwenrente erhobene Klage hat die Klägerin zurückgenommen. Mit Bescheid vom 19. Juli 1967 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin, ihr eine laufende Witwenbeihilfe zu gewähren, mit der Begründung ab, unter Berücksichtigung der gewährten einmaligen Witwenbeihilfe und der Einkommensverhältnisse der Klägerin sei davon auszugehen, daß ein Härtefall nicht vorliege. Der Widerspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg.
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 24. September 1969 den Bescheid der Beklagten vom 14. Juli 1967 und den Widerspruchsbescheid vom 10. Oktober 1967 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erteilen. Es ging davon aus, daß es sich um einen Härtefall i. S. des § 602 der Reichsversicherungsordnung (RVO) handele. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 11. Juni 1970 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Gewährung einer laufenden Beihilfe sei in doppelter Hinsicht erschwert, denn die Beihilfe sei eine nur in Härtefällen zu gewährende Ermessensleistung. Durch diese doppelte Erschwerung habe der Gesetzgeber deutlich zum Ausdruck gebracht, daß eine laufende Beihilfe nur ein sehr begrenzter Personenkreis empfangen könne. Der Begriff des Härtefalles sei in vollem Umfang nachprüfbar und gehöre nicht zur Ermessensentscheidung der Berufsgenossenschaft (BG). Ein Härtefall liege nur dann vor, wenn die Witwe durch den Tod des Ehemannes in eine wirtschaftliche Situation geraten sei, die sie in ihrer Existenz bedrohe und aus der sie sich nicht selbst befreien könne. Dabei seien zur Orientierung die Leistungen heranzuziehen, die die Witwe als Sozialhilfeempfängerin erhalten würde. Das aus der knappschaftlichen Witwenrente und einem Werkszuschuß sowie zeitweilig einer Mietbeihilfe bestehende Einkommen der Klägerin habe sich in den Jahren 1965 bis 1970 von monatlich 250,50 DM bis auf 314,70 DM gesteigert und habe stets um mehr als 30 v. H. über den Leistungen der Sozialhilfe gelegen, die der Klägerin zugestanden hätten, wenn sie kein Einkommen gehabt hätte. Unter diesen Umständen könne nicht festgestellt werden, daß die Klägerin durch den Tod ihres Ehemannes in eine wirtschaftliche Situation geraten sei, die derjenigen eines vergleichbaren Empfängers von Sozialhilfe entspreche. Hinzu komme, daß die Klägerin nach dem eingeholten medizinischen Gutachten in der Lage gewesen sei und noch sei, ihre Arbeitskraft nutzbringend einzusetzen und ihr Einkommen zu erhöhen.
Dieses Urteil hat die Klägerin mit der-vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, das LSG habe den Begriff des Härtefalles zu Unrecht dem Begriff der Bedürftigkeit gleichgestellt. Ein Härtefall liege schon deshalb vor, weil für den Ehemann der Klägerin wegen der Unfallfolgen in der Zeit vom 1. Oktober 1951 bis zum 17. Februar 1965 keine Beiträge zur knappschaftlichen Rentenversicherung entrichtet worden seien. Das habe dazu geführt, daß die Witwenrente geringer sei, als sie es gewesen wäre, wenn der Ehemann der Klägerin weiter hätte arbeiten können. Die Zurechnungszeit, die in der knappschaftlichen Witwenrente der Klägerin enthalten sei, gleiche diesen Schaden nicht in vollem Umfang aus. Abgesehen davon, daß die Zurechnungszeit ohnehin nicht die Zeit nach der Vollendung des 55. Lebensjahres erfasse, sei die 86 Monate betragende Zeit vom Eintritt des Versicherungsfalles bis zur Vollendung des 55. Lebensjahres auch nicht in vollem Umfang berücksichtigt worden, sondern nur mit 58 Monaten. Durch die Weiterentrichtung von Beiträgen über die Zeit des Unfalls hinaus hätte sich darüber hinaus die persönliche Rentenbemessungsgrundlage und auch die pauschale Ausfallzeit erhöht. Es sei zwar richtig, daß die Empfängerin einer laufenden Witwenbeihilfe aus der Unfallversicherung nicht bessergestellt werden solle, als die Empfängerin einer Witwenrente aus der Unfallversicherung, deren Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wegen des Zusammentreffens beider Renten zum Teil ruhe. Diesen Gesichtspunkt könne die Beklagte durch die im Rahmen ihres Ermessens zu bestimmende Höhe der laufenden Witwenbeihilfe Rechnung tragen. Das LSG habe sich gedrängt fühlen müssen, Berechnungen zu veranlassen, nach deren Ergebnis eine auf das jetzige Renteneinkommen und die sonstigen anrechenbaren tatsächlichen Einkünfte abgestellte Vergleichsmöglichkeit eröffnet würde. Nur danach habe es entscheiden können, ob die Beklagte das Vorliegen einer Härte mit Recht verneint habe. In verfahrensrechtlicher Hinsicht sei daher das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht beachtet. Sie rügt die Verletzung der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG Niedersachsen vom 11. Juni 1970 nach dem Klageantrag zu erkennen und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Hannover vom 24. September 1969 als unbegründet zurückzuweisen;
hilfsweise,
unter Aufhebung des Berufungsurteils vom 11. Juni 1970 die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Niedersachsen zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, die Frage, ob es sich um einen Härtefall handele, habe der Unfallversicherungsträger im Rahmen seines Ermessens zu entscheiden. Ein Härtefall liege nicht vor, weil die Klägerin ein auskömmliches Einkommen habe. Nicht unberücksichtigt bleiben dürfe, daß der Klägerin eine einmalige Witwenbeihilfe in Höhe von 2.727,70 DM gewährt worden sei. Selbst wenn die Klägerin nach dem Tode ihres Ehemannes in eine Härtesituation geraten sei, so habe diese einmalige Beihilfe diese Situation für einen längerfristigen Zeitraum wieder ausgeglichen. Ob nach Ablauf dieser Zeitspanne ein Härtefall noch gegeben sei, müsse alsdann erneut geprüft werden.
II
Der zulässigen Revision der Klägerin kann der Erfolg nicht versagt bleiben, denn das LSG hat zu Unrecht das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Das SG hatte die Beklagte im Ergebnis zutreffend antragsgemäß verurteilt, der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erteilen.
Nach § 602 RVO idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) kann in Härtefällen anstelle der einmaligen Beihilfe eine laufende Beihilfe gewährt werden, wenn der nicht an den Folgen des Unfalls verstorbene Verletzte länger als zehn Jahre eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 oder mehr v. H. bezogen hat. Da der verstorbene Ehemann der Klägerin die übrigen Tatbestandsmerkmale dieser Vorschrift erfüllt hat, kommt es darauf an, ob die Beklagte das Vorliegen eines Härtefalles verneinen durfte. Der § 602 RVO ist eine Kannvorschrift, hat also die Gewährung der laufenden Witwenbeihilfe bei Vorliegen der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen in das Ermessen des Unfallversicherungsträgers gestellt. Dabei ergibt sich die Frage, ob der Begriff des Härtefalles - wie das LSG meint - ein unbestimmter, von den Gerichten voll nachprüfbarer Rechtsbegriff und damit Voraussetzung für die Ausübung des Ermessens ist, oder ob - wie die Beklagte meint - der Begriff des Härtefalles in den Ermessensbereich hineinragt und lediglich den Inhalt sowie die Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens bestimmt. Diese Frage, die auch im Zusammenhang mit vielen anderen Vorschriften auftaucht - mag es sich dabei um den Begriff der Härte, der Unbilligkeit oder der unbilligen Härte handeln - ist in der Literatur und in der Rechtsprechung unterschiedlich beantwortet worden.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat mehrfach zu § 89 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) die Ansicht vertreten, der Begriff der "besonderen Härte" sei ein unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Auslegung durch die Verwaltung von den Gerichten nachgeprüft werden müsse, wobei jedoch der Verwaltung ein gewisser Beurteilungsspielraum zustehe (vgl. BSG 27, 286, 287; 31, 83, 84 und die dort zitierten weiteren Entscheidungen). Demgegenüber hat sich der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmS) in seinem Beschluß vom 19. Oktober 1971 (vgl. NJW 1972, 1411 mit Anmerkung von Kloepfer = DVBl 1972, 604 mit Anmerkung von Redeker) auf den Standpunkt gestellt, die Entscheidung der Behörde nach § 131 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) darüber, ob die Einziehung der Steuern nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, sei von den Gerichten nach den für die Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidung geltenden Grundsätzen zu überprüfen, wobei der Maßstab der Billigkeit Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens bestimme. Der Gesetzgeber hat in § 602 RVO ausdrücklich eine Kannleistung und damit eine Leistung vorgesehen, die im pflichtgemäßen Ermessen der Berufsgenossenschaft steht. Wollte man annehmen, daß der Begriff "Härtefall" ein unbestimmter, von den Gerichten voll überprüfbarer und zu konkretisierender Rechtsbegriff sei, so bliebe für ein Ermessen der Berufsgenossenschaften kein Raum. Es ist daher davon auszugehen, daß in § 602 RVO zwischen dem Begriff "Härtefall" und dem das Ermessen ausdrückende "Können" eine unlösbare Verbindung besteht. Der Gesetzgeber hat eine Kannleistung vorgesehen, um die Möglichkeit zu eröffnen, in Härtefällen eine Leistung zu gewähren (vgl. dazu Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik zum Entwurf des UVNG, BT-Drucks. IV/938 S. 15 zu § 599 a). Es muß auch hier - entsprechend der Entscheidung des GmS - angenommen werden, daß der Begriff "Härtefall" in den Ermessensbereich hineinragt und damit zugleich Inhalt und Grenzen der pflichtgemäßen Ermessensausübung bestimmt. Wenn auch in der Praxis die Ergebnisse dieser beiden unterschiedlichen Auffassungen kaum sehr voneinander abweichen werden, so mußte sich doch der Senat entscheiden, welcher Auffassung er den Vorzug gibt. Die Prüfung dieser Frage hat zu dem Ergebnis geführt, daß sich der Senat der Auffassung des GmS anschließt.
Der Senat kann diese Entscheidung treffen und sich damit dem zitierten Beschluß des GmS anschließen, ohne den § 42 SGG zu verletzen. Zwar handelt es sich sowohl bei § 89 Abs. 1 BVG als auch bei § 602 RVO und § 131 Abs. 1 Satz 1 AO unabhängig von der Verschiedenheit der einzelnen Gesetze und der dort verwendeten Begriffe um dieselbe Rechtsfrage, die der Senat abweichend von den zitierten früheren Entscheidungen des BSG beantwortet. Die in solchen Fällen nach § 42 SGG vorgesehene Entscheidung des Großen Senats des BSG ist aber nicht erforderlich, wenn ein Senat sich abweichend von den Entscheidungen anderer Senate dieses Gerichts einer Entscheidung des GmS anschließen will. Die sich mittelbar aus § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (RSprEinhG) vom 19. Juni 1968 (BGBl I, 661) ergebende Sperrwirkung einer Entscheidung des GmS geht einer sich aus § 42 SGG ergebenden Sperrwirkung der Entscheidung eines anderen Senats des BSG vor und hebt sie daher auf. Sowohl Art. 95 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) als auch das RSprEinhG weisen dem GmS die Aufgabe zu, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung aller Senate aller obersten Gerichtshöfe des Bundes zu wahren. Diese Aufgabe ist der den Großen Senaten der einzelnen Gerichtshöfe obliegenden Aufgabe, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung innerhalb des betreffenden Gerichts zu wahren, übergeordnet. Ebenso wie die Entscheidung des Großen Senats den Senaten dieses Gerichts erlaubt, in Zukunft von einer entgegenstehenden früheren Entscheidung eines anderen Senats abzuweichen, führt die Entscheidung einer Rechtsfrage durch den GmS dazu, daß die Senate aller Gerichtshöfe des Bundes ohne erneute Anrufung des GmS in Zukunft abweichend von einer entgegenstehenden früheren Entscheidung eines Gerichtshofs entscheiden dürfen. Dieser Grundsatz ergibt sich von selbst aus dem Zweck und der Systematik des RSprEinhG, so daß der Gesetzgeber darauf verzichten konnte, ihn ausdrücklich zu normieren. Er gilt aber nicht nur im Verhältnis zu den Senaten anderer Gerichtshöfe, sondern auch im Verhältnis zu den Senaten des eigenen Gerichts. Die zum Zwecke der Einheitlichkeit der Rechtsprechung ergangene Entscheidung des GmS wahrt auch die Einheitlichkeit der Rechtsprechung innerhalb des Gerichts und macht eine Entscheidung des Großen Senats überflüssig. Die in § 2 Abs. 2 RSprEinhG vorgesehene Anrufung des Großen Senats trifft nicht den Fall, daß der erkennende Senat sich einer bereits ergangenen Entscheidung des GmS anschließen will, sondern nur den Fall, daß die beabsichtigte Abweichung von der Entscheidung eines anderen Senats zur Anrufung des GmS führen würde.
Nach § 54 Abs. 3 Satz 2 SGG hat das Gericht die im Ermessen der Verwaltung stehende Entscheidung nur darauf nachzuprüfen, ob die Verwaltung die Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Da der Begriff "Härtefall" - wie bereits dargelegt - Inhalt und Grenzen des Ermessens bestimmt, setzt die Ermessensüberprüfung die Beantwortung der Frage voraus, was ein Härtefall im Sinne des § 602 RVO ist. Diese Antwort läßt sich nur aus dem gesetzgeberischen Zweck dieser Vorschrift finden. Im Ausschuß für Sozialpolitik ist bei der Beratung des Entwurfs zum UVNG die Frage erörtert worden, ob die laufende Witwenbeihilfe mit dem Schadensersatzgedanken der Unfallversicherung zu vereinbaren sei. Diese Frage ist bejaht worden, weil ein Verletzter, der über längere Zeit hinweg infolge des Unfalls ohne Erwerbseinkommen gewesen ist, in der Regel nicht in der gleichen Weise für seine Familienangehörigen vorsorgen kann wie das einem gesunden Arbeitnehmer möglich ist (vgl. BT-Drucks. IV/938 S. 15 zu § 599 a). Da also die laufende Witwenbeihilfe nach § 602 RVO dem Ausgleich eines durch den Unfall mittelbar verursachten Schadens dient, kann der Begriff "Härtefall" nicht losgelöst von diesem Schaden gesehen werden. Der Härtefall muß sich vielmehr auf den unfallbedingten Schaden beziehen und durch ihn verursacht sein. Einerseits kann eine durch andere Umstände bedingte wirtschaftliche Notlage der Witwe - mag sie diese noch so hart treffen - nicht Gegenstand des Ausgleichs durch die laufende Witwenbeihilfe sein; andererseits genügt noch nicht jeder unfallbedingte Einkommensverlust der Witwe, sondern nur ein solcher, der erheblich ist und sie hart trifft. Bei der Frage, ob die langdauernde und hochgradige, unfallbedingte MdE einen Schaden verursacht hat, kann nicht das Einkommen der Witwe mit dem zu Lebzeiten des Verletzten zuletzt beiden Eheleuten zur Verfügung stehenden Einkommen verglichen werden, denn auch das letzte Einkommen vor dem Tode ist ja schon durch den Unfall beeinflußt. Es muß vielmehr das tatsächliche Einkommen der Witwe mit dem Einkommen verglichen werden, das sie gehabt hätte, wenn ihr Ehemann keinen Unfall erlitten hätte und bis zum Tode arbeitsfähig geblieben wäre. In der Regel wird sich bei diesem Vergleich schon deshalb ein Einkommensverlust ergeben, weil der Verletzte wegen der hochgradigen unfallbedingten MdE über einen Zeitraum von zehn Jahren und mehr gehindert gewesen ist, Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichten. Es sind allerdings Fälle denkbar, in denen dieser Beitragsausfall in vollem Umfang durch die Zurechnungszeit ausgeglichen wird. Die Frage, wann ein unfallbedingter Einkommensverlust erheblich ist und die Witwe hart trifft, kann nicht generell, sondern nur unter Berücksichtigung der Umstände des einzelnen Falles beurteilt werden. Dabei hat die Berufsgenossenschaft einen Ermessensspielraum. Die Grenzen dieses Ermessens sind allerdings jedenfalls dann überschritten, wenn die Berufsgenossenschaft den Härtefall - wie im vorliegenden Fall - nur deshalb verneint, weil das Einkommen der Witwe das Existenzminimum nicht unerheblich überschreitet und zum Lebensunterhalt ausreicht. Wenn auch bei einer Existenzgefährdung stets anzunehmen ist, daß eine Einkommensminderung die Witwe hart trifft, so kann die Witwe doch auch bei einem höheren Einkommen durch eine erhebliche Einkommensminderung stark betroffen sein. Dabei lassen sich konkrete Zahlen nicht nennen; vielmehr steht der Berufsgenossenschaft ein, wenn auch nicht sehr weiter Ermessensspielraum zu. Die Beklagte hat im vorliegenden Fall jedenfalls ermessensfehlerhaft gehandelt, wenn sie die Gewährung der laufenden Witwenbeihilfe nur deshalb abgelehnt hat, weil das Einkommen der Klägerin zu ihrem Unterhalt ausreicht. Dem SG ist daher, wenn auch aus anderen Gründen, zuzustimmen, wenn es den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben hat.
Bei der erneuten Ausübung ihres Ermessens wird die Beklagte nach Feststellung des unfallbedingten Einkommensverlustes der Witwe die Frage der Härte unter Berücksichtigung der aufgezeigten Gesichtspunkte erneut zu beantworten haben. Hierbei wird es auch noch folgendes zu berücksichtigen haben. Das Argument des LSG, durch die laufende Witwenbeihilfe dürfe die Witwe des Verletzten, der nicht an den Folgen des Unfalls gestorben ist, nicht bessergestellt werden, als die Witwe, deren Ehemann an den Unfallfolgen gestorben ist und deren Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wegen Zusammentreffens mit der Witwenrente aus der Unfallversicherung zum Teil ruhe, ist sicherlich richtig. Es hat jedoch keinen Einfluß auf die Frage, wann ein Härtefall i. S. des § 602 RVO vorliegt. Da es sich bei der laufenden Witwenbeihilfe um eine Ermessensleistung der Berufsgenossenschaft handelt, kann diese die Höhe der laufenden Witwenbeihilfe so begrenzen, daß eine Besserstellung der Empfängerin einer laufenden Witwenbeihilfe nicht eintritt. Auch der Hinweis der Beklagten darauf, daß die Klägerin eine einmalige Witwenbeihilfe erhalten habe, schließt die Annahme eines Härtefalles nicht aus. Die Frage, ob ein Härtefall vorliegt, ist unabhängig davon zu beurteilen, ob der Witwe eine einmalige Beihilfe gewährt worden ist oder zu gewähren ist. Die laufende Witwenbeihilfe tritt an die Stelle der einmaligen Beihilfe, so daß die Gewährung der einmaligen Beihilfe der Annahme eines Härtefalles nicht entgegensteht. Die Berufsgenossenschaft kann gegebenenfalls eine bereits gewährte einmalige Beihilfe auf die laufende Beihilfe anrechnen.
Das SG hat danach die Beklagte im Ergebnis mit Recht dazu verurteilt, einen neuen Bescheid unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erteilen. Allerdings tritt an die Stelle der Rechtsauffassung des SG die des erkennenden Senats. Das angefochtene Urteil des LSG konnte daher nicht aufrechterhalten bleiben; vielmehr mußte die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE, 269 |
NJW 1973, 1063 |
MDR 1973, 169 |