Leitsatz (redaktionell)
Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt ist nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts in der Regel für Vergangenheit und Zukunft rücknehmbar, wenn die Ursache für das Zustandekommen des Verwaltungsaktes in den Verantwortungsbereich des Begünstigten fällt. Er kann aber für die Zukunft in der Regel auch dann zurückgenommen werden, wenn die Umstände, die ihn verursacht haben, in den Verantwortungsbereich der Behörde fallen.
Soweit und solange eine Berichtigung durch Verwaltungsakt möglich ist, fehlt das Rechtsschutzinteresse für eine Widerklage.
Normenkette
SGG § 77 Fassung: 1953-09-03; KOVVfG § 41 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 18. März 1959 wird aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 23. August 1957 wird, soweit es die Widerklage betrifft, zurückgewiesen.
Zur Entscheidung über die Klage wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der 1908 geborene Kläger leistete 1944 militärischen Dienst. Während der Ausbildung nahm er an längeren Märschen teil. Hierbei kam es zu Anschwellungen der Beine; die Beschwerden führten im Dezember 1944 zu seiner Entlassung wegen Dienstunfähigkeit. Frühestens vier bis sechs Wochen später erlitt er eine linksseitige Lähmung.
1948 beantragte der Kläger Versorgung wegen der Lähmung, die er auf Überanstrengung der Beine während des militärischen Dienstes zurückführte. Auf Grund einer versorgungsärztlichen Untersuchung und eines Befundberichtes des Prof. Dr. v. B des Dr. Sch vom Allgemeinen Städtischen Krankenhaus Nürnberg sah Dr. St wegen glaubhafter körperlicher Überanstrengung im Wehrdienst das Leiden als Wehrdienstfolge an und bewertete die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 70 v. H.. Die Versorgungsbehörde stellte mit Bescheid vom 9. September 1948 "angedeutete Halbseitenlähmung mit akuter trophoneurotischer Venenentzündung des linken Beines und 16-facher Unterbindung der oberflächlichen Hautvene, Krampfadern mit Geschwürsbildung am rechten Unterschenkel, hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 des Bayerischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetzes (BKBLG)" als Schädigungsfolgen fest und gewährte dem Kläger Rente nach einer MdE um 70 v. H.. Eine ärztliche Nachuntersuchung vom 18. Oktober 1950 durch den Nervenfacharzt Dr. D und eine klinische Begutachtung in der neurologischen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses Barmbek vom 20. Februar 1951 durch Dr. S und Dr. G führten zu dem Ergebnis, ein Zusammenhang des anerkannten Leidens mit dem militärischen Dienst sei nicht wahrscheinlich. Mit Benachrichtigung vom 15. Juni 1951 teilte die Beklagte dem Kläger mit, daß ihm unter Vorbehalt späterer Bescheiderteilung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) Versorgungsgebührnisse wegen der bisher anerkannten Schädigungsfolgen und nach der bisher festgestellten MdE um 70 v. H. widerruflich zuerkannt und vorläufig gezahlt würden.
Die Versorgungsärzte Nervenfacharzt Dr. Sch und Chirurg Dr. G bezeichneten im Gutachten vom 26. Januar 1953 die Anerkennung als offensichtlich falsch und sahen auch eine durch den Wehrdienst etwa eingetretene Verschlimmerung des Anlageleidens als bei der Entlassung abgeheilt an. Mit Umanerkennungsbescheid vom 12. Februar 1954 übernahm die Beklagte Schädigungsfolgen und MdE aus dem Bescheid vom 9. September 1948 für die Zeit vom 1. Oktober 1950 bis zum 31. März 1954, hob jedoch mit Berichtigungsbescheid vom gleichen Tage den Anerkennungsbescheid vom 9. September 1948 als zweifellos unzutreffend auf und entzog dem Kläger die Rente ab 1. April 1954, weil das Krampfaderleiden als konstitutionell bedingtes Leiden bereits vor Eintritt in die Wehrmacht bestanden habe und eine durch den Wehrdienst etwa eingetretene Verschlimmerung bei der Entlassung abgeheilt gewesen sei. Der Widerspruch blieb erfolglos.
Vor dem Sozialgericht (SG) machte der Kläger geltend, der Berichtigungsbescheid vom 12. Februar 1954 habe nicht auf Nr. 26 der Sozialversicherungsanordnung (SVA) Nr. 11 gestützt werden dürfen, denn diese Vorschrift sei bereits am 31. Dezember 1952 außer Kraft getreten. Die Beklagte erhob im August 1955 Widerklage mit dem Antrag, hilfsweise festzustellen, daß ein Versorgungsanspruch nicht mehr bestehe. Das SG hob mit Urteil vom 23. August 1957 den Berichtigungsbescheid sowie den Widerspruchsbescheid auf, weil eine Rechtsgrundlage für die Berichtigung unanfechtbar gewordener Bescheide nach dem 31. Dezember 1952 und vor dem 1. April 1955, dem Inkrafttreten des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vom 2. Mai 1955 (VerwVG), nicht bestanden habe. Es wies die Widerklage als unzulässig ab, weil die Beklagte bei Erhebung der Widerklage den Bescheid nach § 41 VerwVG hätte berichtigen können. Mit der Berufung beantragte die Beklagte Klageabweisung und hilfsweise die mit der Widerklage erstrebte Feststellung. Während des Berufungsverfahrens erließ sie am 21. Oktober 1957 einen auf § 41 VerwVG gestützten weiteren Berichtigungsbescheid, durch den der Bescheid vom 9. September 1948 sowie der Umanerkennungsbescheid vom 12. Februar 1954 mit dem Hinweis aufgehoben wurden, der Kläger habe ab 30. November 1957 keinen Anspruch mehr auf Versorgungsbezüge nach dem BVG. Zu diesem Bescheid stellte der Kläger keinen Antrag. Das Landessozialgericht (LSG) holte ein Gutachten des Nervenfacharztes Prof. Dr. L ein. Darin wurde jede Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs der Leiden des Klägers mit dem Wehrdienst verneint. Die Anerkennung im Bescheid vom 9. September 1948 sei im Zeitpunkt seines Erlasses medizinisch unzweifelhaft unrichtig gewesen. Der in der mündlichen Verhandlung gehörte Dr. L kam zum gleichen Ergebnis. Das LSG hob mit Urteil vom 18. März 1959 das Urteil des SG auf, soweit es die Widerklage abgewiesen hatte, und stellte auf die Widerklage fest, vom 1. Oktober 1955 bestehe kein Versorgungsanspruch mehr. Im übrigen wies es die Berufung zurück und ließ die Revision zu. Mit Recht habe das SG die angefochtenen Bescheide aufgehoben, denn für eine Berichtigung habe es an einer Rechtsgrundlage gefehlt. Die Widerklage sei zulässig, denn es sei - gegen BSG 6, 97 - ein Rechtsschutzbedürfnis für eine solche Klage jedenfalls dann anzunehmen, wenn die Versorgungsverwaltung in der Zeit vom 1. Januar 1953 bis 31. März 1955 einen Berichtigungsbescheid bereits erlassen habe, um dessen Wirksamkeit noch gestritten werde. Die an die Stelle eines Berichtigungsbescheides tretende Widerklage erfordere wie ein Berichtigungsbescheid, daß der strittige Bewilligungsbescheid im Zeitpunkt seines Erlasses zweifelsfrei unrichtig gewesen sei; das treffe hier zu. Nach Auffassung aller seit 1950 gehörten Gutachter handle es sich bei dem Leiden des Klägers nicht um eine Trophoneurose, sondern um ein beidseitiges Krampfaderleiden an den Unterschenkeln, also um eine anlagebedingte Gewebsschwäche, die unabhängig von äußeren Einwirkungen zu Krampfadern und Geschwürsbildungen führe. Überbelastungen könnten allenfalls zu vorübergehenden und abgrenzbaren Verschlimmerungen führen, wie das auch beim Kläger der Fall gewesen sei. Diese im Wehrdienst aufgetretenen Geschwüre seien jedoch abgeheilt. Der jetzige Zustand des Leidens sei ohne Zweifel nicht Folge wehrdienstlicher Belastungen. Auch die Halbseitenlähmung könne nach übereinstimmender Auffassung der gehörten Nervenfachärzte nicht auf Einflüsse des Wehrdienstes zurückgeführt werden. Das 1948 ausgesprochene Anerkenntnis sei-auch nach der damals gültigen medizinischen Auffassung - zweifellos unrichtig gewesen und rechtfertige die Feststellung, daß ab 1. Oktober 1955, d. h. mit dem auf die Zustellung der Widerklage folgenden Monat (§ 60 Abs. 2 Satz 1 BVG), ein Versorgungsanspruch nicht mehr bestehe. Da die Widerklage zum Erfolg geführt habe, komme es auf den Berichtigungsbescheid vom 21. Oktober 1957 nicht mehr an. Seine Aufhebung habe der Kläger auch nicht begehrt.
Die Revision des Klägers rügt, das LSG habe rechtsirrig die Widerklage als zulässig angesehen und ein Rechtsschutzbedürfnis dafür bejaht. Den Berichtigungsbescheid vom 21. Oktober 1957 habe der Kläger im Berufungsverfahren bewußt nicht angegriffen. Der Kläger beantragt, in Abänderung des angefochtenen Urteils die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 23. August 1957 in vollem Umfange zurückzuweisen.
Die Revision der Beklagten rügt, das LSG habe die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 12. Februar 1954 nicht verneinen dürfen, denn nach § 84 Abs. 3 BVG habe Nr. 26 der SVA Nr. 11 bis zum Inkrafttreten des VerwVG fortgegolten. Mit der Widerklage sei die Beklagte dem Kläger nur entgegengetreten, weil er die Zulässigkeit des Berichtigungsbescheides vom 12. Februar 1954 bestritten habe. Aber selbst wenn man die Widerklage als unzulässig ansehe, habe doch der Berichtigungsbescheid vom 21. Oktober 1957 den Bescheid vom 9. September 1948 und den Umanerkennungsbescheid vom 12. Februar 1954 nach § 41 VerwVG rückwirkend aufgehoben. Eine Verurteilung der Beklagten zu Leistungen für die Zeit vom 1. April 1954 bis 30. September 1955 sei daher nicht gerechtfertigt. Die Beklagte beantragt, in Abänderung des angefochtenen Urteils festzustellen, daß ab 1. April 1954 ein Versorgungsanspruch des Klägers nicht mehr bestehe. Sie bittet, die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten als unzulässig zu verwerfen; hilfsweise , sie zurückzuweisen.
Die Beklagte begehre nicht mehr die Abweisung der Klage, sondern beschränke ihren Revisionsantrag auf die Widerklage. Da das LSG dem Widerklageantrag voll entsprochen habe, sei die Beklagte insoweit durch das angefochtene Urteil nicht beschwert. Wenn sie ihr Feststellungsbegehren dahin erweitere, daß dem Kläger schon ab 1. April 1954 kein Versorgungsanspruch mehr zustehe, so sei die darin liegende Klageänderung im Revisionsverfahren unzulässig. Die Revision der Beklagten sei auch unbegründet, weil der ursächliche Zusammenhang der streitigen Gesundheitsstörung mit Einflüssen des militärischen Dienstes medizinisch so zweifelhaft gewesen sei, daß die Beklagte mit dem Erlaß des Berichtigungsbescheides vier Jahre gewartet habe. Es falle in ihren Verantwortungsbereich, wenn sie sich zunächst die Auffassung der dem Kläger günstigen medizinischen Gutachten zu eigen gemacht habe. Bis zum 30. November 1957 müsse deshalb das Vertrauen des Klägers auf den Fortbestand der ihn begünstigenden Bescheide geschützt werden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die durch Zulassung statthaften Revisionen des Klägers und der Beklagten (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) sind form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie sind daher zulässig (§§ 164, 166 SGG). Die vom Kläger gegen die Zulässigkeit der Revision der Beklagten erhobenen Bedenken teilt der Senat nicht. Die Beklagte, die in erster Instanz dem Aufhebungsantrag des Klägers ihren Klageabweisungsantrag und hilfsweise den Antrag aus der Widerklage entgegensetzte, wiederholte diese Anträge im Berufungsverfahren. Haupt- und Hilfsantrag waren in beiden Instanzen darauf gerichtet, eine Rentenzahlung über den 1. April 1954 hinaus abzuwenden, entweder durch Abweisung der Anfechtungsklage oder durch die mit der Widerklage begehrte Feststellung. Dafür, daß mit der Widerklage nur künftige Ansprüche, d. h. nach der Erhebung der Widerklage entstandene, gemeint gewesen wären, fehlt es an jedem Anhalt. Da das LSG sich zur Klage der Auffassung des SG anschloß und der Widerklage erst ab 1. Oktober 1955 stattgab, hatte nur der Hilfsantrag der Beklagten - teilweise - Erfolg. Es kann der Beklagten daher nicht entgegengehalten werden, sie sei durch das Urteil des LSG nicht beschwert, wenn sie mit der Revision die Feststellung begehrt, bereits ab 1. April 1954 habe ein Versorgungsanspruch nicht mehr bestanden. Soweit die Beklagte damit das Ziel der Widerklage weiterverfolgt, liegt darin keine Klageerweiterung, die im Revisionsverfahren unzulässig wäre (BSG, SozR SGG § 168 Da 1 Nr. 2). Zur Klage hat die Beklagte zwar nicht ausdrücklich Abweisung begehrt. Sie hat aber in der Revisionsbegründung im einzelnen dargelegt, weshalb sie weiterhin den Berichtigungsbescheid vom 12. Februar 1954 für rechtmäßig, die Klage für unbegründet hält. Bei verständiger Würdigung dieses Vorbringens kann dem Antrag der Beklagten auf "Feststellung" daher keine Beschränkung auf die Widerklage entnommen werden; in ihm ist vielmehr auch das Begehren enthalten, die Klage abzuweisen und damit sinngemäß festzustellen, daß ab 1. April 1954, dem Zeitpunkt der Entziehung der Rente, kein Versorgungsanspruch des Klägers mehr besteht. Hierin kommt auch zum Ausdruck, daß der Berichtigungsbescheid vom 12. Februar 1954 den früheren, bindend gewordenen Bescheid vom 9. September 1948 zu Recht aufgehoben habe. Damit ist zugleich noch ausreichend substantiiert eine Verletzung des materiellen Rechts, zu dem auch die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts gehören, gerügt (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Sachlich ist die Revision der Beklagten zur Klage zum Teil begründet, die des Klägers im wesentlichen unbegründet.
Streitig ist die Rechtmäßigkeit des Berichtigungsbescheides vom 12. Februar 1954 in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid vom 14. September 1954 gefunden hat. Da mit diesem Bescheid dem Kläger die Rente erst vom 1. April 1954 an entzogen wurde und er den Berichtigungsbescheid vom 21. Oktober 1957 nicht angefochten hat, betrifft der Streit um die Rente nur die Zeit vom 1. April 1954 bis 30. November 1957. Das LSG hat angenommen, der Bescheid vom 12. Februar 1954 habe in Ziff. 26 der SVA Nr. 11 keine Rechtsgrundlage, weil diese Vorschrift am 31. Dezember 1952 außer Kraft getreten und ihre Geltung auch nicht durch § 84 Abs. 3 BVG verlängert worden sei. Diese Auffassung entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), von der abzugehen kein Anlaß besteht (BSG 8, 11; 10, 72 sowie die Urteile des erkennenden Senats vom 24. August 1960 - 9 RV 322/58 - und vom 31. Juli 1962 - 9 RV 810/59 -). Auch eine rückwirkende Anwendung des § 41 VerwVG auf den angefochtenen, vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes (1. April 1955) erlassenen Bescheid hat die Vorinstanz mit Recht abgelehnt (BSG 8, 11, 13 f).
Das LSG hat aber nicht geprüft, ob der Bescheid vom 12. Februar 1954 mangels einer besonderen gesetzlichen Vorschrift auf dem Gebiet der Kriegsopferversorgung nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts gerechtfertigt war. Einer Anwendung der Normen des allgemeinen Verwaltungsrechts stand die Bindungswirkung des unanfechtbar gewordenen Bescheides vom 9. September 1948 nicht entgegen, denn die Bindung gilt nur, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist (§ 77 SGG). Gesetz ist jede Rechtsnorm, Rechtsnormen in diesem Sinne sind auch anerkannte Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts (BSG 8, 11, 14). Sie lassen die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte zu, jedoch sind der Durchsetzung des öffentlichen Interesses an der Rücknahme von Verwaltungsakten Schranken gesetzt. Die Rücknahme ist rechtmäßig, wenn das nach dem Verfassungsgrundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes - GG -) bestehende öffentliche Interesse an der Beseitigung rechtswidriger Verwaltungsakte höher zu bewerten ist als das Interesse des Begünstigten am Schutz des Vertrauens in den Bestand behördlicher Verfügungen, das nach dem Verfassungsgrundsatz der Rechtssicherheit schutzwürdig ist (BSG 8, 11, 14; 10, 72, 74; 15, 81; Urteil vom 22. März 1962 - 8 RV 989/58 - = BVBl 62, 128 Nr. 36; BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 1960, DVBl 61, 380; Haueisen, BABl 62, 1015). Aus der Abwägung dieser beiden Grundsätze ergibt sich, daß ein rechtswidriger Verwaltungsakt in der Regel für Vergangenheit und Zukunft zurücknehmbar ist, wenn die Ursache für das Zustandekommen des Verwaltungsaktes in den Verantwortungsbereich des Begünstigten fällt (BSG 8, 14; 10, 72, 77), daß aber der Verwaltungsakt für die Zukunft in der Regel auch dann zurückgenommen werden kann, wenn die Umstände, die ihn verursacht haben, in den Verantwortungsbereich der Behörde fallen (BSG 15, 82; BVerwG 5, 312 und DVBl 61, 380).
Das LSG hat die Tatsache - eine Fehldiagnose der Ärzte - festgestellt, aus der sich ergibt, daß der Bescheid vom 9. September 1948 zur Zeit seines Erlasses nicht gerechtfertigt war. Diese Feststellung hat der Kläger nicht angegriffen; an sie ist der erkennende Senat gebunden (§ 163 SGG). Aus ihr ergibt sich das Recht der Beklagten, die Rente vom 1. April 1954 an, also für die Zukunft, zu entziehen nur dann, wenn bei der Abwägung der beiden vorgenannten Verfassungsgrundsätze das öffentliche Interesse an der Rücknahme überwiegt. Hierbei ist nicht nur von Bedeutung, ob die Ursache für die Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsaktes in den Verantwortungsbereich des Begünstigten oder der Behörde fällt; es ist auch in Betracht zu ziehen, welche Zeit seit dem Erlaß des begünstigenden Verwaltungsakts verstrichen ist und wie lange voraussichtlich auf Grund des Bewilligungsbescheides, falls er nicht zurückgenommen wird, Leistungen noch zu gewähren sind (BSG 15, 82). Das Vertrauensinteresse steht nicht dem Erfüllungsinteresse auf die Rentenleistung gleich; es wird bestimmt und begrenzt durch die Erwägung, inwieweit die Rechtsordnung die Rechtssicherheit, insbesondere das Vertrauen des Begünstigten auf die Bestandskraft des Verwaltungsakts schützen muß, auf die er sich "eingerichtet" hatte (vgl. Haueisen, DVBl 57, 506, 508), und welche Grenzen dem öffentlichen Interesse in einem solchen Falle gesetzt sind. Die Entziehung einer Rente für die Zukunft wird zwar regelmäßig von dem Betroffenen als Härte empfunden werden; das reicht aber noch nicht aus, das öffentliche Interesse geringer als das des Betroffenen zu bewerten. Wenn nämlich der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in der Regel die Entziehung einer Rente für die Zukunft rechtfertigt, so hat das öffentliche Interesse nur zurückzutreten, wenn im Einzelfalle besonders schwerwiegende Umstände vorliegen, die diese Entziehung als eine unbillige Härte erscheinen lassen. Daher kann auch das vorgerückte Alter des Betroffenen von Bedeutung sein, wenn die Einstellung der Zahlungen eine so einschneidende und dauernde Änderung der Lebensführung bewirkt, daß sie die Existenzgrundlage für die Zukunft erschüttert (vgl. auch BVerwG in DVBl 1961, 380, 382). Ferner gehören dazu Vermögensdispositionen, die im Vertrauen auf den Weiterbezug der Rente getroffen wurden und sich nicht mehr rückgängig machen lassen (BVerwG 13, 253). Dem Interesse des Begünstigten kann gegenüber dem öffentlichen Interesse die überwiegende Bedeutung jedenfalls dann beigemessen werden, wenn entweder ein unlöslicher Zusammenhang zwischen den in der Vergangenheit erbrachten Leistungen und den darauf beruhenden Dispositionen des Begünstigten besteht, die sich in die Zukunft erstrecken oder wenn die Entziehung der Leistung für ihn so einschneidend ist, daß sie ihm nicht mehr zugemutet werden kann. Ob eine solche Unzumutbarkeit vorliegt, ist im Einzelfall unter Abwägung aller für die weitere Lebensführung des Betroffenen bedeutsamen Umstande zu prüfen. Dabei können für die Beurteilung eines Berichtigungsbescheides grundsätzlich nur die tatsächlichen Verhältnisse in Betracht kommen, die zur Zeit seines Erlasses bestehen oder vorhersehbar sind. Das folgt nicht nur daraus, daß hier allein das Vertrauen des Begünstigten in die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns und in die Bestandskraft des Verwaltungsakts zu schützen ist, sondern auch daraus, daß der Berichtigungsbescheid als ein Verwaltungsakt ohne Dauerwirkung nach den Verhältnissen zu beurteilen ist, die im Zeitpunkt seines Erlasses bestanden haben (BSG 7, 9). Ist der Begünstigte zB bei Erlaß des Berichtigungsbescheides von einem schweren, derart fortgeschrittenen Leiden befallen, daß eine Lebenserwartung in nennenswertem Umfange nicht mehr besteht, so kann dieser Sachverhalt den Entzug der Rente für die Zukunft ausschließen, und zwar auch dann, wenn ein öffentliches Interesse daran bestehen mag, die Anerkennung der Schädigungsfolge zu beseitigen, um der Fiktion des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG vorzubeugen.
Das LSG hat die hierdurch erforderliche Abwägung des öffentlichen Interesses an der Rücknahme des Bescheides vom 9. September 1948 gegen das Interesse des Klägers an der Aufrechterhaltung dieses Bescheides für die Zeit vom 1. April 1954 bis zum 30. November 1957 nicht vorgenommen. Der Senat kann auf Grund der vom LSG festgestellten Tatsachen auch nicht selbst entscheiden; denn es können bisher nicht ermittelte Tatsachen für die Entscheidung erheblich sein und einer Entziehung der Rente für die Zeit vom 1. April 1954 an entgegenstehen. Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung über die Klage an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Dagegen ist hinsichtlich der Widerklage der Rechtsstreit zur Entscheidung reif. Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, weil für die Widerklage ein Rechtsschutzbedürfnis nicht bestanden hat. Die Beklagte war nach dem Inkrafttreten des VerwVG und somit im Zeitpunkt der Erhebung der Widerklage nicht gehindert, für den Fall der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 12. Februar 1954 einen neuen Bescheid nach § 41 VerwVG zu erlassen und damit den Bescheid vom 9. September 1948 frühestens mit Wirkung vom Inkrafttreten des VerwVG an aufzuheben (BSG in SozR VerwVG § 41 Ca 3 Nr. 9). Sie hat im Rahmen der durch das Gesetz gegebenen Möglichkeiten die Beseitigung der Rechtswirksamkeit des Bescheides vom 9. September 1948 ohne Inanspruchnahme der Gerichte durchsetzen müssen und keine Wahlmöglichkeit zwischen einem Berichtigungsbescheid und der Widerklage gehabt (BSG 6, 97, 98 f). Sie war auch dann auf den Erlaß eines Berichtigungsbescheides beschränkt, wenn sie - wie hier - bereits einen Berichtigungsbescheid erlassen hatte, über dessen Rechtmäßigkeit gestritten wurde; denn die Gerichte sind nicht berechtigt, in den Hoheitsbereich der Verwaltung einzugreifen, die zunächst selbst darüber zu entscheiden hat, ob sie einen (weiteren) Berichtigungsbescheid erlassen und damit eine neue Regelung treffen will, deren Rechtmäßigkeit dann durch die Gerichte nachzuprüfen ist (BSG in SozR SGG § 100 Da 2 Nr. 4). Außerdem ist die Widerklage nicht der "einfachere Weg" als der Erlaß eines Berichtigungsbescheides. Auch für die Zeit vom 1. April 1954 bis zum 31. März 1955 war die Widerklage unzulässig, denn auch während dieser Zeit war eine Berichtigung durch Verwaltungsakt möglich; außerdem ging das Ziel, das die Beklagte mit der Widerklage verfolgte, nicht über das Interesse hinaus, das sie mit ihrem Antrag auf Abweisung der Klage verfolgte. Auch aus diesem Grunde bestand daher kein Rechtsschutzinteresse für die Widerklage (vgl. Baumbach/Lauterbach, ZPO 26. Aufl. Anh 1 B zu § 253; BSG, Urteil vom 24. August 1960 - 9 RV 322/58 -). Auf die Revision des Klägers war daher die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Hamburg vom 23. August 1957, soweit es die Widerklage betrifft, zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen