Leitsatz (redaktionell)
1. Ist aus Anlaß des Übergangs einer aktiven (Lungen-) Tuberkulose, in eine inaktive die Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse herabgesetzt worden und dauert die Inaktivität der Tuberkulose längere Zeit - etwa 5 Jahre - ohne Rückfälle an, so kann die damit eingetretene klinische Heilung eine weitere wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des BVG § 62 darstellen.
2. Die Entscheidung der Frage, ob eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des BVG § 62 Abs 1 eingetreten ist, hängt nicht allein davon ab, ob sich die Einzelbefunde oder Äußerungsformen eines Leidens geändert haben; es kommt vielmehr entscheidend darauf an, ob der Leidenszustand im ganzen der gleiche geblieben ist.
Normenkette
BVG § 62 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. März 1960 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der 1891 geborene Ehemann der Klägerin bezog Versorgungsgebührnisse nach dem Reichsversorgungsgesetz (RVG), zuletzt wegen offener, cirrhotisch cavernöser Tuberkulose der rechten Lunge mit einigen kleinen harten Streuherdchen links nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v. H.. Wegen desselben Leidens erhielt er bei gleichbleibender MdE auch Rente nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27. Mit Umanerkennungsbescheid vom 4. September 1951 erkannte das Versorgungsamt (VersorgA) Lungentuberkulose als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) an und bewilligte ab 1. Oktober 1950 Rente nach einer MdE um 100 v. H.. Gegen diesen Bescheid erhob der Ehemann der Klägerin Einspruch, weil ihm keine Pflegezulage bewilligt worden war. Dr. B hielt bei einer Untersuchung im April 1952 die frühere aktive und rechtsseitig cavernöse Lungentuberkulose für seit einer Reihe von Jahren völlig ausgeheilt; die bisher angenommene MdE um 100 v. H. sei deshalb seit langem nicht mehr gerechtfertigt. Er bewertete die MdE wohlwollend mit 30 v. H.. Das VersorgA stellte die Versorgungsbezüge mit Bescheid vom 23. Mai 1952 gemäß § 62 Abs. 1 BVG neu fest und gewährte wegen rechtsseitiger prod. cirrhotischer und völlig inaktiver Lungenoberlappentuberkulose mit einzelnen cirrhotischen Streuherden in der linken Lunge und der Umgebung des linken Hilus ab 1. Juli 1952 nur noch Rente nach einer MdE um 30 v. H.. Der Einspruch gegen den Umanerkennungsbescheid und den Neufeststellungsbescheid wurde vom Beschwerdeausschuß zurückgewiesen. Diese Entscheidung blieb unangefochten.
Im September 1954 beantragte der Ehemann der Klägerin, seine Rente wegen wesentlicher Verschlimmerung seines Lungenleidens neu festzusetzen. Bei der versorgungsärztlichen Untersuchung im März 1955 durch den Facharzt für Lungenkrankheiten Dr. W konnte kein Anhalt für eine Verschlimmerung gefunden werden. Dr. W nahm an, der Prozeß sei auf Grund der weiteren Beobachtung über einen "Zeitraum von Jahren" als zur Zeit völlig ausgeheilt anzusehen.
Wenn wegen der Behutsamkeit, die die Versorgungsverwaltung grundsätzlich bei Tuberkuloseleiden anwende, eine MdE um 30 v. H. festgelegt worden sei, so erscheine nach weiteren Kontrolluntersuchungen jetzt nur noch eine MdE um 20 v. H. gerechtfertigt. Durch Bescheid vom 2. August 1955 wurde die bisher gewährte Rente ab 1. Oktober 1955 entzogen. Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg.
Während des Berufungsverfahrens verstarb der Ehemann der Klägerin. Das durch seinen Tod unterbrochene Verfahren wurde von der Klägerin als Rechtsnachfolgerin aufgenommen (§ 68 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - i.V.m. § 239 der Zivilprozeßordnung - ZPO -).
Das Landessozialgericht (LSG) wies mit Urteil vom 22. März 1960 die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 12. Oktober 1956 zurück. Der Rentenentziehungsbescheid vom 2. August 1955 sei nach § 62 BVG rechtmäßig, obwohl die von Dr. W festgestellte Abheilung der Lungentuberkulose gegenüber dem Untersuchungsbefund des Dr. B keine wesentliche Besserung darstelle. Die Gewährung der Rente nach einer MdE um 30 v. H. im Bescheid vom 23. Mai 1952 sei, wie das Gutachten des Dr. B ergebe, lediglich zur Schonung des Berechtigten und aus Wohlwollen erfolgt. Eine Schonungs- oder Übergangsrente habe schon das frühere Reichsversorgungsgericht (RVG) für zulässig angesehen. Es habe in solchen Fällen die Anwendung des dem § 62 BVG fast wörtlich entsprechenden § 57 RVG auch ohne den Nachweis einer Änderung im ärztlichen Befund zugelassen und die wesentliche Änderung der Verhältnisse in dem Ablauf der Übergangszeit erblickt, für welche die Schonungsrente zugebilligt worden sei. Dieser Rechtsprechung sei auch für den Geltungsbereich des BVG zu folgen, wenn die Übergangsrente ausdrücklich als solche festgesetzt werde und diese Festsetzung nach der Art der anerkannten Schädigungsfolge gerechtfertigt sei. Es entspreche einer Übung der Versorgungsverwaltung, bei Tbc-Erkrankungen die MdE stufenweise und in angemessenem Abstand zum Fortschreiten des Gesundungsprozesses herabzusetzen. Diese Übung vermeide eine bei Rückschlägen sonst notwendig werdende Rentenerhöhung. Ein solcher Verwaltungsakt halte sich im Rahmen des freien Ermessens der Versorgungsbehörde. Erforderlich sei nur, daß diese den sachlichen Grund der einstweiligen Weitergewährung der Rente erkennen lasse. Dies sei in der Entscheidung des Beschwerdeausschusses, die die rechtliche Begründung des Bescheides des VersorgA ergänzt habe, mit dem Hinweis geschehen, die weitere Anerkennung der 30 %igen Erwerbsminderung entspreche nur noch der Behutsamkeit, welche die Versorgungsverwaltung grundsätzlich der Tuberkulose gegenüber anwende. Der Entziehungsbescheid vom 2. August 1955 sei auch unter Wahrung der in § 62 BVG vorgesehenen 2jährigen Sperrfrist ergangen. Die Rentenentziehung sei daher aus rechtlichen und medizinischen Gründen gerechtfertigt. Das LSG ließ die Revision zu.
Mit der Revision beantragt die Klägerin, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG Osnabrück vom 12. Oktober 1956 sowie des Widerspruchsbescheides vom 2. November 1955 und in Abänderung des Bescheides vom 2. August 1955 den Beklagten zu verurteilen, wegen der als Schädigungsfolge anerkannten Lungentuberkulose über den 30. September 1955 hinaus Rente nach einer MdE um 30 v. H. zu zahlen; hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Niedersachsen zurückzuverweisen.
Die Revision rügt Verletzung des § 62 BVG. Sie ist der Auffassung, das LSG habe den Rentenentziehungsbescheid vom 2. August 1955 nicht unter Berufung auf die Rechtsprechung des früheren RVG zu § 57 RVG für rechtmäßig ansehen dürfen. Maßgebend für die durch den Bescheid vom 23. Mai 1952 gewährte Rente nach einer MdE um 30 v. H. sei das Gutachten des Dr. B gewesen, welches die Feststellung enthalte, die Lungentuberkulose sei seit einer Reihe von Jahren völlig ausgeheilt. Hiernach sei für die Weitergewährung einer sog. Schonungsrente, die das Gesetz nicht kenne, kein Raum gewesen. Zudem habe die Versorgungsverwaltung im Bescheid vom 23. Mai 1952 keinen sachlichen Grund für die Rentenweitergewährung erkennen lassen. Die Ausführungen in der Entscheidung des Beschwerdeausschusses seien insoweit rechtlich unerheblich.
Der Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Er hält das angefochtene Urteil des LSG für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und daher zulässig. Sachlich ist sie nicht begründet.
Der Rentenentziehungsbescheid vom 2. August 1955 ist rechtmäßig. Nach § 62 Abs. 1 BVG werden die Versorgungsbezüge neu festgestellt, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Zwar stimmt der von Dr. B im April 1952 erhobene Befund: rechtsseitige prod. cirrhotische und völlig inaktive Lungenoberlappentuberkulose mit einzelnen cirrhotischen Streuherden in der linken Lunge und der Umgebung des lk. Hilus, der für die Neufeststellung im Bescheid vom 23. Mai 1952 maßgebend war, mit dem von Dr. W im März 1955 ermittelten Untersuchungsbefund überein. Das schließt jedoch nicht aus, daß dennoch eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne von § 62 BVG vorliegt. Die Entscheidung der Frage, ob eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten ist, die für die Feststellung maßgebend gewesen sind, hängt nicht allein davon ab, ob sich die Einzelbefunde oder Äußerungsformen eines Leidens geändert haben; es kommt vielmehr entscheidend darauf an, ob der Leidenszustand im ganzen der gleiche geblieben ist (vgl. BSG 13, 230). Es ist deshalb stets auf den Gesamtzustand des Leidens abzustellen. Bei der Lungentuberkulose spielt der Zeitfaktor für die Beurteilung des Leidenszustandes eine wesentliche Rolle, wenn Aktivitätszeichen der Tuberkulose für längere Zeit ausbleiben. Wie der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 22. Mai 1962 (BSG 17, 63) näher dargelegt hat, erlaubt es der Charakter der Tuberkuloseerkrankung regelmäßig erst bei fünfjähriger Inaktivität, die klinische Heilung mit genügender Sicherheit festzustellen. Das rechtfertigt die unterschiedliche Beurteilung einer inaktiv gewordenen Lungentuberkulose, je nachdem, ob die Aktivitätszeichen erst seit kurzer Zeit oder bereits seit fünf Jahren fehlen, und begründet nach längerer Inaktivität auch die Annahme einer geringeren MdE (vgl. auch Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, Neuausgabe 1958 S. 82 zu d u. h). Die wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG gegenüber dem Stadium des Übergangs von Aktivität zur Inaktivität liegt hier in dem jahrelangen Inaktivbleiben einer vorher aktiven und ihrer Natur nach zu Rückfällen neigenden Krankheit. Ist deshalb aus Anlaß des Übergangs einer aktiven (Lungen-)Tbc in eine inaktive die MdE wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse herabgesetzt worden und dauert die Inaktivität der Tbc längere Zeit - etwa fünf Jahre - ohne Rückfälle an, so kann die damit eingetretene klinische Heilung eine weitere wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 BVG darstellen (BSG aaO).
Im vorliegenden Fall war die Lungentuberkulose des Ehemannes der Klägerin bei der Untersuchung durch Dr. B im April 1952 völlig inaktiv; der Gutachter nahm an, daß sie schon seit mehreren Jahren völlig ausgeheilt sei. Die 1952 festgestellte Inaktivität mußte die Versorgungsbehörde jedoch nicht zu der Annahme veranlassen, daß damals bereits eine endgültige klinische Heilung der Erkrankung vorlag. Denn es handelte sich hier um die erste versorgungsärztliche Feststellung der Inaktivität. Dr. B hat auch der inaktiven Lungentuberkulose noch eine MdE um 30 v. H. beigemessen. Zwar hat er diese Schätzung als wohlwollend bezeichnet, sie brachte aber zum Ausdruck, daß die inaktive Lungentuberkulose noch nicht für völlig bedeutungslos gehalten wurde. Andernfalls wäre auch für eine wohlwollende Bewertung mit einer MdE um 30 v. H. kein Raum gewesen. In den Bundesbehandlungsscheinen vom 18. April 1951 und 6. September 1951 sind überdies ärztliche Angaben enthalten, daß der Ehemann der Klägerin an allgemeiner Schwäche, Abgespanntheit, häufigen subfebrilen Temperaturen und Atemnot gelitten habe. Zwar hat der Gutachter Dr. B im Zusammenhang mit der privatärztlichen Beurteilung der Tbc von einem Gefälligkeitsattest gesprochen, weil sogar Pflegezulage befürwortet worden war. Die zumindest subjektiv empfundenen Beschwerden konnten jedoch 1952 noch gewisse Zweifel gerechtfertigt erscheinen lassen, ob die schon längere Zeit vorhandene Inaktivität der Tuberkulose jetzt schon die Gefahr eines Rückfalls mit genügender Sicherheit ausschloß. Erst das spätere ärztliche Gutachten des Dr. W aus dem Jahre 1955 weist darauf hin, daß die vom Kläger geklagten Beschwerden wie Atemnot, Husten und Auswurf in keinem Zusammenhang mit der Lungenerkrankung stehen. Sonach konnte 1952 davon ausgegangen werden, daß eine klinische Heilung der Lungentuberkulose noch nicht mit genügender Sicherheit feststehe. Eine solche konnte aber 1955 angenommen werden, nachdem die Inaktivität auch in den folgenden Jahren ohne Rückfallerscheinungen angehalten hatte; denn im Zeitpunkt der Untersuchung im März 1955 bzw. des Entziehungsbescheides vom 2. August 1955 hatte die Inaktivität der Lungentuberkulose längere Zeit - mindestens etwa fünf Jahre bestanden, so daß nunmehr keine Rückfälle mehr zu befürchten waren. Dieser Übergang von der Inaktivität zur klinischen Heilung der Lungentuberkulose, der als wesentliche Änderung im Gesamtzustand der Lungentuberkuloseerkrankung anzusehen ist, rechtfertigte die Entziehung der Rente nach § 62 Abs. 1 BVG. Daher kam es nicht mehr darauf an, ob der Beklagte 1952 eine Schonungs- oder Übergangsrente gewährt hat bzw. nach den Bestimmungen des BVG eine solche gewähren konnte. Die Revision der Klägerin war nach alledem als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen