Entscheidungsstichwort (Thema)
Vollendung des 65. Lebensjahres bei Empfängern umgestellter Altrenten
Leitsatz (redaktionell)
Die Vollendung des 65. Lebensjahres bei Empfängern umgestellter Altrenten steht rechtlich dem Eintritt des Versicherungsfalles des Alters nach RVO § 1248 für die Anwendung des RVO § 1262 Abs 2 gleich.
Normenkette
RVO § 1262 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 38 Abs. 3 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1262 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1248 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. Januar 1970 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Umstritten ist, ob die Klägerin Anspruch auf Kinderzuschuß für ein Pflegekind hat (§ 1262 Abs. 1 und 2 Nr. 7 der Reichsversicherungsordnung - RVO -, Art. 2 § 38 Abs. 3 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -).
Die Klägerin, geboren im Februar 1902, bezog seit Juli 1950 Invalidenrente aus eigener Versicherung. Zum 1. Januar 1957 wurde die Rente auf die Weise umgestellt, daß der Zahlbetrag für Dezember 1956 um einen Sonderzuschuß erhöht wurde (Art. 2 § 36 ArVNG). Vom Februar 1967 an, dem Monat, in dem die Klägerin das 65. Lebensjahr vollendete, gewährte die Beklagte die um den Sonderzuschuß erhöhte Altrente in der bisherigen, nur durch die Rentenanpassungsgesetze geänderten Höhe als Altersruhegeld weiter; eine um zwei Dreizehntel erhöhte Faktorenrente wäre immer noch niedriger als der frühere Rentenzahlbetrag gewesen.
Die Klägerin erzieht und unterhält seit 1962 ein Urenkelkind in ihrem Haushalt. Sie beantragte deshalb im Februar 1967, ihre Rente um einen Kinderzuschuß zu erhöhen.
Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 26. September 1967 ab: Sofern Bezieher einer umgestellten Rente bei Vollendung des 65. Lebensjahres nach Art. 2 § 38 Abs. 3 Satz 1 ArVNG nur Anspruch auf Erhöhung der Rente auf fünfzehn Dreizehntel hätten, könne kein Anspruch auf Kinderzuschuß neu entstehen, weil nach wie vor der frühere Versicherungsfall Grundlage der Rente bleibe. Das Sozialgericht (SG) München hat die Beklagte zur Gewährung des Kinderzuschusses verurteilt (Urteil vom 19. September 1968). Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 14. Januar 1970).
Das LSG hat sinngemäß ausgeführt, das Urenkelkind sei ein Pflegekind der Klägerin im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG). Die Vollendung des 65. Lebensjahres stelle einen Versicherungsfall dar und zwar auch dann, wenn die nach Art. 2 §§ 32 bis 36 ArVNG umgestellte Rente in der bisherigen Höhe als Altersruhegeld weiter gezahlt werde. Bei Altrenten sei das Versicherungsverhältnis mit dem Eintritt des ersten Versicherungsfalles nicht abgeschlossen. Der Gesetzgeber habe der Vollendung des 65. Lebensjahres bei den umgestellten Renten durch Art. 2 § 38 Abs. 3 ArVNG versicherungsrechtlich noch Bedeutung beigemessen. So könne der Bezieher einer umgestellten Rente entgegen § 1236 RVO aF noch Beiträge für den Versicherungsfall des Alters entrichten, die dann in die Neuberechnung der Rente einbezogen würden (Art. 2 § 38 Abs. 3 Satz 4 ArVNG). Daß die große Wartezeit bei Erhöhung der Rente auf fünfzehn Dreizehntel nicht erfüllt zu sein brauche, es sich also um kein echtes Altersruhegeld handele, berechtige nicht zu dem Schluß, daß die Vollendung des 65. Lebensjahres bei den umgestellten Renten kein neuer Versicherungsfall sei.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt eine Verletzung des § 1262 Abs. 2 Nr. 7 RVO und des Art. 2 § 38 Abs. 3 ArVNG. Sie hält die Auslegung dieser Vorschriften in dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 5. August 1970 - 4 RJ 279/68 (SozR Nr. 22 zu § 1262 RVO) für nicht richtig: Der Eintritt eines Versicherungsfalles (Invalidität, Alter) während der Geltung des alten Rechts habe das Versicherungsverhältnis mit der Folge abgeschlossen, daß weitere Beiträge nicht mehr entrichtet werden konnten. Die Stufenfolge der Versicherungsfälle nach neuem Recht (Berufsunfähigkeit, Erwerbsunfähigkeit, Alter) gelte nur für Versicherungsfälle seit 1.Januar 1957. Bei den Renten nach Versicherungsfällen vor dem 1. Januar 1957 seien nicht die Versicherungsfälle des neuen Rechts eingeführt, sondern nur die nach altem Recht berechneten Renten den nach der neuen Rentenformel berechneten Renten angeglichen worden (Pauschalumstellung mit dem Faktor 1,3 als Mittelwert zwischen den neuen Werten von 1 und 1,5 v.H. sowie Erhöhung entsprechend dem Wert 1,5 bei Vollendung des 65. Lebensjahres). Die Vollendung des 65. Lebensjahres sei bei Altrentnern nur ein Erhöhungstatbestand. Sie sei ebensowenig ein Versicherungsfall wie die Erhöhung der Invalidenrente durch die Umstellung zum 1. Januar 1957. Auch Art. 2 § 38 Abs. 1 und 2 ArVNG, wonach die umgestellten Renten als Renten wegen Erwerbsunfähigkeit oder als Altersruhegelder gelten, bedeute nicht, daß zum 1. Januar 1957 ein Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit oder des Alters eingetreten sei.
Aus § 1 Abs. 2 der Rentenanpassungsgesetze (RAG) ergebe sich ebenfalls, daß der Erhöhungstatbestand des Art. 2 § 38 Abs. 3 Satz 1 ArVNG keinen Versicherungsfall darstelle. So bestimme insbesondere § 1 Abs. 2 des 10. RAG, daß die nach Art. 2 § 38 Abs. 3 Satz 1 und 2 ArVNG im Jahre 1967 erhöhten Renten zu den in § 1 Abs. 1 des 10. RAG genannten Renten gehören, die auf Versicherungsfällen aus dem Jahre 1966 und früher beruhen.
Wäre die Vollendung des 65. Lebensjahres auch bei Erhöhung der Rente auf fünfzehn Dreizehntel ein Versicherungsfall, dann wären diese Rentner gegenüber den Rentnern neuen Rechts im Vorteil, wenn die Wartezeit von 180 Kalendermonaten nicht erfüllt sei; denn in diesen Fällen könne ein Altersruhegeld nach der neuen Rentenformel nicht gewährt werden und die Empfänger von Berufsunfähigkeits- oder Erwerbsunfähigkeitsrenten, die die große Wartezeit nicht erfüllt haben, hätten keinen Anspruch auf den Kinderzuschuß, wenn das Pflegekindschaftsverhältnis nach Eintritt der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit, aber vor Vollendung des 65. Lebensjahres begründet werde.
Daß keine Stufenfolge von Versicherungsfällen vorliege, ergebe sich auch daraus, daß die während des Bezuges der fiktiven Erwerbsunfähigkeitsrente (Art. 2 § 38 Abs. 2 ArVNG) entrichteten Beiträge bei der Erhöhung auf fünfzehn Dreizehntel nicht berücksichtigt werden könnten, es sei denn, es seien mehr als 12 Monatsbeiträge entrichtet und die Rente werde nach neuem Recht berechnet.
Die Klägerin ist nicht vertreten.
II
Die Revision ist nicht begründet. Die Ausführungen der Beklagten zwingen nicht, von der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG (SozR Nr. 22 zu § 1262 RVO) abzuweichen. Die Vollendung des 65. Lebensjahres bei Empfängern umgestellter Altrenten steht rechtlich dem Eintritt des Versicherungsfalles des Alters nach § 1248 RVO für die Anwendung des § 1262 Abs. 2 RVO gleich.
Der 4. Senat hat entschieden, daß bei Erhöhung einer umgestellten Versichertenrente auf fünfzehn Dreizehntel nach Art. 2 § 38 Abs. 3 Satz 1 ArVNG ein Anspruch auf Kinderzuschuß auch dann entsteht, wenn das Pflegekindschaftsverhältnis erst nach dem Eintritt der Invalidität, aber vor Vollendung des 65. Lebensjahres begründet worden ist. Er hat es wesentlich auf den Zweck der Einschränkung in § 1262 Abs. 2 Nr. 7 RVO abgestellt; sie soll verhindern, daß ein Versicherter ein Pflegekind annimmt, um dadurch seine laufende Rente zu erhöhen. Der Zweck, Manipulationen zu verhindern, kommt aber beim Versicherungsfall des Alters nicht voll zur Wirkung, weil dieser Versicherungsfall voraussehbar ist und deshalb dem Versicherten oder Empfänger einer Berufsunfähigkeits- oder Erwerbsunfähigkeitsrente eine entsprechende Planung erlaubt. Gerade in der Voraussehbarkeit und Möglichkeit einer Planung besteht kein Unterschied zwischen Rentnern unter 65 Jahren, die eine Rente nach neuem Recht wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit beziehen, und solchen, die eine umgestellte Altrente erhalten. Wegen dieser Gleichartigkeit der Sachlage bei § 1262 Abs. 2 Nr. 7 RVO ist die Lücke in Art. 2 ArVNG - es ist nicht geregelt, unter welchen Voraussetzungen Empfänger umgestellter Renten einen Kinderzuschuß für ein Pflegekind erhalten - dadurch zu schließen, daß bei § 1262 Abs. 2 Nr. 7 RVO die Vollendung des 65. Lebensjahres mit Erhöhung der Rente auf fünfzehn Dreizehntel einem Versicherungsfall des Alters (§ 1248 RVO) gleichgestellt wird. Dabei kann offen bleiben, ob in dem Fall des Art. 2 § 38 Abs. 3 Satz 1 ArVNG bei Vollendung des 65. Lebensjahres ein Versicherungsfall des Alters eintritt.
In der Rentenversicherung werden als Versicherungsfälle die Ereignisse im Leben des Versicherten bezeichnet, gegen deren Nachteile er oder seine Hinterbliebenen geschützt werden sollen (BSG 20, 48, 50; 22, 278; 29, 236, 240 f).
Auch in der Erhöhung der Rente auf fünfzehn Dreizehntel liegt ein versicherungsrechtlicher Schutz, der bei Vollendung des 65. Lebensjahres eintritt. Dem steht nicht entgegen, daß rechnerisch durch diese Erhöhung die Rente den Umstellungsrenten der vor dem 1. Januar 1892 geborenen Empfänger einer Invalidenrente alten Rechts nur angeglichen wird. Es treten vielmehr weitere rechtliche Änderungen ein. Die so erhöhte Rente gilt als Altersruhegeld im Sinne des § 1254 RVO. Daß sie nur als solche "gilt", ist verständlich, weil die Voraussetzung eines Altersruhegeldes neuen Rechts - die große Wartezeit - nicht erfüllt sein muß und weil die auf fünfzehn Dreizehntel erhöhte Rente nach anderen Maßstäben errechnet ist als die Rente neuen Rechts. Die Erhöhung auf fünfzehn Dreizehntel wegen Vollendung des 65. Lebensjahres - auch wenn der Zahlbetrag aus rechnerischen und Besitzschutzgründen gleich bleibt - ändert den Charakter der Rente; diese gilt nicht mehr als Rente wegen Erwerbsunfähigkeit mit der Folge der Beitragspflicht bei Beschäftigungen, sondern als Altersruhegeld, das Versicherungsfreiheit begründet. Auch aus diesen Gründen - nicht nur wegen der gleichen Lage bei Annahme eines Pflegekindes vor Vollendung des 65. Lebensjahres - läßt sich das versicherungsrechtlich bedeutsame Ereignis der Vollendung des 65. Lebensjahres bei Empfängern umgestellter Renten mit dem Versicherungsfall des Alters bei Empfängern von Berufsunfähigkeits- oder Erwerbsunfähigkeitsrente neuen Rechts gleichsetzen.
Die Einwendungen der Beklagten entkräften diese Gesichtspunkte nicht.
Es ist richtig, daß durch die Erhöhung der umgestellten Renten der nach dem 31. Dezember 1891 geborenen Rentner auf fünfzehn Dreizehntel ein Steigerungssatz von 1,5 v.H. berücksichtigt wird wie bei den vor dem 1. Januar 1892 geborenen Rentnern, bei denen dieser Satz schon bei der Umstellung angewendet wurde und deren Renten als Altersruhegeld gelten. Dies ändert aber nichts daran, daß bei den nach dem 31. Dezember 1891 geborenen Rentnern seit Inkrafttreten des neuen Rechts das Versicherungsleben noch nicht abgeschlossen ist. Sie können vielmehr vom 1. Januar 1957 bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres noch Versicherte nach neuem Recht sein, weil der Bezug der umgestellten, als Erwerbsunfähigkeitsrente geltenden Rente sie nicht versicherungsfrei nach neuem Recht macht (§ 1229 Abs. 1 Nr. 1 RVO). Diese Rechtslage besteht für alle nach dem 31. Dezember 1891 geborenen Empfänger einer umgestellten Rente gleichgültig, ob sie im Einzelfall eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen haben oder nicht. Die in die Zeit der Geltung des neuen Rechts fallende Vollendung des 65. Lebensjahres kann somit für die nach dem 31. Dezember 1891 geborenen Altrentner versicherungsrechtliche Auswirkungen haben, die erst das neue Recht geschaffen hat.
Es ist richtig, daß die Rente von Empfängern einer Berufsunfähigkeits- oder Erwerbsunfähigkeitsrente neuen Rechts, die bei Vollendung des 65. Lebensjahres die große Wartezeit nicht erfüllt haben, zu diesem Zeitpunkt nicht in ein Altersruhegeld umgewandelt werden kann. Doch kann nach neuem Recht ein solcher Rentner weiterhin versicherungspflichtig beschäftigt sein - mangels Bezugs von Altersruhegeld ist er nicht versicherungsfrei - oder freiwillige Beiträge entrichten (§ 1233 Abs. 1 Satz 2 RVO), um das Altersruhegeld zu einem späteren Zeitpunkt zu erhalten (§ 1248 Abs. 7 RVO). Damit besteht in Bezug auf die Möglichkeit, einen Kinderzuschuß nach Vollendung des 65. Lebensjahres zu erlangen, nicht eine unüberwindbare unterschiedliche Behandlung der Empfänger von Renten wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit neuen Rechts und der Empfänger umgestellter Renten.
Die RAGe sprechen nicht gegen die vorgenommene Auslegung. Die Vorschrift des § 1 Abs. 2 der RAGe, wonach die nach Art. 2 § 38 Abs. 3 Satz 1 ArVNG erhöhten Renten zu den Renten gehören, die auf Versicherungsfällen des Jahres 1957 (im 1. RAG) oder früher beruhen, wurde in die RAGe aufgenommen, "um Zweifel auszuschließen" (Zweng, Das Erste Rentenanpassungsgesetz, BABl 1959, 18, 21, linke Spalte:
"Auch diesen Renten (Bemerkung: Vollendung des 65. Lebensjahres im Jahre 1958) liegt die allgemeine Bemessungsgrundlage 1957 zugrunde. Wohl sind es auch Renten, die auf einem Versicherungsfall des Jahres 1957 oder früher beruhen, so daß an sich die Voraussetzung des § 1 Abs. 1 erfüllt ist. Sähe man allerdings die Vollendung des 65. Lebensjahres im Jahre 1958 als Versicherungsfall an, so würde dies zu einem nicht gewollten Ausschluß dieser Renten von der Anpassung führen").
Nach diesen Ausführungen bleibt offen, ob die Vollendung des 65. Lebensjahres bei den auf fünfzehn Dreizehntel erhöhten Renten als "Versicherungsfall" angesehen werden sollte. Die Vorschrift will nichts weiter als klar besagen, daß auch die erhöhten Renten angepaßt werden.
Die Revision ist somit unbegründet und zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen