Leitsatz (amtlich)

Der Anspruch des durch eine gesetzlich vorgeschriebene Pockenimpfung geschädigten Kindes auf Heilbehandlung (BSeuchG § 51 Abs 1, § 52 Abs 1 Nr 1) ist ein "anderweitiger gesetzlicher Anspruch auf Krankenpflege" nach RVO § 205 Abs 1. Der versicherte Vater des impfgeschädigten Kindes hat deshalb keinen Anspruch auf Familienkrankenpflege.

 

Leitsatz (redaktionell)

Begriff "anderweitiger gesetzlicher Anspruch" iS des RVO § 205:

1. Unter einem anderweitigen gesetzlichen Anspruch iS des RVO § 205 Abs 1 ist jeder auch außerhalb der RVO durch Gesetz begründete Anspruch zu verstehen, der auf die Sachleistung als solche gerichtet ist, ohne daß sich die daraus ergebenden Leistungen vollinhaltlich mit der Krankenpflege iS der KV zu decken brauchen.

2. Der Entschädigungsanspruch nach BSeuchG § 51 Abs 1, § 52 Abs 1 Nr 1 ist ein solcher anderweitiger gesetzlicher Anspruch, so daß daneben Familienkrankenpflege nach RVO § 205 nicht gewährt werden kann und deshalb ein Ersatzanspruch nach BSeuchG § 51 Abs 1 S 2 gegen die KK nicht begründet ist.

 

Normenkette

RVO § 205 Abs. 1 Fassung: 1930-12-01; BSeuchG § 51 Abs. 1 Fassung: 1961-07-18, § 52 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1961-07-18

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 31. März 1965 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Vater der ... 1960 geborenen H K (K.) ist bei der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) für den Fall der Krankheit versichert. Am 21. April 1961 ließ er seine Tochter H zum Schutz gegen Pocken impfen. Das Kind erlitt dadurch eine schwere Gesundheitsstörung. Es erhält wegen dieses Impfschadens von dem klagenden Land ab 1. Mai 1961 eine Rente als "Erwerbsunfähige". In der Zeit vom 11. Juli 1962 bis zum 3. Mai 1963 wurde es wegen seines Impfschadens in der Orthopädischen Heil- und Lehranstalt in H stationär behandelt. Die hierdurch in der Zeit vom 11. Juli bis 31. August 1962 entstandenen Kosten in Höhe von 734,34 DM zahlte die Beklagte, und die in der anschließenden Zeit vom 1. bis 17. September 1962 und vom 21. September 1962 bis zum 3. Mai 1963 entstandenen Kosten in Höhe von 3.409,98 DM trug der Kläger.

Beide Beteiligten vertreten die Auffassung, der andere habe die gesamten Heilbehandlungskosten endgültig zu tragen. Sie einigten sich dahin, daß der Streit auf Grund einer vom Kläger zu erhebenden Klage gerichtlich entschieden werden solle und verzichteten gegenseitig auf die Geltendmachung der Verjährung.

Die Klage des Klägers auf Zahlung von 3.409,98 DM an ihn hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 20. April 1964). Seine Berufung blieb ohne Erfolg (Urteil vom 31. März 1965). Zur Begründung hat das Landessozialgericht (LSG) ausgeführt, die Beklagte sei weder gemäß § 205 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verpflichtet, für das impfgeschädigte Kind Familienkrankenpflege zu gewähren, noch bestimme § 51 Abs. 1 Satz 2 des Bundes-Seuchengesetzes (BSeuchG) den Übergang des Anspruchs auf Familienhilfe nach den §§ 205 ff RVO auf das eine Entschädigung nach § 52 Abs. 1 Nr. 1 BSeuchG gewährende Land. Der Anspruch der H K. auf Gewährung der notwendigen Kosten der Heilbehandlung gemäß den §§ 51 Abs. 1, 52 Abs. 1 Nr. 1 BSeuchG sei "ein anderweitiger gesetzlicher Anspruch auf Krankenpflege", der gemäß § 205 Abs. 1 Satz 1 RVO den Anspruch auf Familienhilfe aus dem Versicherungsverhältnis des unterhaltsverpflichteten Kindesvaters ausschließe. Die Fassung des § 51 Abs. 1 Satz 2 BSeuchG lasse nicht erkennen, daß die Krankenkassen auch für die Folgen von Impfschäden bei den Familienangehörigen ihrer Versicherten aufzukommen hätten, zumal ihre Leistungspflicht gesetzlich begrenzt sei. Der gesetzliche Forderungsübergang des § 51 Abs. 1 Satz 2 BSeuchG betreffe im übrigen nur Schadensersatzansprüche des Entschädigungsberechtigten. Der Anspruch auf Familienhilfe nach den §§ 205 ff RVO stehe aber ausschließlich dem Versicherten und nicht seinen erkrankten Familienangehörigen zu, so daß in der Person der entschädigungsberechtigten H K. kein Anspruch auf Familienhilfe begründet sein könne.

Der Kläger hat die - zugelassene - Revision eingelegt mit dem Antrag,

das Urteil des SG Wiesbaden vom 20. April 1964 und das Urteil des Hessischen LSG vom 31. März 1965 aufzuheben sowie die Beklagte zu verurteilen, an ihn 3.409,98 DM zu zahlen.

Der Kläger vertritt die Auffassung, der Anspruch auf Entschädigung eines Impfschadens nach § 51 Abs. 1 BSeuchG sei nicht geeignet, den Anspruch auf Familienkrankenpflege nach den §§ 205 ff RVO auszuschließen. Der Entschädigungsanspruch nach dem BSeuchG sei nichts weiter als ein gesetzlich geregelter Anwendungsfall des allgemeinen Aufopferungsanspruchs. Wie dieser sei er allen anderen Ersatzansprüchen nachrangig; das gelte insbesondere auch für alle Ansprüche gegen Sozialversicherungsträger. Der danach wirksam entstandene Anspruch auf Familienkrankenpflege stehe auf Grund der geänderten Verfassungswirklichkeit entgegen der an überholten Grundsätzen festhaltenden herrschenden Meinung dem unterhaltsberechtigten Kind H K. persönlich zu. Selbst wenn aber die Meinung vertreten würde, ein Familienhilfeanspruch könne nur dem Versicherten zustehen, dann habe trotzdem der Übergang des Familienkrankenpflegeanspruchs auf ihn, den Kläger, gemäß § 51 Abs. 1 Satz 2 BSeuchG stattgefunden, da in dieser Vorschrift der Übergang jeglichen Ersatzanspruchs für den Impfschaden, gleichgültig wem dieser zustehe, geregelt sei. Der Gesetzgeber habe es bewußt vermieden, den Anspruchsübergang auf Ansprüche des Entschädigungsberechtigten zu beschränken.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

II

Die Revision ist nicht begründet.

Das klagende Land hat gegen die beklagte AOK keinen Anspruch auf Ersatz der Kosten für die Behandlung der H K. in der Orthopädischen Heil- und Lehranstalt in H für die Zeit vom 1. bis 17. und vom 21. September 1962 bis 3. Mai 1963 in Höhe von 3.409,98 DM.

Nach § 205 Abs. 1 RVO erhalten Versicherte, wenn die sonstigen dort genannten Voraussetzungen vorliegen, für die unterhaltsberechtigten Kinder - dazu gehört Heike K. - ärztliche Behandlung im gleichen Umfang wie Versicherte, "wenn diese ... nicht anderweit einen gesetzlichen Anspruch auf Krankenpflege haben." Unter einem anderweiten gesetzlichen Anspruch ist jeder auch außerhalb der RVO durch Gesetz begründete Anspruch zu verstehen, der auf die Sachleistung der Krankenpflege als solche gerichtet ist, ohne daß sich die daraus ergebenden Leistungen vollinhaltlich mit der Krankenpflege im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung zu decken brauchen (vgl. BSG 11, 30, 33; 14, 22, 24; 22, 252, 255; SozR Nr. 24 zu § 205 RVO).

Der Anspruch der Heike K. nach § 51 Abs. 1, § 52 Abs. 1 Nr. 1 BSeuchG gegen das Land Hessen ist ein solcher "anderweitiger gesetzlicher Anspruch auf Krankenpflege" im Sinne der genannten Vorschrift. Er umfaßt als selbständiger Teil der von dem Land zu gewährenden Entschädigungsleistungen die Kosten der notwendigen Heilbehandlung (§ 52 Abs. 1 Nr. 1 BSeuchG). Er ist allerdings nicht unmittelbar auf die Sachleistung der Krankenpflege als solche gerichtet, sondern aus praktischen Gesichtspunkten auf die Übernahme der Gesamtkosten der notwendigen Heilbehandlung, also auf eine Barleistung. Der Sache nach bezweckt der Anspruch aber ausschließlich die vollkommene Gewährleistung der notwendigen Heilbehandlung für den Impfgeschädigten. Er ist daher anders als der auf eine umfassende Barleistung gerichtete Lohn- oder Gehaltsanspruch eines Arbeitnehmers (vgl. BSG 11, 30, 33) mit einem Anspruch auf die Sachleistung der Krankenpflege als solche derart vergleichbar, daß er als "anderweitiger Ersatzanspruch auf Krankenpflege" im Sinne des § 205 RVO anzusehen ist. Dies um so mehr, als dem Anspruch nach § 52 Abs. 1 Nr. 1 BSeuchG irgendwelche Unterhaltsfunktionen fremd sind. Der Unterhalt wird durch die Gewährung einer Rente nach § 52 Abs. 1 Nr. 2 BSeuchG sichergestellt. Daß der Anspruch auf die Kosten der Heilbehandlung dem Sachleistungsanspruch der RVO entspricht, folgt auch aus § 53 Abs. 1 BSeuchG, wonach die Kosten der Heilbehandlung insoweit übernommen werden, als diese zur Beseitigung, Minderung oder Verhütung einer Verschlimmerung des Gesundheitsschadens oder zur Verhütung oder Minderung körperlicher Beschwerden notwendig ist.

Der Anspruch nach §§ 51, 52 Abs. 1 Nr. 1, § 53 Abs. 1 BSeuchG steht im Gegensatz zu dem Anspruch auf Familienkrankenpflege nicht unter einer Subsidiaritätsklausel, wie die Entstehungsgeschichte des § 51 BSeuchG zeigt. Die Bundesregierung hatte zwar in ihrem Regierungsentwurf vom 27. Mai 1960 (BT-Drucks. 1888, 3. Wahlp.) den Anspruch durch die Klausel "soweit er nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag" subsidiär gestalten wollen (vgl. Amtliche Begründung zu den §§ 50 bis 55 des Entwurfs BT-Drucks. 1888, 3. Wahlp.). Aber die Tatsache, daß die zum Gesetz gewordene Vorschrift den Entschädigungsanspruch nicht mehr mit einer Subsidiaritätsklausel versehen hat, erhellt, daß bewußt auf sie verzichtet worden ist (vgl. Anlage 2 Nr. 38 b BT-Drucks. 1888, 3. Wahlp., in der es heißt: "Bedenken bestehen auch dagegen, daß in Abweichung von derzeitigen landesrechtlichen Regelungen die Entschädigungspflicht des Staates davon abhängig ist, daß der Geschädigte nicht auf andere Weise Ersatz zu erlangen vermag ..."). Dies wird noch dadurch bestätigt, daß der Vorschlag des Bundesrats, den Entschädigungsanspruch als subsidiären Anspruch zu gestalten (vgl. Anlage 3 BT-Drucks. 1888, 3. Wahlp.) im Gesetz keinen Niederschlag gefunden hat; er ist vielmehr zu einem eigenständigen Entschädigungsanspruch ausgestaltet worden (anders § 276 Abs. 1 Satz 3 LAG nF, der bestimmt, daß die Krankenversorgung entfällt, solange Krankenhilfe nach den Vorschriften der Sozialversicherung oder anderen gesetzlichen Vorschriften gewährt wird).

Nach alledem ergibt sich, daß der Anspruch der Heike K. nach den §§ 51, 52 Abs. 1 Nr. 1 BSeuchG ein "anderweitiger gesetzlicher Anspruch auf Krankenpflege" im Sinne des § 205 Abs. 1 RVO ist. Somit bestand keine Verpflichtung der Beklagten, Familienkrankenpflege zu gewähren (vgl. Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Teil 2, 16. Aufl., Stand September 1967 Anm. 14 zu § 205 RVO; Baierl, WzS 1967, 268 f).

Schon aus diesem Grunde konnte kein Anspruch gegen die beklagte Krankenkasse auf das klagende Land nach § 51 Abs. 1 Satz 2 BSeuchG übergehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2324337

BSGE, 47

DVBl. 1969, 476

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