Entscheidungsstichwort (Thema)
Entziehung des Kindergeldes und Bescheiderteilung
Orientierungssatz
1. Bei einer Änderung der Verhältnisse - hier Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses, das für den Kindergeldbezug eines türkischen Gastarbeiters für seine in der Türkei lebenden Kinder Anspruchsvoraussetzung ist - ist das Kindergeld nach § 22 BKGG aF von Amts wegen zu entziehen. Wird das Kindergeld entzogen, ist grundsätzlich ein förmlicher Bescheid zu erteilen (§ 25 Abs 1 BKGG). Geschieht das nicht, hat der Berechtigte Anspruch auf Weiterzahlung der gewährten Leistung.
2. Nur in den in § 25 Abs 2 BKGG ausdrücklich genannten Fällen kann von der Erteilung eines förmlichen Bescheides abgesehen werden (vgl BSG 1979-01-25 8b RKg 4/78 = SozR 5870 § 25 Nr 1).
3. Auch eine moderne Massenverwaltung, die sich der elektronischen Datenverarbeitung bedient, erfordert keine andere Handhabung des Gesetzes, weil die dem Berechtigten eingeräumten Rechtsgarantien in jedem Falle erhalten bleiben müssen (vgl BSG 1979-01-25 8b RKg 4/78 = SozR 5870 § 25 Nr 1).
Normenkette
BKGG § 22 Fassung: 1964-04-14, § 25 Abs 1 Fassung: 1964-04-14, § 25 Abs 2 Fassung: 1964-04-14
Verfahrensgang
SG Itzehoe (Entscheidung vom 14.01.1980; Aktenzeichen S 2 Kg 12/79) |
Tatbestand
Streitig ist ein Kindergeldanspruch des Klägers für die Zeit seiner Untersuchungshaft.
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er ist Vater zweier ehelicher Kinder, die in der Türkei leben. Er lebt in der Bundesrepublik Deutschland. Die Beklagte gewährte ihm ab 1. Januar 1978 Kindergeld für beide Kinder. Nachdem der Kläger am 9. Mai 1978 in Untersuchungshaft genommen worden war, stellte die Beklagte die Kindergeldzahlung ein. Die Untersuchungshaft dauerte bis zum 22. August 1978. Seit September 1978 war der Kläger wieder beschäftigt; seitdem erhält er wieder Kindergeld. Mit Urteil des Amtsgerichts I vom 10. Oktober 1978 wurde der Kläger auf Kosten der Landeskasse freigesprochen, die auch seine notwendigen Auslagen zu tragen hatte. In diesem Urteil ist weiter ausgesprochen, der Kläger sei dafür, daß er in Untersuchungshaft gesessen habe gemäß § 1 des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) zu entschädigen (Bl 16 der Verwaltungsakte).
Den Antrag des Klägers vom 8. Mai 1979, ihm das Kindergeld auch für die Monate Mai bis August 1978 zu gewähren, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 8. Juni 1979). Sie wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 20. August 1979 zurück. Der Kläger hat verspätet Klage erhoben.
Das Sozialgericht I (SG) hat dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt und die Klage abgewiesen, weil der Kläger während der Zeit seiner Untersuchungshaft nicht in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden habe, so daß die Voraussetzungen des Art 33 Abs 1 des deutsch-türkischen Sozialversicherungsabkommens (SozSichAbk TUR) nicht erfüllt seien (Urteil vom 13. Januar 1980). Mit Beschluß vom 10. März 1980 hat das SG die Revision zugelassen.
Der Kläger hat Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des SozSichAbk TUR, insbesondere des zweiten Absatzes der Präambel der Art 3 und 4 sowie des Art 33. Eine unschuldig erlittene Untersuchungshaft müsse einer Beschäftigung gleichgestellt werden. Im übrigen habe der Kläger während der Untersuchungshaft gearbeitet.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des
Sozialgerichts Itzehoe vom 14. Januar 1980
und der Bescheide der Beklagten vom 8. Juni 1979
und vom 20. August 1979 zu verurteilen, dem
Kläger Kindergeld für die Monate Mai bis August 1978
zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist, soweit sie die Zeit vom 1. Juni bis 31. August 1978 betrifft, begründet. Das angefochtene Urteil des SG und die zugrundeliegenden Bescheide sind insoweit aufzuheben. Die Beklagte ist zu verurteilen, dem Kläger Kindergeld für die Monate Juni bis August 1978 zu zahlen, weil sie ihm das Kindergeld nicht rechtswirksam entzogen hatte.
Der Kläger hatte zwar verspätet Klage erhoben. Das SG hat ihm jedoch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt, die - auch wenn sie nur in den Urteilsgründen ausgesprochen ist - unanfechtbar und deshalb im Revisionsverfahren nicht nachprüfbar ist (BSGE 13, 61, 62; Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, § 67 RdNr 19; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Stand April 1980, § 67 Anm 8; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand August 1980, S 238m mwN; Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 8. Aufl 1980, zu dem entsprechenden § 60, Abs 5 VwGO RdNr 35; Zöller, Zivilprozeßordnung, 1979, zu dem seit dem 1. Juli 1977 geltenden § 238 Abs 3 ZPO Anm 3). Es ist jedoch auf BVerfGE 41, 235, 236 hinzuweisen, wo von einer vorübergehenden und relativ kurzfristigen Urlaubsabwesenheit von der ständigen Wohnung gesprochen wird, wobei an längstens etwa 6 Wochen zu denken sei.
Für den Monat Mai 1978 ist dem Kläger entsprechend § 9 Abs 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) offensichtlich noch Kindergeld gezahlt worden; jedenfalls hat es die Beklagte nicht von dem damaligen Arbeitgeber zurückgefordert (Bl 6R VA). Die Beklagte hatte dem Kläger ab 1. Januar 1978 Kindergeld gewährt und damit seinem Begehren voll entsprochen, so daß sie nicht verpflichtet war, einen förmlichen Bescheid über die Bewilligung zu erteilen (§ 25 BKGG).
Soweit die Anspruchsvoraussetzungen nicht vorgelegen haben oder weggefallen sind, war das Kindergeld von Amts wegen zu entziehen (§ 22 BKGG aF), und zwar von dem Zeitpunkt an, wo sie nicht oder nicht mehr vorgelegen haben. Wir das Kindergeld entzogen, ist grundsätzlich ein förmlicher Bescheid zu erteilen (§ 25 Abs 1 BKGG). Geschieht das nicht, hat der Berechtigte Anspruch auf Weiterzahlung der gewährten Leistung. Nur in den in § 25 Abs 2 BKGG ausdrücklich genannten Fällen kann von der Erteilung eines förmlichen Bescheides abgesehen werden (BSG in SozR 5870 § 25 Nr 1).
Die in § 25 Abs 2 BKGG genannten Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Es ist vielmehr eine Änderung in den der Bewilligung zugrundeliegenden Verhältnissen eingetreten, nachdem das Arbeits- und damit das Beschäftigungsverhältnis wegen der Untersuchungshaft des Klägers beendet worden war. Der Kindergeldanspruch des Klägers für seine in der Türkei lebenden Kinder setzte voraus, daß der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt war (Art 33 des SozSichAbk TUR in der Fassung des Zwischenabkommens zur Änderung des Abkommens vom 30. April 1964 vom 25. Oktober 1974 jeweils in Verbindung mit den Gesetzen vom 13. September 1965 - BGBl II S 1169 - und vom 1. April 1975 - BGBl II S 373). Wenn nach Auffassung der Beklagten die Voraussetzungen für den Kindergeldanspruch des Klägers ab Juni 1978 weggefallen waren, hätte sie ihm das Kindergeld nur mit einem förmlichen Bescheid nach § 25 BKGG wirksam entziehen können. Eine vorläufige Entziehung entsprechend § 21 Abs 2 BKGG aF schied aus, weil diese Vorschrift mit Wirkung vom 1. Januar 1976 an aufgehoben worden ist (Art 2 § 12 Nr 1 des Sozialgesetzbuchs - Allgemeiner Teil - SGB 1). Die Voraussetzungen der entsprechenden Regelungen in den §§ 60 und 66 SGB 1 lagen nicht vor, weil Versagung und Entziehung (§ 66 Abs 1 SGB 1) ebenfalls nicht formlos möglich sind, und im übrigen der Berechtigte vorher auf die Folgen der unterlassenen Mitwirkung schriftlich hingewiesen worden sein muß (§ 66 Abs 3 SGB 1). Wie der Senat in der genannten Entscheidung (SozR 5870 § 25 Nr 1) ausgeführt hat, kann auch bei einer modernen Massenverwaltung, die sich der elektronischen Datenverarbeitung bedient, nicht anders verfahren werden, weil die dem Berechtigten eingeräumten Rechtsgarantien in jedem Falle erhalten bleiben müssen. Die Möglichkeit des Berechtigten, innerhalb der Halbjahresfrist des § 9 Abs 2 BKGG ohne Rechtsnachteile seine Ansprüche geltend zu machen, rechtfertigt es nicht, von dem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren abzuweichen und es dem Berechtigten zu überlassen, rechtzeitig einen neuen Antrag zu stellen. Andernfalls wäre es möglich, das Kindergeld jederzeit formlos zu entziehen und stillschweigend abzuwarten, ob der Berechtigte einen Neuantrag stellt. Ein solches Verfahren billigt das Gesetz nach wie vor nicht. Vielmehr verlangt es beim Wegfall der Anspruchsvoraussetzungen grundsätzlich weiterhin den Erlaß eines schriftlichen Bescheides. Zudem ist hier nicht zu erkennen, weshalb die Beklagte gegebenenfalls unzumutbar belastet würde, wenn sie anstelle einer formlosen Einstellung der Kindergeldzahlung, verbunden mit einer Rückzahlungsaufforderung an den Arbeitgeber, dem Kläger einen förmlichen Entziehungsbescheid erteilt hätte.
Einer Verurteilung der Beklagten zur Leistung steht nicht entgegen, daß sie trotz rechtskräftiger Entscheidung die Möglichkeit hätte, aus anderen klar zutage liegenden Gründen die Leistung zu verweigern, so daß ihre Verurteilung für den Kläger wirkungslos wäre. Auch wenn die Anspruchsvoraussetzungen für die streitige Zeit tatsächlich zu verneinen wären, könnte die Beklagte einen förmlichen Entziehungsbescheid (§ 25 Abs 1 BKGG) mit rückwirkender Kraft nicht mehr auf § 22 BKGG aF stützen. Denn mit Wirkung vom 1. Januar 1981 (Art II § 40 Abs 1, 1. Halbs des Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsverfahren - SGB 10 - BGBl I 1980, 1469) ist diese Vorschrift gestrichen (Art II § 24 Nr 1). Die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse ist auch im Kindergeldrecht nur noch nach § 48 SGB 10 möglich. Eine rückwirkende Aufhebung (vom Zeitpunkt der Änderung an) ist danach nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig (etwa wenn der Betroffene einer durch Rechtsvorschriften vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiligen Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob-fahrlässig nicht nachgekommen ist oder wußte oder grob-fahrlässig nicht wußte, daß der Anspruch ganz oder teilweise weggefallen ist (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nrn 2 und 4 SGB 10); im übrigen schreibt § 48 Abs 1 Satz 2 die rückwirkende Aufhebung nicht zwingend vor. Weiterhin müßte der Kläger zunächst nach § 34 SGB 1 angehört werden und die Beklagte sodann prüfen, ob eine rückwirkende Aufhebung und Entziehung des bewilligten Kindergeldes überhaupt in Betracht kommen könnte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen