Orientierungssatz
Nichtzulassung der Berufung - Bindung an Entscheidung über Berufungszulassung - willkürliche Nichtzulassung der Berufung - Rückwirkung eines Zugunstenbescheides - Schrumpfung des Ermessens auf Null.
Normenkette
SGG § 150 Fassung: 1974-07-30, § 160 Abs 3 Fassung: 1974-07-30, § 161 Abs 2 S 2
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 03.02.1981; Aktenzeichen L 4 V 895/80) |
SG Gießen (Entscheidung vom 24.06.1980; Aktenzeichen S 8 V 110/79) |
Tatbestand
Der im Jahre 1911 geborene Kläger hat 1943 durch Granatsplitterverletzung beide Hoden fast vollständig verloren. Durch Bescheid der Landesversicherungsanstalt bezog er deshalb nach dem Leistungsgesetz für Körperbeschädigte (KBLG) Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH. Dieser Mde-Grad wurde auch in den Umanerkennungsbescheid vom 22. August 1951 nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ohne Nachuntersuchung übernommen.
Der Beklagte beließ es bei dieser Bewertung der MdE, nachdem in einzelnen ärztlichen Gutachten eine Erhöhung vorgeschlagen worden war. Ein Verschlimmerungsantrag des Klägers vom 23. Januar 1975 blieb erfolglos (Bescheid vom 7. September 1976; Widerspruchsbescheid vom 27. April 1977); der Kläger hat die dagegen zunächst erhobene Klage zurückgenommen.
Im August 1977 beantragte der Kläger den Erlaß eines Zugunstenbescheides nach § 40 des Verwaltungsverfahrensgesetzes der Kriegsopferversorgung (KOVVfG). Nunmehr gewährte der Beklagte dem Kläger durch Bescheide vom 14. April 1978/8. Mai 1978 ab 1. Januar 1973 Beschädigtenrente nach einer MdE um 50 vH. Er erklärte dazu, daß die MdE schon im Zeitpunkt der ersten Feststellung im Jahre 1951 mit 50 vH zu bewerten gewesen wäre. Der Widerspruch, mit dem der Kläger die erhöhte Rente schon von August 1951 an begehrte, war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 20. April 1979).
Vor dem Sozialgericht (SG) legte der Beklagte dem Zugunstenbescheid eine Rückwirkung bis zum 1. Januar 1969 bei. Der Kläger nahm dieses anerkenntnis an. Das SG verurteilte den Beklagten, dem Kläger Versorgungsbezüge nach einer MdE um 50 vH vom 1. Oktober 1950 bis 31. Dezember 1968 ebenfalls zu zahlen; die Berufung ließ es nicht zu.
Der Beklagte legte dieses Rechtsmittel mit folgender Begründung ein: Die Berufung sei zulässig, weil das Urteil des SG auf einem Verstoß gegen § 54 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beruhe. Der angefochtene Zugunstenbescheid vom 14. April 1978 sei ein Ermessensbescheid; das SG habe daher nicht zur Leistung von einem bestimmten Zeitpunkt an verurteilen dürfen. Darüberhinaus sei die Berufung offensichtlich gesetzwidrig nicht zugelassen worden.
Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt: Die nach § 148 Nr 2 SGG an sich ausgeschlossene Berufung sei nach § 150 Nr 2 SGG statthaft. Zwar liege der vom Beklagten gerügte Verfahrensmangel eines Verstoßes gegen § 54 Abs 2 SGG nicht vor. Für die Frage, ob ein Verstoß gegen zwingende Verfahrensnormen bestehe, sei allein der Rechtsstandpunkt des entscheidenden Gerichts und nicht der des Rechtsmittelgerichts maßgebend. Ein Verfahrensmangel sei aber darin zu sehen, daß das SG aus unsachgemäßen Gründen die Berufung nicht zugelassen habe. Die unrichtige Entscheidung über die Nichtzulassung der Berufung sei zwar in der Regel kein Verfahrensmangel; hiervon sei aber eine Ausnahme dann zu nachen, wenn das Rechtsmittel aus Willkür nicht zugelassen werde. Diese liege hier vor, weil das SG den Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt habe, um eine Entscheidung des Berufungsgerichts über die Rückwirkung des Zugunstenbescheides zu verhindern. Das SG habe die Zulassung der Berufung nicht ablehnen dürfen, weil es meinte, die Regelung des § 150 Nr 1 Halbsatz 2 SGG sei nicht praktikabel. Das SG sei eindringlich darauf hingewiesen worden, daß die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe.
Das LSG hat die Berufung ferner als begründet angesehen. Die Verwaltung habe die Rückwirkung der begünstigenden Regelung ermessensfehlerfrei auf acht Jahre beschränken dürfen. Ein Fall, in dem die eingeschränkte Rückwirkung des Bescheides eine dem Gerechtigkeitsempfinden gröblich widersprechende Härte sei, liege nicht vor.
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und die Verletzung des § 150 SGG gerügt. Nach seiner Auffassung ist die Nichtzulassung der Berufung weder sachfremd noch willkürlich gewesen. Konkrete Hinweise für eine Abweichung von einer Entscheidung des LSG oder anderer Gerichtsinstanzen iS des § 150 Nr 1 SGG hätte auch das LSG nicht angegeben.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts aufzuheben und die
Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen
als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
als unbegründet zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 SGG einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat Erfolg, weil das LSG die Berufung des Beklagten zu Unrecht als zulässig angesehen hat. Bei einer zugelassenen Revision hat das Revisionsgericht vom Amts wegen zu prüfen, ob die Voraussetzungen vorliegen, von denen die Wirksamkeit des Verfahrens als Ganzes abhängt. Hierzu gehört auch die Frage, ob die Berufung zulässig gewesen ist (BSGE 2, 225; SozR 1500 § 150 Nr 18 Seite 34 mwN). Das LSG mußte bei dieser Prüfung zu dem Ergebnis kommen, daß die Berufung des Beklagten als unzulässig zu verwerfen war.
Der Beklagte wandte sich mit der Berufung gegen seine Verurteilung, dem Kläger erhöhte Versorgungsbezüge für die Zeit vom 1. Oktober 1950 bis zum 31. Dezember 1968 zu gewähren. Es ging also um Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume. Die Berufung war daher nach § 148 Nr 2 SGG ausgeschlossen. Die Beteiligten streiten darum, ob die Berufung ausnahmsweise nach § 150 SGG zulässig gewesen ist.
Nach § 150 Nr 1 SGG ist die Berufung ungeachtet der §§ 144 bis 149 SGG zulässig, wenn das SG sie im Urteil zugelassen hat. Das hat das SG nicht getan; vielmehr hat es durch einen besonders in die Urteilsformel aufgenommenen Satz die Berufung ausdrücklich nicht zugelassen. Nach der Neufassung des SGG durch das Gesetz vom 30. Juli 1974 - BGBl I 1625 - ist ein Fall der Bindung des Rechtsmittelgerichts durch eine Nebenentscheidung des Vordergerichts über die Frage der Rechtsmittelzulassung in § 160 Abs 3 und § 161 Abs 2 Satz 2 SGG geregelt. Danach ist - in Verbindung mit dem Rechtsmittel der Revision - das Bundessozialgericht (BSG) an die Zulassung der Revision durch ein SG oder ein LSG gebunden. Die Entscheidungen des BSG, in denen es sich ausnahmsweise an eine Zulassung der Revision durch das LSG nicht gebunden gefühlt hat (vgl BSGE 1, 104; 10, 240, 241; SozR 1500 § 162 Nr 7), sind durch die Rechtsentwicklung überholt (vgl SozR 1500 § 160 Nr 21).
Nun geht es hier nicht um die Frage der Bindung an die Zulassung, sondern umgekehrt um die Frage der Bindung an die Nichtzulassung der Berufung durch das SG. Das BSG hat dazu (vgl SozR Nr 38, 39, 40 zu § 150 SGG) ausgesprochen, daß das LSG nicht in der Sache entscheiden darf, wenn das SG die Berufung nicht zugelassen hat, allerdings hat es für den Fall, daß das SG die Berufung "aus Willkür" nicht zugelassen haben sollte (vgl SozR 19 zu Art 3 Grundgesetz -GG-; SozR Nr 175 zu § 162 SGG; SozR 1500 § 150 Nrn 1, 2), die Entscheidung offengelassen.
Der erkennende Senat braucht zu der aufgeworfenen Frage des Ausschlusses der Berufung aus "Willkür" ebenfalls nicht Stellung nehmen, weil das SG im vorliegenden Fall die Berufung nicht "willkürlich" nicht zugelassen hat. Es hat dargelegt, warum § 150 Nr 1 SGG im vorliegenden Fall die Zulassung der Berufung nicht vorschreibt. Es hat zunächst begründet, warum die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat, so daß nach seiner Ansicht keine Berufungszulassung ausgesprochen zu werden brauchte. Zwar meint das LSG, das SG sei durch Vorlage eines Berufungsurteils eindringlich darauf hingewiesen worden, daß die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe; nähere Ausführungen hat das LSG dazu nicht gemacht. Aus der Vorlage eines landessozialgerichtlichen Urteils, das indessen eine Divergenz nicht ergab, konnte noch nicht auf die Grundsätzlichkeit der entschiedenen Rechtsfrage geschlossen werden. Das LSG hat auch nicht dargelegt, wieso allein daraus, daß das SG über die von dem Beklagten eingeräumte Rückwirkung von acht Jahren hinausging, sich die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ergeben sollte. Der Hinweis auf Nr 8 der Verwaltungsvorschriften zu § 40 KOVVfG reichte dazu ebenfalls nicht aus. Im übrigen erscheint es sehr fraglich, ob die hier entschiedene Rechtssache noch von grundsätzlicher Bedeutung war. Nachdem über die Rückwirkung einer Zugunstenregelung auch über vier Jahre hinaus der Senat bereits eingehende Leitlinien in dem Urteil vom 4. Februar 1976 (SozR 3900 § 40 Nr 5) aufgestellt hatte, erschien diese Frage nicht mehr klärungsbedürftig (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17). Der Senat hat seine Auffassung zur Rückwirkung eines Zugunstenbescheides in dem Urteil vom 8. Juli 1980 - 9 RV 24/79 - wiederholt und dabei ausgeführt, besondere Umstände könnten dazu führen, daß für ein abwägendes Ermessen, von wann an rückwirkende Leistungen zu gewähren sind, kein Raum mehr ist, vielmehr die der materiellen Rechtslage entgegenstehende frühere Entscheidung über den Zeitraum von vier Jahren hinaus zurückgenommen werden muß.
Die Ausführungen, mit denen das SG die geltende Regelung des SGG über die Berufungszulassung wegen einer möglichen Abweichung kritisiert (vgl dazu auch Peters/Sautter/Wolff Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, § 150 Anm 1 S III/59), berühren zwar die Bindung des Richters an das Gesetz, liegen aber neben der Sache, da eine Divergenz zu einem BSG- oder LSG-Urteil nicht vorliegt. Das LSG konnte somit seiner Ansicht von einer Willkürentscheidung des SG nicht einmal eine eindeutige Unrichtigkeit der von diesem vertretenen Meinung zugrunde legen. Es kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, daß diese Entscheidung schlechthin unhaltbar und unter keinen denkbaren Umständen verständlich, also willkürlich (vgl BVerfG Beschl 6.10.1981 - 2 BvR 1290/80 in DRiZ 1982, 32) ist.
Auch aus § 150 Nr 2 SGG kann die Zulässigkeit der Berufung nicht hergeleitet werden. Danach ist die Berufung ungeachtet der §§ 144 bis 149 SGG zulässig, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und vorliegt. Dabei ist das BSG nicht an die Rechtsansicht des LSG gebunden, aufgrund deren das LSG einen Fehler im Verfahren des SG gesehen hat; entscheidend ist lediglich, daß ein solcher Fehler tatsächlich vorliegt und gerügt worden ist (vgl SozR 1500 § 150 Nr 18).
Das LSG sieht mit Recht keinen Verfahrensfehler des SG darin, daß es dem Beklagten zur Gewährung der erhöhten Versorgungsbezüge von einem bestimmten Zeitpunkt ab verurteilt hat, ohne ihm ein Ermessen darüber zuzubilligen, wie weit er die Rückwirkung erstrecken will. Die erneuten Angriffe des Beklagten in der Revisionserwiderung geben dem erkennenden Senat keinen Anlaß, eine andere Entscheidung zu fällen (vgl BSG-Urteil 8. Juli 1980 - 9 RV 24/79).
Nach § 40 KOVVfG kann die Verwaltungsbehörde zugunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen. Diese Vorschrift ist im vorliegenden Fall noch anwendbar, weil § 44 des Verwaltungsverfahrens des Sozialgesetzbuches (SGB 10) nach Art II § 40 Abs 2 SGB 10 noch nicht angewandt werden kann. Hier ist nach dem 31. Dezember 1980 noch kein Verwaltungsakt aufgehoben worden. Auch das in der mündlichen Verhandlung vor dem SG abgegebene Anerkenntnis liegt vor diesem Zeitpunkt, so daß nicht untersucht zu werden braucht, ob es als "Verwaltungsakt" im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist.
Zwar handelt es sich bei der Frage, wie weit einem Zugunstenbescheid Rückwirkung beizulegen ist, um eine Ermessensentscheidung (vgl BSGE 19, 12; 45, 1). Das SG hat auch dem Beklagten keinen Freiraum zur Entschließung belassen, sondern entschieden, daß dem Kläger erhöhte Versorgungsbezüge von einem genau bestimmten Tag an zu gewähren seien. Hierzu war es jedoch - wie das LSG zutreffend erkannt hat - von seiner Rechtsauffassung her berechtigt. Das SG hielt sich insoweit an die Rechtsprechung des BSG (vgl BSGE 2, 142, 149; 7, 46, 49 = SozR Nr 32 zu § 54 SGG; BSGE 9, 232, 239; 30, 144, 150 = SozR Nr 1 zu § 185 Reichsversicherungsordnung -RVO ; SozR 1200 § 44 Nr 1 Seite 5 aE). Danach kann ein Versicherungs- oder Versorgungsträger verurteilt werden, von einem bestimmten Zeitpunkt an Leistungen zu gewähren, wenn das Ermessen des Verwaltungsträgers "auf Null geschrumpft" ist, jede andere Entscheidung daher notwendig einen Ermessensmißbrauch darstellt.
Das LSG hätte somit nicht in der Sache selbst entscheiden dürfen, sondern hätte die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG verwerfen müssen. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des LSG ist daher begründet und muß zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur Verwerfung der Berufung führen, § 170 Abs 2 Satz 1 SGG.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen