Entscheidungsstichwort (Thema)
Zeitpunkt der Zustellung bei vereinfachter Zustellung gemäß § 5 Abs 2 VwZG
Orientierungssatz
Für die Zustellung nach § 5 Abs 2 VwZG ist der Zeitpunkt maßgebend, zu dem der Empfänger von dem Zugang des zuzustellenden Schriftstückes Kenntnis erlangt und bereit ist, die Zustellung entgegenzunehmen, diese also bestätigt (vgl BSG 1980-03-19 4 RJ 83/77 = SozR 1960 § 5 VwZG Nr 2.
Normenkette
VwZG § 5 Abs 2
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 28.02.1980; Aktenzeichen L 6 J 1435/79) |
SG Marburg (Entscheidung vom 23.10.1979; Aktenzeichen S 4 J 60/77) |
Tatbestand
Die Beklagte gewährte dem staatenlosen Kläger mit Bescheid vom 31. März 1977 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, ordnete jedoch das Ruhen dieser Rente in voller Höhe an, weil der Kläger eine Unfallrente aus der belgischen Versicherung beziehe.
Das Sozialgericht (SG) Marburg hat durch Urteil vom 23. Oktober 1979 die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides verpflichtet, die Erwerbsunfähigkeitsrente ohne Anwendung der Ruhensvorschrift des § 1278 Reichsversicherungsordnung (RVO) zu gewähren und den rückständigen Rentenbetrag zu verzinsen; Art 12 Abs 2 der EWG-VO Nr. 1408/71 scheide als Grundlage für die Anwendung des § 1278 RVO aus, weil dem Kläger unabhängig von dieser VO die Unfallrente allein aufgrund innerstaatlicher belgischer Rechtsvorschriften zustehe. Dieses Urteil ist vereinfacht zugestellt worden (§ 5 Abs 2 Verwaltungszustellungsgesetz -VwZG-); das Empfangsbekenntnis der Beklagten trägt den Eingangsstempel vom 5. November 1979 sowie eine auf den 6. November 1979 datierte Unterschrift.
Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat die am Donnerstag, dem 6. Dezember 1979 eingegangene Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen. Es hat ausgeführt, die Berufung sei verspätet. Für den Beginn der Berufungsfrist komme es nicht darauf an, ob bereits am 5. November 1979 ein unterzeichnungsberechtigter Beamter der Beklagten vom Zugang der Urteilsausfertigung Kenntnis erlangt habe oder zur Annahme bereit gewesen sei (Hinweis auf Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts -BVerwG- vom 1. Februar 1971 in DVBl 1971 S 418). Dementsprechend habe die Berufungsfrist am 6. November 1979 begonnen und am 5. Dezember jenes Jahres geendet.
Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision trägt die Beklagte vor, das LSG habe zu Unrecht die Berufung als verspätet angesehen und sie deshalb als unzulässig verworfen. Es müsse nunmehr erneut verhandeln und eine Entscheidung in der Sache treffen.
Die Beklagte beantragt (sinngemäß),
die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts
vom 28. Februar 1980 und des Sozialgerichts
Marburg vom 23. Oktober 1979 aufzuheben und die
Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er meint, das SG-Urteil sei bereits am 5. November 1979 zugestellt worden und die Berufung daher verspätet eingegangen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet.
Zu Unrecht hat die Vorinstanz angenommen, die Berufung der Beklagten sei verspätet eingelegt worden und daher unzulässig. Das LSG ist hierbei davon ausgegangen, die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis nach § 5 Abs 2 VwZG vom 7. Juli 1962 idF vom 19. Mai 1972 an eine Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts sei bereits mit dem Eingang beim Adressaten bewirkt. Diese Rechtsauffassung hat zwar der 4. Senat des BVerwG früher vertreten (Beschlüsse vom 14. Februar 1969 -BVerwG IV B 112.65 - Buchholz 340 § 8 VwZG Nr 5 - und vom 1. Februar 1971 - BVerwG IV C B 147.68 - Buchholz 340 § 5 VwZG Nr 2 = DVBl 1971, 418), sie jedoch mit Beschluß vom 21. Dezember 1979 - 4 ER 500.79 - aufgegeben, so daß ein über diese Rechtsfrage beim Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes anhängiges Verfahren - GmS OGB 2/78 - eingestellt wurde. Es besteht nunmehr die - vom erkennenden Senat geteilte - einhellige Rechtsauffassung aller obersten Gerichtshöfe des Bundes, daß für die Zustellung nach § 5 Abs 2 VwZG der Zeitpunkt maßgebend ist, zu dem der Empfänger von dem Zugang des zuzustellenden Schriftstückes Kenntnis erlangt und bereit ist, die Zustellung entgegenzunehmen, diese also bestätigt (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 19. März 1980 - 4 RJ 83/77 - unter Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- vom 23. März 1966 - 9 RV 334/63 = SozR Nr 4 zu § 5 VwZG sowie die zitierten Entscheidungen des BGH, des BFH und des BVerwG). Demgemäß kommt es im vorliegenden Fall für den Beginn der Berufungsfrist auf das auf dem Empfangsbekenntnis der Beklagten befindliche Datum der Unterschrift (6. November 1979) an.
Hiernach begann die Berufungsfrist gemäß § 64 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) am 7. November 1979 zu laufen; sie endete mit dem 6. Dezember 1979 (§ 64 Abs 2 SGG). Die Berufung der Beklagten ging also noch innerhalb dieser Frist ein.
Somit hätte das LSG, anstatt im Wege eines Prozeßurteils die Berufung als unzulässig zu verwerfen, in der Sache entscheiden müssen. Diese Sachentscheidung kann der erkennende Senat nicht selbst treffen. Dazu wäre er nur befugt, wenn er ohne neue Feststellungen beurteilen könnte, ob die Berufung der Beklagten begründet ist oder nicht (vgl hierzu BSG, Urteil vom 11. September 1980 - 1 RA 43/79 = SozR 1500 § 170 Nr 4); hier indessen hat das Berufungsgericht aufgrund seiner Rechtsauffassung keinerlei Feststellungen getroffen, die dem Senat eine Sachentscheidung erlauben könnten. Der Rechtsstreit war daher an das LSG zurückzuverweisen.
Auch über die Kosten wird das Berufungsgericht erneut zu entscheiden haben.
Fundstellen