Orientierungssatz
Mißversteht oder übersieht ein medizinischer Gutachter wesentliche Teile eines vorab erstatteten anderen medizinischen Gutachtens, so muß das Gericht auf Aufklärung der dadurch entstandenen Widersprüche dringen. Unterläßt es diese gebotene Aufklärung, so bildet es seine richterliche Überzeugung auf fehlerhafte Weise.
Normenkette
SGG § 128 Abs. 1
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 28.01.1958) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 28. Januar 1958 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger war von August 1939 bis April 1945 zur Wehrmacht eingezogen und befand sich bis Januar 1946 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Anschließend war er neun Monate in Lazarettbehandlung wegen chronischer Polyarthritis und Herzvitium sowie zur Beobachtung der Lunge. Der Kläger begehrt Versorgung wegen Herzmuskelschadens. Nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) 27 war geringer Herzmuskelschaden zeitweise mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 30 v.H. und zuletzt ohne Rentengewährung anerkannt. 1953 hat der Kläger Anerkennung einer Verschlimmerung dieses Versorgungsleidens beantragt. Das Versorgungsamt (VersorgA.) hat nach versorgungsärztlicher Untersuchung mit Bescheid vom 17. Dezember 1954 subjektive Restbeschwerden nach Gelenkrheumatismus ohne zur Zeit nachweisbaren objektiven Befund anerkannt, eine Rente wurde nicht gewährt. Der Widerspruch des Klägers gegen diesen Bescheid wurde zurückgewiesen. Das Sozialgericht (SG.) hat seine Klage abgewiesen.
Mit der Berufung hat der Kläger Gewährung von Versorgung nach einer MdE. um 40 v.H. wegen des Herzmuskelschadens beantragt. Er hat ein Gutachten des Facharztes für innere Krankheiten Dr. G vom 7. September 1957, das für das Landessozialgericht (LSG.) in einem Rechtsstreit wegen Gewährung der Invalidenrente erstattet wurde, vorgelegt. Das LSG. hat zur Feststellung der Leiden des Klägers und ihres ursächlichen Zusammenhangs mit dem Wehrdienst Prof. Dr. G als medizinischen Sachverständigen gehört. Mit Urteil vom 28. Januar 1958 wurde die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Das LSG. hat angenommen, daß der Kläger während des Wehrdienstes im Kriege an einer akuten entzündlichen Erkrankung der Gelenke litt, doch bestehe kein Gelenkrheumatismus mehr. Die von Dr. G festgestellte Aortensklerose und Herzlinkshyperthrophie sei charakteristisch für eine altersbedingte Abnutzung des Gefäßsystems. Nach dem Gutachten von Prof. Dr. G, dem sich das LSG. anschloß, hänge die Linkshyperthrophie mit der Aortensklerose, einer Erkrankung der Gefäßwände, zusammen. Eine Polyarthritis schädige aber nicht die Gefäße. Eine akute entzündliche Gelenkerkrankung führe zwar häufig zu einer Herzinnenhautentzündung und ggf. zu einem Herzklappenfehler, sie betreffe aber nicht die Herzmuskulatur und die Herzkranzarterien. Der Herzmuskelschaden sei nur eine vorübergehende Erscheinung gewesen, ganz abgesehen davon, daß vom ärztlichen Standpunkt ein ursächlicher Zusammenhang dieses Leidens mit einer Polyarthritis abzulehnen sei. Prof. Dr. G halte mit Dr. G das Vorliegen einer fortschreitenden Herzmuskelentartung, also eines degenerativen Prozesses, für wahrscheinlich, der auf einer allgemeinen Gefäßsklerose beruhe und unbeeinflußt von wehrdienstlichen Einwirkungen schicksalsmäßig verlaufe. Revision wurde nicht zugelassen.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt, unter Aufhebung des Urteils des LSG. und der Bescheide vom 17. Dezember 1954 und 2. Dezember 1955 den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger eine Kriegsbeschädigtenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren. Die Revision rügt, der ursächliche Zusammenhang zwischen der rheumatischen Erkrankung 1941/42 und den jetzigen Beschwerden sei unter Verletzung der Denkgesetze und der Lebenserfahrung verkannt worden. Das LSG. habe den ursächlichen Zusammenhang deshalb verneint, weil eine akute entzündliche Gelenkerkrankung zu einer Herzinnenhautentzündung und zu einem Herzklappenfehler führen könne, aber nicht die Herzmuskulatur und die Herzkranzarterien betreffe. Diese Auffassung sei wissenschaftlich unrichtig. Bei einer langen rheumatischen Erkrankung komme es auch zu einer interstitiellen rheumatischen Myocardschädigung. Prof. Dr. G erkenne an, daß die rheumatische Erkrankung 1942 zu einer Endocarditis geführt habe. Das LSG. habe übersehen, daß die akute rheumatisch bedingte Endocarditis als sekundäre Erscheinung auch die Herzmuskulatur betreffe und zu einer Myocardschädigung führe. Dies habe Dr. G in seinem Gutachten ausgeführt. Das LSG. habe trotz dieses Gutachtens unter Nichtbeachtung wissenschaftlicher Erkenntnisse lediglich über den primären Schaden befunden, nicht aber über die sekundäre Folgeerscheinung, und sei infolge dieses Irrtums zur Verneinung eines ursächlichen Zusammenhangs gekommen. Das LSG. habe auch nicht als erwiesen ansehen können, daß der 1948 anerkannt gewesene Herzmuskelschaden später deshalb nicht mehr festgestellt worden sei, weil das Elektrocardiogramm (EKG) von 1953 einen normalen Kurvenablauf zeigte. Nach allgemeiner Erkenntnis sei wegen der Tagesschwankungen mit einem EKG nichts bewiesen. Zu dieser Frage hätte der Gerichtsgutachter Stellung nehmen müssen, wenn er das EKG von 1953 als Beweis für das Nichtvorhandensein eines Herzmuskelschadens anführe.
Der Beklagte hat Verwerfung der Revision beantragt.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Sie ist statthaft, weil der Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel rügt und dieser Mangel vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, BSG. 1 S. 150).
Die Revision rügt mit Recht Überschreitung der gesetzlichen Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung durch das LSG. (§ 128 Abs. 1 SGG).
Das LSG. hatte zu entscheiden, ob die beim Kläger festgestellte Herzlinkshyperthrophie Folge rheumatischer Erkrankungen im Wehrdienst ist. Dabei hat es unterstellt, daß der Kläger 1942 als Soldat an einer akuten Entzündung der Gelenke litt. Das LSG. hat sich bei der Verneinung einer Schädigungsfolge auf das Gutachten des Prof. Dr. G gestützt und ausgeführt, eine akute entzündliche Gelenkerkrankung führe häufig zu Herzinnenhautentzündung und Herzklappenfehler, betreffe aber nicht die Herzmuskulatur und die Herzkranzarterien. Es betont, daß Prof. Dr. G mit Dr. G eine progrediente Myodegeneratio cordis auf der Grundlage einer allgemeinen Gefäßsklerose für wahrscheinlich halte. Diese Begründung des LSG. stimmt mit den tatsächlichen Ausführungen der Gutachter Dr. G und Prof. Dr. G nicht überein. Prof. Dr. G hat das Gutachten des Dr. G nur teilweise beachtet und deshalb mißverstanden. Das LSG. hat dieses Mißverständnis übernommen, ohne diesen Fehler im Gutachten des Prof. Dr. G zu erkennen.
Dr. G hat nämlich ausgeführt:
"Es liegt eine progrediente Myodegeneratio cordis vor, deren Ursache in der interstitiellen rheumatischen Myocardschädigung des Jahres 1942 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit liegt."
Prof. Dr. G sagt dagegen:
"Der ... durch Dr. G erhobene elektrocardiographische Befund zeigt Erscheinungen, die an der Grenze der Norm liegen und die von Dr. G selbst als Myodegeneratio - Ausdrucksformen bezeichnet worden sind. Dr. G hat damit ausgedrückt, daß auch er hierin keine Folgeerscheinung einer Polyarthritis mehr sieht. Die von Dr. G außerdem festgestellten Veränderungen: Aortensklerose, Linkshyperthrophie des Herzens - sind charakteristische altersbedingte Abnutzungserscheinungen des Gefäßsystems; auch sie stehen mit einer polyarthritisch bedingten Schädigung in keinem Zusammenhang."
Die Schlußfolgerung des Prof. Dr. G, Dr. G habe ausgeführt, daß die Linkshyperthrophie des Herzens keine Folgeerscheinung einer Polyarthritis mehr sei, findet somit in dem Gutachten des Dr. G keine Stütze. Dieser stellt zwar fest, daß beim Kläger eine progrediente Myodegeneratio cordis vorliege; als deren Ursache bezeichnet er aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die interstitielle rheumatische Myocardschädigung des Jahres 1942. Aus den Ausführungen des Prof. Dr. G muß entnommen werden, daß er diesen entscheidenden Satz im Gutachten des Dr. G übersehen hat. Dieses Mißverständnis hat die Stellungnahme des Prof. Dr. G offensichtlich wesentlich beeinflußt; denn Dr. G erwähnt mehrfach die Diagnose des Dr. G und schließt dann zusammenfassend, daß beim Kläger Folgen eines Gelenkrheumatismus nicht mehr vorhanden seien. Damit kommt er zum entgegengesetzten Ergebnis wie Dr. G, ist aber der Meinung, er stimme mit Dr. G überein.
Zwar lautete die Frage des LSG. an Dr. G, zu der er das Gutachten vom 7. September 1957 erstattet hat, nicht, ob und welche Leiden Schädigungsfolge im Sinne des BVG sind, sondern welche Gesundheitsschäden beim Kläger - als Voraussetzung für die Gewährung der Invalidenrente - vorliegen. Das ändert aber nichts daran, daß Dr. G in seinem Gutachten die Ursache der progredienten Myodegeneratio cordis in der interstitiellen rheumatischen Myocardschädigung von 1942 gesehen hat.
Das LSG. hätte Prof. Dr. G auf das Übersehen wesentlicher Teile des Gutachtens des Dr. G aufmerksam machen und ihn auffordern müssen, sich zu dieser Auffassung des Dr. G zu äußern. Gegebenenfalls wäre zur Aufklärung des Widerspruchs eine Anhörung des Dr. G angezeigt gewesen. Erst dann hätte sich das LSG. seine Überzeugung auf fehlerfreie Weise bilden können.
Die Revision ist begründet, weil der Mangel in der Beweiswürdigung das Urteil entscheidend beeinflußt hat. Das LSG. hätte bei fehlerfreiem Verfahren möglicherweise anders entschieden, BSG. 2 S. 197. Das angefochtene Urteil war deshalb aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen, weil noch Ermittlungen tatsächlicher Art vorzunehmen sind.
Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen