Leitsatz (amtlich)
1. Nach SGG § 148 Nr 1 ist die Berufung nicht ausgeschlossen, wenn das angefochtene Urteil des ersten Rechtszuges einen wegen Fristversäumnis abgelehnten Antrag betrifft, jedoch einer der Ausnahmefälle des BVG § 57 Abs 1 - ohne Erfolg - geltend gemacht worden ist.
2. Eine Verhinderung im Sinne des BVG § 57 Abs 1 Nr 3 liegt für den Berechtigten dann vor, wenn nach der früheren Rechtsprechung und den entsprechend erteilten Auskünften der zuständigen Verwaltungsbehörden und Interessentenverbände die Geltendmachung von Versorgungsansprüchen bestimmter Personengruppen aussichtslos war.
Normenkette
SGG § 148 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03; BVG § 57 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1955-01-19
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt vom 24. Februar 1956 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger beantragte am 12. Februar/22. März 1954 beim Versorgungsamt F Versorgung für Schädigungsfolgen, die er durch seine Internierung (aus politischen Gründen) in den Lagern Z und D in der Zeit vom 18. Juni 1946 bis 26. September 1947 erlitten habe. Das Versorgungsamt F lehnte den Antrag mit Bescheid vom 2. November 1954 ab, weil die Internierung des Klägers kein schädigendes Ereignis im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) darstelle, der Kläger aber auch die Anmeldefrist des § 56 Abs. 1 BVG versäumt habe. Ferner seien auch die bei ihm bestehenden Gesundheitsstörungen altersbedingt und nicht auf die Internierung zurückzuführen. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos. Im Widerspruchsbescheid vom 22. Februar 1955 führte das Landesversorgungsamt Hessen aus, daß der angefochtene Bescheid im Ergebnis richtig sei; auf den Einwand der nach § 56 BVG vorliegenden Fristversäumnis könne nicht verzichtet werden, die Ausnahmevorschrift des § 57 BVG sei nicht anwendbar. In der Klage gegen diesen Bescheid machte der Kläger geltend, daß erst im Herbst 1953 das Landesversorgungsamt den Vorstand der Kameradschaftshilfe der ehemaligen Internierten, Landesverband Hessen, die Auskunft gegeben habe, daß nunmehr auch Internierte nach dem BVG antragsberechtigt seien. Bis dahin sei allgemein die Auffassung verbreitet gewesen, daß den politischen Internierten Versorgungsansprüche nicht zustünden. Das Sozialgericht Fulda wies die Klage mit Vorbescheid vom 5. August 1955 und sodann, nachdem der Kläger Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt hatte, mit Urteil vom 20. September 1955 ab. Es sah die Anmeldung der Versorgungsansprüche des Klägers als verspätet an. Die Frist des § 56 BVG sei am 30. September 1952 abgelaufen gewesen. Die Ausnahmevorschriften des § 57 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BVG träfen nicht zu. Ebensowenig sei der Kläger aber auch an der fristgemäßen Anmeldung durch Verhältnisse gehindert gewesen, die außerhalb seines Willens lagen (§ 57 Abs. 1 Nr. 3 BVG). Einer, wenn auch etwa aussichtslosen rechtzeitigen Antragstellung hätten Hinweise auf die Aussichtslosigkeit nicht im Wege gestanden. In der Rechtsmittelbelehrung führte das Sozialgericht aus, daß die Berufung gegen dieses Urteil gemäß § 143 ff. Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig sei.
Das Hessische Landessozialgericht verwarf mit Urteil vom 24. Februar 1956 die Berufung des Klägers als unzulässig. Nach seiner Urteilsbegründung war die Berufung gemäß § 148 Nr. 1 SGG ausgeschlossen. Die Frist zur Anmeldung der Ansprüche des Klägers sei mit dem 30. September 1952 abgelaufen gewesen. Der Kläger könne einen der Ausnahmefälle des § 57 BVG nicht mit Erfolg geltend machen. Wenn der Kläger Ansprüche zu haben glaubte, "so konnte ihn auch s. Zt. eine negative Haltung der Rechtsprechung solchen Ansprüchen gegenüber nicht an deren - wenn vielleicht auch aussichtslosen - fristgemäßen Anmeldung ..." hindern. Die Revision wurde nicht zugelassen.
Gegen das am 15. März 1956 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 26. März 1956, eingegangen beim Bundessozialgericht am 28. März 1956, Revision eingelegt und die Revisionsschrift mit Schriftsatz vom 31. März 1956, eingegangen beim Bundessozialgericht am 3. April 1956, durch einen Antrag, aus dem sich sein Revisionsbegehren ergibt, ergänzt. Nachdem die Revisionsbegründungsfrist bis zum 15. Juni 1956 gemäß § 164 Abs. 1 Satz 2 SGG verlängert worden war, hat der Kläger die Revision mit Schriftsatz vom 12. Juni 1956, eingegangen beim Bundessozialgericht am 13. Juni 1956, begründet. Er beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 24. Februar 1956, das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 20. September 1955, den Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts Hessen vom 22. Mai 1955 sowie den Bescheid des Versorgungsamts F vom 2. November 1954 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger wegen Herzmuskelerkrankung mit Kreislaufstörungen und Thrombose des linken Beines eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 80 v. H. seit dem Antragsmonat zu zahlen,
hilfsweise unter Aufhebung des Urteils des Hessischen Landessozialgerichts vom 24. Februar 1956 die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Er rügt, daß das Landessozialgericht die Revision hätte zulassen müssen, da über Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden ist. Die Zulässigkeit der Revision ergebe sich daher aus § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG. Der Kläger rügt ferner, daß das Landessozialgericht die Berufung zu Unrecht als unzulässig verworfen habe. Die Voraussetzungen des § 148 Nr. 1 SGG hätten nicht vorgelegen. Das Urteil des Sozialgerichts sei mit der Berufung anfechtbar gewesen, da der Antrag des Klägers auf Versorgung in irriger Auslegung des § 57 Abs. 1 Nr. 3 BVG abgelehnt worden sei. Als ehemaliger politischer Leiter sei er an der fristgemäßen Anmeldung gehindert gewesen, da erst Ende 1953 die Versorgungsansprüche dieser Personengruppe in der Rechtsprechung Anerkennung gefunden hätten. Es sei ihm nicht als Verschulden zuzurechnen, wenn er bis zu diesem Zeitpunkt vernünftigerweise untätig geblieben sei.
Der Beklagte, der im Termin zur mündlichen Verhandlung, zu dem er unter Hinweis auf § 110 SGG geladen war, nicht erschienen ist, hat in seiner Revisionserwiderung vom 5. Juli 1956 beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen oder zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für richtig, ein wesentlicher Mangel des Verfahrens liegt seines Erachtens nicht vor.
Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, da der Kläger einen wesentlichen Mangel des Verfahrens gerügt hat. Dieser Verfahrensmangel ist allerdings nicht darin zu sehen, daß das Landessozialgericht die Revision nicht zugelassen hat. Es kann dahingestellt bleiben, ob das Landessozialgericht - wie der Kläger meint - die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der zu entscheidenden Rechtsfrage hätte zulassen müssen. Die Entscheidung über die Zulassung berührt nicht das Verfahren und kann auch nicht unter dem Gesichtspunkt des wesentlichen Mangels des Verfahrens nachgeprüft werden (BSG. 2, 81; 3, 275). Diese Rüge des Klägers kann nicht zur Statthaftigkeit der Revision führen.
Der Kläger hat jedoch zutreffend gerügt, daß das Landessozialgericht in unrichtiger Anwendung des § 148 Nr. 1 SGG die Berufung als unzulässig verworfen hat. Die von ihm angeführten Tatsachen ergeben einen wesentlichen Verfahrensmangel (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG), der darin zu finden ist, daß das Landessozialgericht anstelle einer Sachentscheidung die Berufung als unzulässig verworfen hat (BSG. 1, 283, SozR. SGG § 162 Bl. Da 3 Nr. 21).
Das Sozialgericht hatte in dem mit der Berufung angefochtenen Urteil die Berufung nicht zugelassen. Sie war trotzdem zulässig, denn das Sozialgericht hatte sich - entsprechend dem Inhalt des angefochtenen Bescheides - nicht nur mit der Frage auseinandergesetzt, ob der Kläger bei der Anmeldung seiner Versorgungsansprüche die Frist des § 56 BVG versäumt hatte, sondern auch mit der Frage, ob die Anmeldung nach einem der Ausnahmefälle des § 57 BVG noch als rechtzeitig angesehen werden konnte. Der Inhalt seiner Entscheidung, auf die es bei der Zulässigkeit der Berufung zunächst ankommt (BSG. 1, 225; 3, 217), betraf einen Antrag, der zwar wegen Versäumnis der Frist des § 56 BVG abgelehnt, bei dem aber einer der Ausnahmefälle des § 57 BVG geltend gemacht worden war. In einem solchen Fall ist die Berufung abweichend von dem allgemeinen Berufungsausschließungsgrund (Ablehnung eines Antrags wegen Fristversäumnis) ausnahmsweise gemäß § 148 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 2 SGG zulässig. Das Gesetz hat als nicht berufungsfähig nur den Fall behandelt, daß ein Antrag wegen Fristversäumnis gemäß § 56 BVG abgelehnt werden mußte. Ein solcher Fall liegt jedoch nach dem Gesetz dann nicht vor, wenn dabei die schwierigere Rechtsfrage entschieden werden muß, ob eine nachträgliche Geltendmachung der Versorgungsansprüche zulässig ist, "weil die Ausnahmefälle des § 57 BVG geltend gemacht werden". Diese Worte sind nicht etwa so zu verstehen, daß einer der Ausnahmefälle des § 57 BVG vor dem Sozialgericht "mit Erfolg" geltend gemacht sein muß. Eine derartige Auslegung des § 148 Nr. 1 SGG, von der das Landessozialgericht offenbar ausgegangen ist, entspricht weder dem Wortlaut noch dem Sinn dieser Vorschrift. Das Gesetz hat bei der schwieriger zu entscheidenden Rechtsfrage, ob die Anmeldefrist auch beim Geltendmachen eines der Ausnahmefälle des § 57 BVG als gewahrt angesehen werden kann, die Berufung nicht ausgeschlossen, und zwar gerade dann, wenn einer der Ausnahmefälle des § 57 BVG nicht mit Erfolg geltend gemacht wurde. Wäre die Berufung nur dann zulässig, wenn einer der Ausnahmefälle des § 57 BVG mit Erfolg geltend gemacht wurde, so wäre die Ausnahme im § 148 Nr. 1 SGG ohne jede Bedeutung und sinnwidrig. In diesem Fall wäre nämlich der Antrag vom Sozialgericht nicht wegen Fristversäumnis abgelehnt worden und es wäre somit ein dem Tatbestand des § 148 Nr. 1 SGG unterzuordnender Fall überhaupt nicht gegeben. Deshalb ist nach § 148 Nr. 1 SGG die Berufung nicht ausgeschlossen, wenn das angefochtene Urteil des Sozialgerichts einen wegen Fristversäumnis abgelehnten Antrag betrifft, jedoch im ersten Rechtszug einer der Ausnahmefälle des § 57 BVG ohne Erfolg geltend gemacht worden ist.
Ob zu dem Geltendmachen der Ausnahmefälle des § 57 BVG im Sinne dieser Vorschrift allein die Behauptung genügt, es liege ein solcher Ausnahmefall vor, oder ob Tatsachen vorgebracht sein müssen, aus denen sich - ihr Vorhandensein unterstellt - bei richtiger Auslegung ein Ausnahmefall des § 57 BVG ergibt (schlüssiges Behaupten - so Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. 1, 13. Abschn. C IV b aa, S. 250 g und Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 145 Anm. 2 e), kann dahingestellt bleiben. Im vorliegenden Fall rechtfertigen die vom Kläger behaupteten Tatsachen - wenn sie als wahr unterstellt werden - die Anwendung des § 57 Abs. 1 Nr. 3 BVG. Die gegenteilige Ansicht des Landessozialgerichts, das offenbar in seiner Begründung zum Ausdruck bringen will, das Vorbringen des Klägers sei für die Anwendung des § 57 BVG nicht einmal schlüssig gewesen, trifft nicht zu. Da das Landessozialgericht von der Behauptung des Klägers ausging, daß die Rechtsprechung bis zum Herbst 1953 die Versorgungsansprüche für Schäden infolge politischer Internierung abgelehnt habe, und daß erst zu dieser Zeit das Landesversorgungsamt den Interessenverband der politisch Internierten darauf hingewiesen habe, es könnten nunmehr auch Personen aus diesem Personenkreis Versorgungsansprüche mit Erfolg geltend machen, so durfte es dieses Vorbringen des Klägers nicht für unschlüssig halten. In solchem Fall war der Kläger an der Anmeldung seiner Versorgungsansprüche durch Verhältnisse gehindert, die außerhalb seines Willens lagen. Er konnte auf die Auskunft des Verbandes der politisch Internierten, der zur Erteilung solcher Auskünfte nach Erörterung mit dem zuständigen Landesversorgungsamt berufen war, vertrauen. Es konnte ihm unter den früheren Verhältnissen nicht zugemutet werden, seine Versorgungsansprüche geltend zu machen. Er hätte zu erwarten gehabt, daß sie abgelehnt wurden und daß die Rechtskraft der Entscheidung auch einer späteren Geltendmachung entgegengestanden hätte. Als Verhältnisse, die außerhalb des Willens des Berechtigten lagen und ihn an der fristgemäßen Anmeldung seiner Versorgungsansprüche hinderten (§ 57 Abs. 1 Nr. 3 BVG), sind auch solche anzusehen, die den Berechtigten selbst bei äußerster Sorgfalt vernünftigerweise davon abhalten mußten, den Anspruch auf eine von ihm erstrebte Leistung anzumelden. Solche Verhältnisse liegen insbesondere auch dann vor, wenn nach der Rechtsprechung und den entsprechend erteilten Auskünften der zuständigen Verwaltungsbehörden und Interessentenverbände die Geltendmachung von Versorgungsansprüchen bestimmter Personengruppen aussichtslos ist. In diesem Sinn hat bereits das frühere Reichsversicherungsamt den gleichlautenden § 1547 Abs. 1 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ausgelegt, und selbst dann, wenn die erteilte Auskunft über die Aussicht der beabsichtigten Anspruchserhebung falsch war, diese Vorschrift für anwendbar gehalten (vgl. AN. 91 S. 148 Nr. 934; 91 S. 149 Nr. 935; 96 S. 288 Nr. 1516; 1902 S. 678 Nr. 1966). Dies muß umso mehr gelten, wenn, wie im vorliegenden Fall für die Schlüssigkeit der Behauptung des Klägers zu unterstellen ist, daß die ihm erteilte Auskunft den damaligen rechtlichen Anschauungen der Verwaltungs- und Spruchbehörden entsprach.
Das Landessozialgericht hat daher in unrichtiger Anwendung des § 148 Nr. 1 SGG die Berufung des Klägers für unzulässig angesehen, obgleich das Urteil einen wegen Fristversäumnis abgelehnten Antrag betrifft, in dem der Kläger ohne Erfolg einen Ausnahmefall des § 57 Abs. 1 Nr. 3 BVG - und zwar auch schlüssig geltend gemacht hatte. Es hat damit entgegen der Verfahrensvorschrift des § 148 Nr. 1 SGG die Berufung als unzulässig verworfen, anstatt in der Sache zu entscheiden. Da der Kläger diesen Mangel gerügt hat, ist seine Revision gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.
Gleichzeitig ist seine Revision aber auch begründet, denn auf diesem Verfahrensmangel beruht die angefochtene Entscheidung. Bei Verfahrensmängeln beruht im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG die angefochtene Entscheidung schon dann auf diesem Mangel, wenn nur die Möglichkeit besteht, daß bei richtiger Anwendung der Verfahrensvorschrift die Entscheidung anders ausgefallen wäre. Das aber ist im vorliegenden Fall den Umständen nach ohne weiteres anzunehmen.
Eine Entscheidung in der Sache selbst konnte der Senat nicht treffen, da sowohl darüber Feststellungen fehlen, ob die vom Kläger zur Anwendung des § 57 Abs. 1 Nr. 3 BVG vorgetragenen Behauptungen tatsächlich zutreffen, als auch gegebenenfalls die Feststellungen, die zur Entscheidung in der Sache selbst erforderlich sind. Die Sache mußte daher unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das Hessische Landessozialgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung mußte dem abschließenden Urteil vorbehalten bleiben.
Fundstellen